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Erschienen in: Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie 4/2018

27.09.2018 | Originalarbeit

Sexualstrafrecht, Sexualmoral, Medienmoral

Gesellschaftspolitik zwischen Vergeltung und Pathologisierung

verfasst von: Prof. Dr. jur. Thomas Fischer

Erschienen in: Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie | Ausgabe 4/2018

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Zusammenfassung

Sexualstrafrecht ist ein Kristallisationspunkt rechtsdogmatischer und kriminalpolitischer Auseinandersetzung. Es spiegelt in besonderer Weise die Tendenzen und Inhalte einer „Modernisierung“, die sich durch eine Abwendung von kollektiven und eine Hinwendung zu einem Topos der Höchstpersönlichkeit auszeichnet, welche als quasinatürlich definiert wird. Die aktuelle Hypertrophierung des strafrechtlichen Schutz der Selbstbestimmung steht in enger Verbindung mit den Tendenzen zur sozialökonomischen Auflösung des westlich-neuzeitlichen Personenbegriffs. Der Beitrag thematisiert begriffliche und systematische Zusammenhänge zwischen „liberalen“ Konzepten staatlicher Zurückhaltung und „modernen“ Konzepten einer funktionalen Sicherheitsstrategie.
Fußnoten
1
BGBl I S. 1725.
 
2
Vgl. dazu etwa Frisch, Strafwürdigkeit, Strafbedürfnis und Straftatsystem, Goltdammer’s Archiv für Strafrecht 2017, S. 364; Kudlich, Die Relevanz der Rechtsgutstheorie im modernen Verfassungsstaat, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft Bd. 127 (2015), S. 635; Hefendehl, Eine soziale Rechtsgutstheorie, Gedächtnisschrift für Edda Weßlau, 2017, S. 577; Hefendehl/von Hirsch/Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie, 2003; Naucke, Die Wechselwirkung zwischen Strafziel und Verbrechensbegriff, 1985.
 
3
2 BvR 392/07 = BVerfGE 120, 224 (mit abweichendem Votum Hassemer).
 
4
Ebd., Rn. 39, 50.
 
5
Ebd., Rn. 50 unter Verweis auf BT-Drs. 6/1552, S. 14.
 
6
Vgl. noch die Ausführung des BVerfG in BVerfGE 120, 224, Rn. 46: „Die lebenswichtige Funktion der Familie für die menschliche Gemeinschaft, wie sie der Verfassungsgarantie des Art. 6 Abs. 1 GG zugrunde liegt, wird entscheidend gestört, wenn das vorausgesetzte Ordnungsgefüge … ins Wanken gerät [vgl. BVerfGE 36, 146, 167]“ (BVerfGE 120 224 bezogen auf Geschwisterinzest; BVerfGE 36 bezogen auf das Eheverbot des § 4 Abs. 1 EheG a. F. [Verbot der Eheschließung mit einer Person, mit deren Elternteil man zuvor geschlechtlich verkehrt hatte]).
 
7
Örtlich, zeitlich, sozial. Die Ablösung von „Beruf“ durch „Job“, lebenslange Unsicherheit und allseitige Verfügbarkeit für den „Arbeitsmarkt“ ist mit Familie alter Form, „Hausfrauenehe“ und „Treue“-Versprechen jeder Art kaum vereinbar. Die neuerliche Romantisierung der Kleinfamilie auch in ihrer „Patchwork“-Form sowie die Eventisierung von Partnersuche und Eheschließung stehen dem nicht entgegen, sondern flankieren es, um gröbste emotionale Verlassenheit abzufedern.
 
8
Das Verbot für Katholiken in der Enzyklika Humanae Vitae von 1968 wird bis heute – selbst für überbevölkerte arme Entwicklungsländer – verteidigt.
 
9
Wobei freilich die Ausgliederung von § 172 StGB (Doppelehe) und § 173 StGB (Inzest) in den Abschnitt über „Schutz der Familie“ (BT, 12. Abschnitt) die tatsächlichen Verhältnisse etwas verschleiert, indem so getan wird, als habe die Familienverfassung nichts mit der Sexualordnung zu tun.
 
10
Vgl. etwa Fischer StGB 65. Aufl. vor § 174 Rn. 5.
 
11
BVerfGE 36, 146 (oben Fn. 6) hatte im Jahr 1973 zu § 4 a. F EheG ausgeführt, es sei zwar selbstverständlich, dass „ein Übergehen von der Mutter zur Tochter“ (als Ehepartnerinnen) in der Gesellschaft auf Verachtung und sittliche Entrüstung stoße (insbesondere auch wegen der möglichen Erwägung, das „Übergehen“ könne sich schon während der ersten Beziehung angebahnt haben); es dürfe aber rechtlich nicht verboten sein. Interessant wäre die Frage, ob und wie moralische Verdammung auch beim „Übergehen“ einer Frau „vom Vater zum Sohn“ formuliert wurde.
 
12
Bei der Prostitution ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung weiter unklar, ob die fortbestehende Sittenwidrigkeit ungeachtet des Prostitutionsgesetzes vom 20.12.2001 (BGBL I 3983) der Arbeitsleistung von Prostituierten einen durch das Strafrecht geschützten Vermögenswert beimisst.
 
13
Beispiele des Alltags liegen auf der Hand. Wer als Bankmanager Karriere machen will, muss sich jahrzehntelang einem rigiden Bekleidungs- und Verhaltensregiment unterwerfen. So genannte Konventionen des Sozialverhaltens vermischen sich in erheblichem Ausmaß mit (angst- und drohungsbesetzten) sozialen Chancen. Wenn solche Beispiele etwa gegenüber den Traumatisierungsbehauptungen des sog. Alltagssexismus als albern und marginal angesehen werden, ist eigentlich interessant hieran die Differenzierung selbst. Der Hinweis auf einen zwingenden Zugriff auf den fremden Körper reicht nicht aus; abgesehen davon, dass dieser sowieso nur als Hülle für den „eigentlich“ genötigten Geist angesehen wird.
 
14
Vgl. etwa Schmollack, „Und er wird es wieder tun. Gewalt in der Partnerschaft“, 2017, S. 85 ff.
 
15
So ist der Begriff der „sexuellen Gewalt“ schon für sich unklar und vielgestaltig. Er wird sowohl für sexualisierte Gewalt im engeren Sinn (z. B. Penetration mit Gegenständen zur Demütigung als „Bestrafung“-Ritual unter Strafgefangenen) verwendet als auch für beliebige Gewalt zur Erzwingung sexuellen Verhaltens; zugleich auch für das gewaltfreie Vornehmen nicht konsentierter sexueller Handlungen, für gewaltfreie Missbrauchshandlungen mit Kindern usw. Manche Autoren verwenden den Begriff überdies für verbale Grenzüberschreitungen und Belästigung, für Pornografie oder im Zusammenhang mit Prostitution. Eine Abgrenzung zwischen „psychischer“ und „digitaler“ Gewalt ist nicht möglich, da beide Begriffe verschiedene Aspekte desselben Gegenstands beschreiben („digital“ ist die Form, „psychisch“ die Wirkung). Auch „sexuell“ von „körperlich“ oder „psychisch“ abzugrenzen, ist sinnvoll nicht möglich.
 
16
„Verherrlichung oder Verharmlosung“ von „grausamen oder sonst unmenschlichen Gewalttätigkeiten.“ Diese Grenze erreichen die üblichen Blockbuster-Filme, in denen Hunderte von Feinden, Monstern oder Aliens abgeschlachtet werden, bei Weitem nicht, die mit FSK-Freigaben ab 12 oder 16 Jahre laufen.
 
17
Gemeint ist hier Wirksamkeit, nicht „Richtigkeit“. Siehe dazu auch Fischer StGB 65. Aufl. von § 13 Rn. 8 ff.
 
18
50. StÄG vom 04.11.2016, BGBl I 2460.
 
19
Das ist die alte „Widerstandsunfähigkeit“ des aufgehobenen § 179 a. F.
 
20
Die Empfehlung der „Übernahme“ von moralistischen Verhaltenskodizes amerikanischer Colleges in Entwürfe zum deutschen Strafgesetzbuch weist satirische Qualitäten auf, gilt aber derzeit als wissenschaftliche Position.
 
21
Vgl. etwa Flaßpöhler, „Focus“, 06.01.2018; dies., Die potente Frau, 2018, pass.
 
22
Tonumfang der „Songs“ maximal eine Oktave; Stimmlage im Grenzbereich von Mezzosopran-Kinderlied und Sprechstimme; Entemotionalisierung im Vortragsstil. „Trends“ also hierzulande zwischen Britney Spears, „Nena“ und (angeblich) „neuen Frauen-Sounds“, die kindlich-atemlose Überforderungsemotion mit sexualisiert-pejorativem Befriedigungsverlangen kombinieren.
 
23
Nur beispielhaft: Dominante soziale Pflicht zur Rasur von Körper- (Achsel‑, Scham- und Bein‑)Behaarung. Abweichungen von dieser aus der Pornofilm- und Prostitutionsindustrie in den sozialen Standard übernommenen Pflicht zur Demonstration von kindlicher Reinheit, klinischer Desinfiziertheit und offenkundiger Verfügbarkeit gelten heute als tendenziell „pervers“. Sie haben (deshalb) eigene Abteilungen in den Internet-Foren einschlägig interessierter Abweichler.
 
24
Siehe etwa die (eher rührende) fetischisierte Fixierung auf „große Brüste“, „fake tits“ (Silikonbrüste) sowie andere „maschinelle“, also entmenschlicht-sterile und in den Kanon der Haushaltsstandardprodukte (Desinfektion, Reinheit, Sauberkeit) eingeordnete Sexualmerkmale.
 
25
Prostitution als professioneller Lebensentwurf; sexuelle Verfügbarkeit als (mal skandalisierte; mal glorifizierte) Handelsware im „Business“; usw.
 
26
Vgl. dazu auch BVerfGE 120, 224, Rn. 20: „… eine Ausweitung und Verschärfung der Strafbarkeit bei Delikten, die in das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung eingreifen“. Der Begriff der „Verschärfung“ ist seinerseits normativ aufgeladen und erklärungsbedürftig.
 
27
Der Innenminister des Landes Baden-Württemberg hat am 12.08.2018 eine Erhöhung der Strafdrohung für sexuellen Missbrauch von Kindern über 15 Jahre hinaus gefordert.
 
28
Damit soll nicht Kritik am „Beanspruchen“ einer formalen Rolle im Verfahren formuliert werden, sondern an der letztlich systemzerstörenden Usurpation einer materiellen Position, deren verfahrensgestützte Relativierung durch die Rechtsstaatsgeschichte der Neuzeit übersehen wird.
 
29
Damit ist, irritierend, meist eine erst wenige Jahre zurückliegende Zeit gemeint.
 
30
Sehr vereinfacht: Verletzungen von Persönlichkeitsrechten verursachen „Traumatisierungen“ psychischer Art; diese äußern sich in „dissoziativen Störungen“, von denen eine mögliche Form die „Verdrängung“ des traumatisierenden Erlebnisses ist. Folge hiervon sind Gedächtnislücken und vieles mehr. Ein (therapeutischer!) Ansatz versucht, aus dem Fehlen (!), der Lückenhaftigkeit (!) oder der Unplausibilität (!) von Erinnerungen abzuleiten, solche Kennzeichen seien Realkennzeichen der Wirklichkeit. Selbstverständlich ist ein solcher Ansatz (überspitzt: je unplausibler, desto wahrscheinlich „wahrer“) mit der Rationalität des heutigen Strafverfahrens nicht kompatibel und stößt daher vielfach auf Ablehnung.
 
31
Also: Aus Gründen der bornierten Verkennung oder gar der (opfer- oder frauenfeindlichen) Ideologie.
 
32
Beispielhaft Stokowski, „Wäre die Vagina doch ein Auto“, Spiegel-Online, 22.04.2016.
 
33
Der Topos des „Tabus“ – weit jenseits seiner wissenschaftlich sinnvollen Verwendung – gilt in der kriminalpolitischen Alltagsdiskussion als hochwirksam strategische Waffe. Selbst viele Jahre lang vielfach öffentlich skandalisierte soziale Gegebenheiten können dadurch neue Aufmerksamkeit generieren, dass das Sprechen über sie als „Tabu“ bezeichnet und skandalisiert wird. Im Bereich sexuellen Verhaltens und seiner sozialen Bewertung finden sich hierzu zahlreiche Beispiele.
 
34
Im Zusammenhang mit „hate speech“, Internetkommunikation usw.
 
35
NetzDG vom 01.09.2017, BGBl I 3352.
 
36
Nur beispielhaft: Über den Staat Venezuela wird seit 2 Jahren stets berichtet, er verfüge über „unermessliche“ Reserven an Erdöl – so wie vor 50 Jahren die Nordsee über angeblich „unermessliche“ Heringsmassen verfügen sollte. Seit Beginn des „fracking“ in den USA gilt der „öffentlichen Meinung“ die Krise der fossilen Befeuerung des systemrelevanten Wachstums als für dieses Jahrhundert (resp. die Lebensspanne der derzeit Führenden) als gelöst.
 
37
Es dreht sich hier gelegentlich die therapeutische Perspektive um in eine selbstreferenzielle Problemgenerierung aus dem Blickwinkel der Problemlöser. Jede fachlich gebildete und professionell tätige Person weiß selbstverständlich abstrakt von diesem Risiko; es wird in der Ausbildung darüber informiert. In der sozialen (beruflichen) Wirklichkeit gewinnt gleichwohl nicht ganz selten die (existenzstabilisierende) Überzeugung von eigener Unersetzlichkeit die Oberhand. Das ist nicht verwerflich und empirisch erwartbar. Es muss gleichwohl ebenso problematisiert werden wie die zahlreichen „System“-bedingten Fehlerquellen der Justiz.
 
38
Die Verteidiger (auch im prozessualen Wortsinn) des „liberalen Rechtsstaats“ behaupten seit vielen Jahrzehnten in immer gleichen Sonntagsreden, der Rechtsstaat stehe „kurz vor“ seiner Ablösung durch einen illiberalen Sicherheitsstaat. Dies belegen sie meist mit der jeweils letzten Novelle über Onlinedurchsuchung oder die Möglichkeit der Einschränkung der Beweisaufnahme. Solche Empörung ist richtig, aber überwiegend leeres Stroh.
 
Metadaten
Titel
Sexualstrafrecht, Sexualmoral, Medienmoral
Gesellschaftspolitik zwischen Vergeltung und Pathologisierung
verfasst von
Prof. Dr. jur. Thomas Fischer
Publikationsdatum
27.09.2018
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
Erschienen in
Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie / Ausgabe 4/2018
Print ISSN: 1862-7072
Elektronische ISSN: 1862-7080
DOI
https://doi.org/10.1007/s11757-018-0496-x

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