Der Seitensprung, seine Folgen und Chancen

Über sexuelle Untreue wird meist nur dann gesprochen, wenn Beziehungen bzw. Familien bedroht sind, daran zu zerbrechen. Ärzte wiederum hören davon, wenn der Betrogene psychisch mit der Situation nicht fertig wird. Der Arzt sollte wissen, welche Psychodynamik die Betroffenen bzw. das Paar durchleben und wie man sie professionell begleiten kann. In unserem Kulturkreis überwiegt die monogame Beziehungsform. Etwa 97 Prozent der Männer und Frauen erwarten sich von ihren Partnern Treue. Umgangssprachlich wird der Begriff „Treue“ oft als Synonym für „sexuelle Exklusivität“ in der Paarbeziehung verwendet, im Sinne der Ideale der Monogamie. Treue soll in diesem Zusammenhang ausdrücken, dass der Partner außerhalb der Paarbeziehung keine sexuellen Kontakte mit anderen Personen eingeht. Tut er/sie es dennoch, so wird dies automatisch als Untreue, also als Loyalitätsbruch verstanden. Nur ein Prozent lebt eine offene Beziehung, in der beide Partner damit einverstanden sind, dass der/die andere sexuelle Kontakte außerhalb der Partnerschaft hat und beide Partner dieses Einverständnis dem anderen gegenüber explizit ausgesprochen haben. Offene Partnerschaften sind weder glücklicher noch unglücklicher als sexuell treue Partnerschaften, solange sich zwei Partner zusammenfinden, denen sexuelle Treue unwichtig ist. Hingegen verursachen pseudo-offene Beziehungen (3 %) oft erhebliches Leid. In dieser Partnerschaftsform nimmt sich einer der Partner sexuelle Freiheiten heraus, indem er/sie die Partnerschaft einseitig als offen deklariert, während der/die Andere damit nicht einverstanden ist. Diese Beziehungen entstehen oft als Versuch einer Notlösung, wenn zum Beispiel ein Partner mit niedrigen Selbstwert diesen durch sexuelle Aufmerksamkeit von außen zu verbessern sucht oder über längere Zeit sexuell unzufrieden ist und nun ersatzweise Sex mit anderen haben möchte, ohne sich zu trennen. Beziehung verändert sich Beziehungen beginnen in einem innigen Zustand der Verliebtheit (Symbiose), in der meist einer der beiden eher die bestimmende Persönlichkeit ist (Dominanz). Diese Vorgaben ändern sich zwangsläufig in längeren Beziehungen und dann hat das Paar sich immer mit folgenden Themen auseinanderzusetzen: 1. „Wieviel Nähe bzw. Distanz tut mir als Individuum und als Paar gut?“ 2. „Wer hat in der Beziehung das Sagen und wer unterwirft sich diesen Vorgaben?“ Es geht immer darum, dass man sich als Individuum mit all seinen Vorerfahrungen in der Beziehung wiederfinden und gleichzeitig die Sicherheit der Paarbeziehung schützen möchte. Das ist kein leichtes Unterfangen, denn bei all den individuellen Bedürfnissen, die gelebt werden wollen, gilt doch, nicht nur darauf zu achten, dass dabei nicht die Gefühle des Partners verletzt werden, sondern auch die gesellschaftlichen Vorstellungen, „was eine gute Beziehung ausmacht“ erfüllt werden. Das führt bei sehr vielen Paaren dazu, dass sie einem Idealbild einer Paarbeziehung nachstreben und dabei die individuellen Bedürfnisse zurückstecken. Sie erstarren im erwarteten Verhalten des Partners und der Gesellschaft. Die sexuelle Zufriedenheit nimmt in den ersten zehn Jahren der Partnerschaft im Mittel kontinuierlich ab und bleibt dann auf einem niedrigen Niveau. × Die Sehnsucht aber, die individuellen Bedürfnisse zu leben, bleibt erhalten. Wenn nicht ein anderer, gleichwertiger, befriedigender Ersatz in der Beziehung gefunden wird, werden diese unerfüllten Bedürfnisse als Sehnsüchte auf andere projiziert. Zum Beispiel gaben 84 Prozent der Frauen „sexuelle Unzufriedenheit in der Partnerschaft“ als Ursache für ihre Untreue an. Bei den Männern war das zu 76 Prozent der Grund. In derselben Befragung war die Lustlosigkeit oder geringe Lust des Partners bei 54 Prozent der Frauen und bei 65 Prozent der Männer der häufigste Auslöser für einen Seitensprung. Erhebungen einer großen Dating-Plattform zerstören das Klischee der treuen Frauen und untreuen Männer. 44 Prozent der befragten Frauen gaben an, schon einmal fremd gegangen zu sein, davon neun Prozent mehr als ein Mal (Männer 41 %, davon 15 % mehr als ein Mal). Fremdgehen als Geschäft Seitensprungportale boomen. Manche nennen sich auch „seriöse Portale“ und geben Tipps, wie man erfolgreich verhindern kann, entdeckt zu werden oder wie man mit der Situation erfolgreich umgehen kann, wenn die Untreue auffliegt. Die Texte sind in einer so unbeschwerten Leichtigkeit geschrieben, dass man dabei ganz vergisst, was sich beim Fremdgehen psychodynamisch und emotional bei der betrogenen Person abspielt, wie sich dadurch auch das psychische Gleichgewicht des Untreuen verändert und welche Konsequenzen es für beide haben kann. Interview auf SpringerMedizin.at: „Ein ganz normales ärztliches Handeln“ Untreue in der Partnerschaft ist für den Betroffenen eine persönliche und für den Arzt eine fachspezifische Herausforderung. Hier sind unter anderem Allgemeinmediziner gefordert, sagt Dr. Elia Bragagna. Hinweis: Nach der Weiterleitung zur österreichischen Plattform SpringerMedizin.at einfach erneut mit denselben SpringerMedizin-Zugangsdaten einloggen. Was geschieht ihm Rahmen eines Treuebruchs bei beiden Beteiligten? In einem Langzeitprojekt befasst sich die Georg-August-Universität Göttingen seit 1996 mit Paaren (220.000 Männer und Frauen im Alter zwischen 20 und 69 Jahren) und erfasste dabei auch, unter welchen negativen Folgen Betrogene leiden, die von einem Seitensprung ihres Partners erfahren haben. Sie stellten fest, dass die Betrogenen die typischen Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung aufweisen: Wiedererleben auf verschiedene Art und Weise wie z. B. wiederkehrende und eindringliche belastende Erinnerungen an das Ereignis, die Bilder, Gedanken oder Wahrnehmungen umfassen können. Vermeidungsverhalten bzw. eingeschränkte Gefühlsreaktionen wie z. B. bewusstes Vermeiden von Aktivitäten, Orten oder Menschen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen. Erhöhte Erregung wie z. B. Reizbarkeit, Wutausbrüche oder Konzentrationsschwierigkeiten. Die überwiegende Zahl der Betrogenen entwickelte zudem eine depressive Stimmung. Es herrscht eine große Diskrepanz zwischen der Lässigkeit, mit der die Gesellschaft das Thema Untreue abhandelt und dem traumatisierenden Erleben der Betroffenen. Erschwert wird ein seriöser Umgang mit dem Thema durch religiös-kulturelle Bewertungen, die klar vorgeben, wer hier der Täter (die/der Untreue) und wer das Opfer (die/der Betrogene) ist. Es hilft den Betroffenen nicht weiter, wenn wir als behandelnde Ärzte uns diesen Vorgaben anschließen. Therapeutisches Vorgehen Wichtig ist, sich vor Augen zu halten, dass der Betrogene einen Schock erlebt, auf den er mit einer posttraumatischen Belastungsstörung reagieren kann. Gleichzeitig ist es aber auch eine Tatsache, dass der Untreue oft erst durch das Wahrnehmen der schmerzvollen Reaktion des Partners das Ausmaß des zugefügten Leides wahrnimmt, und erst dann realisiert, dass er riskiert, die Beziehung zu verlieren. Dieser Moment ist wiederum für emotional instabile Untreue sehr bedrohlich und aktiviert massive Verlustängste. Wir Ärzte haben also zwei hilfsbedürftige Patienten vor uns, wenngleich auch mit anderen, individuellen Themen, die sie in der Therapie bewältigen müssen. Die Paartherapie nach einem Seitensprung lässt sich grob in drei Phasen einteilen: Phase1: Schadensbegrenzung Phase2: Hintergründe herausfinden Phase3: Veränderung In diesen Phasen hat das Paar Annäherungsarbeit zu leisten (Tab.): AZV × Jedes gut begleitete Paar schaut sich im Rahmen der Therapie an, was denn zur sexuellen Untreue geführt haben könnte. Ein Beispiel: Bei der Langzeitstudie der Georg-August-Universität Göttingen zeigte sich, dass die Paare nach zirka fünf Beziehungsjahren sexuell eher unzufrieden waren. Im Rahmen der Therapie wird sich das Paar austauschen, warum es damals nicht darüber gesprochen hat oder wie es dazu kam, dass ausgesprochene Wünsche nicht gehört wurden. Neben den sexuellen Wünschen, die nach außen projiziert werden, gibt es aber noch ganz andere Themen, die Paare entzweien und sehnsuchtsvoll in die Arme von anderen treiben. Die zehn häufigsten Beziehungsprobleme: Gesprächsverhalten, wenn es Probleme in der Partnerschaft zu lösen gibt (52 %) Art und Weise, negative Gefühle oder Kritik zu zeigen oder zu äußern (50 %) Sex/Erotik (49 %) Lebendigkeit/ Spontanitätinder Beziehung (44 %) Zärtlichkeit/ körperliche Zuwendung (40 %) Änderungsbereitschaft (39 %) Ausmaßan Zeit/Energie, die für die Partnerschaft aufgebracht wird (37 %) Gemeinsame Aktivitäten/Zeit für einander (37 %) Ausmaß an Liebe und Zuneigung (33 %) Erwartungen an einander (33 %) Während des Therapieverlaufs wird das Paar – auf dem Boden eines neu gefundenen Vertrauens und Ehrlichkeit – sich sowohl sexuell als auch partnerschaftlich neu definieren. Es zeigte sich, dass ein Großteil der Wünsche nicht erfüllt wird, weil Paare darüber nicht miteinander reden. So dramatisch und traurig der Anlass auch war, er gibt dem Paar auch die Chance, die Beziehung so zu gestalten, dass Wünsche nicht nach außen projiziert werden müssen, sondern in der Partnerschaft gelebt werden können. Somit kann die Frage, „ob sexuelle Untreue auch eine neue Chance für das Paar sein kann“, mit einem eindeutigen Ja beantwortet werden. Das Paar kann im Rahmen der Therapie starre bzw. destruktive Muster auflösen oder korrigieren und entwickelt sich gemeinsam im Prozess weiter, lernt ehrliche Begegnungen zu schätzen statt zu fürchten, und erfährt eine neue Lebendigkeit und Stärkung. Dazu braucht es aber ein Paar, das den Willen und die Kraft hat, sich diesem Prozess zu stellen. Sexuelle Untreue als Jungbrunnen für die Paarbeziehung zu empfehlen, wie ich es oft von Kollegen höre, heißt zu negieren, dass das nur um den Preis eines traumatisierten Partners und den möglichen Verlust des geliebten Partners geht. Die eigentliche Lösung wird hingegen nicht angeboten: ein ehrliches Gespräch mit dem Partner, über geänderte (sexuelle) Bedürfnisse. Autorin: Dr. Elia Bragagna ist als Ärztliche Leiterin der Sexualmedizinischen Praxis Graz tätig. Quelle: SpringerMedizin.at Literatur: (1) https://www.theratalk.de/studie_offene_partnerschaft_beziehung.html (2) https://de.wikipedia.org/wiki/Treue (3) U. Hartmann, Sexualtherapie 2018, Springer Verlag (4) https://www.theratalk.de/pressemitteilung_12.html (5) https://www.theratalk.de/pressemitteilung_18.html (6) https://www.flirtexpert.at/seitensprung (7) https://www.theratalk.de/studie_seitensprung_betrogene.html (8) https://www.theratalk.de/seitensprung.html (9) https://www.theratalk.de/studie_erfuellbare_sexuelle_wuensche.html (10) https://www.theratalk.de/langzeitstudie_haeufigste_und_schwerste_beziehungsprobleme_top_10_2016.html

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