06.01.2021 | Übersicht | Ausgabe 1/2021 Open Access

Sexueller Sadismus: Aktueller Wissensstand und die Codierung gemäß DSM-5-TR und ICD-11
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- Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie > Ausgabe 1/2021
Einleitung
Begriffsgeschichte
Leiden-sehn tut wohl, Leiden-machen noch wohler – das ist ein harter Satz, aber ein alter mächtiger menschlich-allzumenschlicher Hauptsatz, den übrigens vielleicht auch schon die Affen unterschreiben würden: denn man erzählt, daß sie im Ausdenken von bizarren Grausamkeiten den Menschen bereits reichlich ankündigen und gleichsam „vorspielen“. Ohne Grausamkeit kein Fest: so lehrt es die älteste, längste Geschichte des Menschen – und auch an der Strafe ist so viel Festliches! (S. 807)
Die wollüstige Erregung beim Anhören von scheußlichen Mordtaten oder beim Beschauen von Bildern, die bis zum Orgasmus gesteigerte sexuelle Erregung vor allem von Frauen beim Zuschauen von qualvollen Hinrichtungen sind aus zahlreichen Berichten und Beobachtungen bekannt. Ein Blut- und Sexualrausch kann ganze Gruppen mit Windeseile überfallen und zu Orgien des genußvollen Abschlachtens von Opfern im Ausbruch „spontanen Volkszornes“ bei Revolutionen und Pogromen führen. (S. 156, Hervorhebung im Original)
Es wäre jedoch durchaus falsch und übertrieben, überall da, wo ausserordentliche, überraschende Grausamkeit sich findet, diese aus sadistischer Perversion erklären zu wollen, und, wie es hie und da geschieht, in den zahllosen Greueln der Geschichte oder auch in gewissen massenpsychologischen Erscheinungen der Gegenwart den Sadismus als Motiv vorauszusetzen. […]Daneben ist noch ein starkes psychisches Element zu berücksichtigen, welches namentlich die Anziehungskraft erklärt, die heute noch Hinrichtungen u. dgl. ausüben; das ist die Lust am starken und ungewöhnlichen Eindruck überhaupt, am seltenen Schauspiel, der gegenüber das Mitleid in rohen oder abgestumpften Naturen schweigt. (S. 96–97)
… it is precisely the wish to control that is the primary motivating force in sadism, and because there is a range of degrees and kinds of control which can be applied by one person to another, sadism may manifest itself in a variety of ways. […] The range of controlling behaviour under consideration forms a continuum from subtle verbal control through various types of psychological control to actual physical intervention such as bondage, imprisonment, hypnosis, anaesthesia and even blows to render the victim unconscious or dead. (S. 20–21, Hervorhebung im Original)
Abgrenzung des Konstrukts
Einvernehmliche sadomasochistische Rollenspiele
Charakter- bzw. Alltagssadismus
Nosologie
Diagnostisches und Statistisches Manual psychischer Störungen
Internationale Klassifikation psychischer Störungen
Coercive sexual sadism disorder is characterised by a sustained, focused and intense pattern of sexual arousal—as manifested by persistent sexual thoughts, fantasies, urges or behaviours—that involves the infliction of physical or psychological suffering on a non-consenting person. In addition, in order for Coercive Sexual Sadism Disorder to be diagnosed, the individual must have acted on these thoughts, fantasies or urges or be markedly distressed by them. Coercive Sexual Sadism Disorder specifically excludes consensual sexual sadism and masochism.
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die Abkehr von der vorherigen Verschmelzung von Sadismus und Masochismus (Sadomasochismus) zu einer einzigen Störungskategorie, wie dies in der ICD-10 der Fall war (World Health Organization 2004);
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der Fokus auf nichteinvernehmliche Erscheinungsformen (und somit die Abgrenzung von BDSM), was auch durch die Hinzufügung des Adjektivs „coercive“ (auf Deutsch: zwangsweise) nochmals betont wird;
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die Nichtberücksichtigung einer ungestörten Variante, wie dies im DSM‑5 mit der Paraphilie (gegenüber der paraphilen Störung) der Fall ist.
Diagnostik
Sexuelle Sadismus-Skala
Sexuelle Sadismus-Skala
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Item 1: sexuelle Erregung bei den Tathandlungen,
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Item 2: Machtausübung, Kontrolle, Dominanz,
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Item 3: Quälen des Opfers,
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Item 4: erniedrigendes, demütigendes Verhalten gegenüber dem Opfer,
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Item 5: Verstümmelung von Geschlechtsorganen,
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Item 6: Verstümmelung anderer Körperstellen oder -teile,
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Item 7: Ausüben von exzessiver physischer Gewalt,
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Item 8: Einführen von Gegenständen in Körperöffnungen des Opfers,
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Item 9: ritualisierte Handlungen,
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Item 10: Einsperren des Opfers/räumliche Nötigung,
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Item 11: Mitnahme von Trophäen (aus: Nitschke et al. 2020).