Begriffsgeschichte
In der
Genealogie der Moral schrieb Nietzsche (
1954 [1887]):
Leiden-sehn tut wohl, Leiden-machen noch wohler – das ist ein harter Satz, aber ein alter mächtiger menschlich-allzumenschlicher Hauptsatz, den übrigens vielleicht auch schon die Affen unterschreiben würden: denn man erzählt, daß sie im Ausdenken von bizarren Grausamkeiten den Menschen bereits reichlich ankündigen und gleichsam „vorspielen“. Ohne Grausamkeit kein Fest: so lehrt es die älteste, längste Geschichte des Menschen – und auch an der Strafe ist so viel Festliches! (S. 807)
Was Nietzsche als allgemein menschliche Neigung beschreibt, nämlich die Bereitschaft, sich am Schmerz eines anderen erfreuen zu können (und deren harmlos-alltägliche Ausprägungsformen möglicherweise Schadenfreude und abwärts gerichtete soziale Vergleiche sind), soll offenbar auch der Antrieb dafür sein, sich Grausamkeiten und Strafen auszudenken, die in ihrer Ritualisierung gleichsam etwas Festliches hätten. Dieses Motiv verortet Nietzsche so tief in der menschlichen Natur, dass es angeblich auch bei anderen Primaten vorhanden sei.
Tatsächlich ist die Geschichtsschreibung voller Beispiele für beide Phänomene: die individuelle Bereitschaft, Genuss aus dem Leiden eines anderen zu ziehen, und die Neigung, sich bizarre Grausamkeiten auszudenken. Der Psychiater Weitbrecht (
1973) schrieb:
Die wollüstige Erregung beim Anhören von scheußlichen Mordtaten oder beim Beschauen von Bildern, die bis zum Orgasmus gesteigerte sexuelle Erregung vor allem von Frauen beim Zuschauen von qualvollen Hinrichtungen sind aus zahlreichen Berichten und Beobachtungen bekannt. Ein Blut- und Sexualrausch kann ganze Gruppen mit Windeseile überfallen und zu Orgien des genußvollen Abschlachtens von Opfern im Ausbruch „spontanen Volkszornes“ bei Revolutionen und Pogromen führen. (S. 156, Hervorhebung im Original)
Den Autoren des vorliegenden Beitrags ist es nicht gelungen, historisch verbürgte Beispiele von „bis zum Orgasmus gesteigerte[r] sexuelle[r] Erregung vor allem von Frauen beim Zuschauen von qualvollen Hinrichtungen“, wie Weitbrecht (
1973) schrieb, zu finden, trotz der angeblich „zahlreichen [Berichte] und Beobachtungen“. Allerdings kann wohl die Schilderung der Ermordung von Prinzessin Marie Louise von Savoyen im Zuge der Septembermassaker von 1792 als Beleg für die Verbindung von Grausamkeit, sexueller Erniedrigung und Schaulust dienen: Nachdem die Prinzessin getötet worden war, schnitt ihr angeblich jemand den Mons pubis ab und hielt ihn sich zum Spektakel der Menge wie einen Schnurrbart vor das Gesicht (McCallam
2007).
Interessanterweise erschien nur ein Jahr vor Nietzsches oben genannter Schrift eine Monografie, die in Teilen in lateinischer Sprache verfasst war, um eine „wollüstige Erregung“ bei der Lektüre jedenfalls unter Nichtfachleuten zu verhindern: Richard von Krafft-Ebings
Psychopathia sexualis (
1886). Darin nahm von Krafft-Ebing u. a. auch das Phänomen des sog.
Lustmords in den Blick; in späteren Auflagen des Werks war im selben Kapitel dann von
Sadismus die Rede. Von Krafft-Ebing (
1886,
1907) zufolge sei es erwiesen, dass Begierde und Grausamkeit häufig zusammen auftreten würden. Gleichzeitig warnte von Krafft-Ebing davor, bei Folter, Hinrichtung oder dergleichen vorschnell eine sadistische Motivation zu unterstellen:
Es wäre jedoch durchaus falsch und übertrieben, überall da, wo ausserordentliche, überraschende Grausamkeit sich findet, diese aus sadistischer Perversion erklären zu wollen, und, wie es hie und da geschieht, in den zahllosen Greueln der Geschichte oder auch in gewissen massenpsychologischen Erscheinungen der Gegenwart den Sadismus als Motiv vorauszusetzen. […]
Daneben ist noch ein starkes psychisches Element zu berücksichtigen, welches namentlich die Anziehungskraft erklärt, die heute noch Hinrichtungen u. dgl. ausüben; das ist die Lust am starken und ungewöhnlichen Eindruck überhaupt, am seltenen Schauspiel, der gegenüber das Mitleid in rohen oder abgestumpften Naturen schweigt. (S. 96–97)
Sadismus beschrieb von Krafft-Ebing (
1886,
1907) u. a. wie folgt: „Sadismus ist also nichts anderes als eine pathologische Steigerung von – andeutungsweise auch unter normalen Umständen möglichen – Begleiterscheinungen der psychischen Vita sexualis, insbesondere der Männlichen, ins Masslose und Monströse“ (S. 69). Die Begriffe „Sadist“ oder „sadistisch“ wurden allerdings nicht durch von Krafft-Ebing geprägt, sondern tauchten bereits zuvor im Schrifttum des 19. Jahrhunderts auf (Reinhardt
2014). Der Wortstamm bezieht sich dabei auf Donatien Alphonse François, Marquis de Sade (1740–1814), der in seinen Schriften (u. a.
Justine) eben solche Akte sexueller Demütigung und Quälerei beschrieben hat, was seinen Biografen zufolge offenbar auch seiner gelebten Sexualität entsprach (Reinhardt
2014).
Oftmals wird Sadismus stereotyp mit der Zufügung von Schmerzen (etwa durch Schlagen) in Verbindung gebracht, auch wenn dies nur eine von vielen Möglichkeiten ist, um Dominanz und Kontrolle zu erleben (Karpman
1954). Dabei hat bereits von Krafft-Ebing (
1886,
1907) auf die Vielzahl möglicher Verhaltensweisen hingewiesen, die durchaus auch ideelle oder symbolische Formen beinhalten könnten: „So entsteht eine lange Reihe von Formen, welche mit den schwersten Verbrechen beginnt und bei läppischen Handlungen endigt, die dem perversen Bedürfnisse des Sadisten eine bloss symbolische Befriedigung gewähren sollen“ (S. 70). Wie knapp 100 Jahre später MacCulloch et al. (
1983) dargelegt haben, sei vielmehr der übersteigerte Wunsch nach dem Erleben von Kontrolle das maßgebliche Motiv:
… it is precisely the wish to control that is the primary motivating force in sadism, and because there is a range of degrees and kinds of control which can be applied by one person to another, sadism may manifest itself in a variety of ways. […] The range of controlling behaviour under consideration forms a continuum from subtle verbal control through various types of psychological control to actual physical intervention such as bondage, imprisonment, hypnosis, anaesthesia and even blows to render the victim unconscious or dead. (S. 20–21, Hervorhebung im Original)