Hintergrund und Zielsetzung
Aufgrund gesetzlicher Vorgaben zur Qualitätssicherung und zu der Erkenntnis, dass medizinische Fehlleistungen häufig aus einem Systemversagen resultieren, betreiben Klinken in Deutschland ein Risikomanagement (RM) [
1,
17].
Im Fokus des RM stehen Erkennung, Analyse und Vermeidung sog. unerwünschter Ereignisse (UE) [
29]. Unter UE werden „Vorkommnisse bzw. Ereignisse [verstanden], die möglicherweise, aber nicht zwangsläufig zu einem konsekutiven Schaden des Patienten führen“ [
29]. Ein Bestandteil des RM sind u. a. Critical Incident Reporting Systems (CIRS), welche die Ursachenforschung von UE erleichtern [
22]. Zudem stützt der Einsatz von Checklisten durch standardisierte Vorgehensweisen die Prävention von UE [
6]. Grundlegend für ein gutes RM ist darüber hinaus eine konstruktive Sicherheitskultur (SK), welche das Ergebnis einer verbesserten Teamarbeit und einer erhöhten Sensibilität für Patientensicherheit innerhalb der Organisation darstellt [
7,
31].
Die SK ist Teil der Organisationskultur von Krankenhäusern und beschreibt zugrunde liegende Normen und Verhaltensmuster, die den Umgang der Organisation mit sicherheitsrelevanten Fragen beeinflussen [
4]. Alle Organisationsmitglieder reproduzieren die SK durch ihre Handlungen im klinischen Alltag. Insbesondere Führungskräfte sind darüber hinaus für die transparente Kommunikation von Wertvorstellungen zuständig [
4].
Eine konstruktive SK zeichnet sich durch regelmäßige Kommunikation, effektive Teamarbeit und kontinuierliche Weiterentwicklung aus [
4,
18]. Dabei ist die Zusammenarbeit von Vertrauen und Wertschätzung geprägt [
11,
25]: Teambesprechungen finden auch über die eigene Fachdisziplin hinaus statt und haben zum Ziel, gemeinsame Wertvorstellungen zu stabilisieren und das Team für die Patientensicherheit zu sensibilisieren [
4]. Organisationsmitglieder erhalten ungeachtet ihrer hierarchischen Position die Möglichkeit, sicherheitsrelevante Fragen anzustoßen [
4]. Kommt es zu Fehlhandlungen, können diese in einfach zugängliche Meldesysteme eingetragen werden. Grundlegend hierfür ist ein vertrauensvoller Umgang mit der gemeldeten Information und Strafffreiheit für den Melder [
25]. Die Aufarbeitung von UE sollte anschließend problem- und nicht personenzentriert erfolgen [
25]. Dies bedeutet, dass Kontext und Bedingungen der Fehlerentstehung in den Fokus gerückt werden, um UE im Sinne einer kontinuierlichen Weiterentwicklung aufzuarbeiten und daraus für die Zukunft zu lernen [
25].
Zur Erhebung der SK in Klinken stehen international quantitative Messinstrumente, wie der Safety Attitudes Questionnaire
, zur Verfügung [
11,
23]. Ob und welche Messinstrumente in Deutschland zur Anwendung kommen, ist nach aktuellem Forschungsstand nicht bekannt. Eine Studie zum klinischen RM konnte zeigen, dass 25 % der befragten Krankenhäuser regelmäßig Mitarbeiterbefragungen zur wahrgenommenen SK durchführen [
17]. Aussagen zur gegenwärtigen SK in Krankenhäusern können daher vorrangig auf Basis theoretisch-konzeptioneller und teilweise veralteter Betrachtungen getroffen werden [
14]. Um zielführende Strategien zur Verbesserung der SK zu entwickeln, ist nicht nur die Charakteristik der SK, sondern darüber hinaus ein tiefer gehendes Verständnis über die zugrunde liegenden Annahmen der Organisationsmitglieder notwendig [
16]. Dazu werden seit geraumer Zeit qualitative Untersuchungsmethoden, wie z. B. Interviews, gefordert [
11,
16]. Während quantitative Studien mithilfe eines statistisch ausgewerteten Datensatzes auf die Generalisierbarkeit der Ergebnisse abzielen, steht in der qualitativen Forschung die detaillierte Einzelfallanalyse im Fokus. Damit soll ein bestimmtes gesellschaftliches Phänomen beschrieben werden.
Der Fachbereich Orthopädie und Unfallchirurgie (O&U) verzeichnete im Jahr 2018 insgesamt 1690 festgestellte Behandlungsfehler und Risikoaufklärungsmängel und hob sich damit deutlich von anderen Fachdisziplinen ab (z. B. Allgemeinchirurgie 680, innere Medizin 455) [
5]. Der Umgang mit UE kann daher in diesem Fachbereich als hochrelevant angesehen werden. Die vorliegende Studie untersuchte mittels qualitativer Forschungsmethoden die ärztliche Perspektive auf die SK in der O&U mit dem Ziel, die relevanten Bestandteile einer SK zu identifizieren und zu untersuchen, wie Ärzte der O&U den Umgang mit UE im klinischen Alltag wahrnehmen.
Studiendesign und Untersuchungsmethoden
Die vorliegende Studie wurde im Rahmen des Masterstudiengangs „Versorgungsforschung und Implementierungswissenschaft im Gesundheitswesen“ an der Medizinischen Fakultät Heidelberg als Masterarbeit zur Erlangung des akademischen Grads „Master of Science“ durchgeführt.
Der Umgang mit UE in der O&U wurde in 14 Einzelinterviews mit Ärzten der O&U exploriert.
Rekrutierungsstrategie
Die Auswahl der Studienteilnehmer erfolgte zielgerichtet („purposive sampling“). Diese Methodik stellt ein gängiges Vorgehen in der qualitativen Forschung dar, um einen möglichst hohen Informationsgehalt zu einem unterrepräsentierten Forschungsthema zu generieren [
15]. Es wird dabei eine maximale Variation hinsichtlich Geschlecht, Hierarchiezugehörigkeit, Berufsjahren und Arbeitgebern der Studienteilnehmer angestrebt. Ein Arzt aus der O&U fungierte als Gatekeeper und listete 20 potenzielle Studienteilnehmer mit Kontaktdaten. Die Kontaktaufnahme mit diesen Personen erfolgte per E‑Mail. Es erklärten sich 14 Personen nach Erstkontakt zu einem persönlichen oder telefonischen Interview bereit. Nach 10 Tagen wurde an die verbleibenden 6 Personen eine Erinnerung versendet, woraufhin 5 Personen eine Teilnahme aus Zeitmangel absagten. Eine Person meldete sich nicht zurück.
Beschreibung des Sample
Es wurden 14 Ärzte aus dem Fachbereich O&U rekrutiert, davon 4 Chefärzte, 7 Oberärzte und 3 Assistenzärzte. Die Teilnehmer hatten eine durchschnittliche Berufserfahrung von 16 Jahren (1 bis 37 Jahre). Alle Ärzte waren männlichen Geschlechts und in 8 verschiedenen Krankenhäusern in Deutschland und der Schweiz tätig. Zehn Teilnehmer waren in Krankenhäusern der Maximalversorgung angestellt (Universitätskliniken, berufsgenossenschaftliche Kliniken und Bundeswehrkrankenhäuser). Ein Arzt arbeitete im Krankenhaus der Schwerpunktversorgung und 3 in Krankenhäusern der Grund- und Regelversorgung. Zwei Ärzte berichteten im Interview von ehemaligen Arbeitsstellen, da sie kurz zuvor an einen neuen Arbeitsplatz wechselten.
Datenerhebung
Vor Beginn der Interviews wurden die Teilnehmer mündlich über datenschutzrechtliche Hinweise und den Inhalt der Studie aufgeklärt, anschließend erfolgte die schriftliche Einwilligung. Persönliche Daten wurden anhand eines Kurzfragebogens erfasst [
32].
Die Gespräche fanden von Juli bis November 2019 statt. Vier Interviews fanden am Arbeitsplatz und 10 in der Freizeit der Ärzte statt. Neun Interviews fanden telefonisch und 5 persönlich statt. Die Interviews wurden mithilfe eines halbstrukturierten Leitfadens (Zusatzmaterial online 1) durchgeführt, der ausschließlich offene Fragen enthielt, um die Wahrnehmung der Ärzte möglichst unvoreingenommen erfassen zu können [
26,
32]. Alle Interviews wurden von I.H. durchgeführt, tonaufgezeichnet und anschließend wörtlich anhand zuvor festgelegter Transkriptionsregeln transkribiert [
30]. Die Interviews dauerten im Mittel 45 min (20–68 min).
Datenanalyse
Das Datenmaterial wurde zunächst in Anlehnung an die Thematic Analysis (TA) nach Braun und Clarke [
2] organisiert. Die TA [
2] wird zur induktiven Analyse von Erfahrungen der Studienteilnehmer empfohlen und eignet sich daher für die vorliegende Studie. Hierfür wurde das vorliegende Datenmaterial durch Worte oder Sätze iterativ kodiert [
2], (Zusatzmaterial online 2).
Dann wurden die einzelnen Kodierungen anhand einer deduktiven Framework-Analyse in das Yorkshire Contributory Factors Framework (YCFF) [
13] eingeordnet. Das YCFF wurde auf Basis eines systematischen Reviews entwickelt und eignet sich zur Identifikation organisationaler Faktoren, welche die SK im klinischen Kontext beeinflussen [
13]. Von den insgesamt 20 Faktoren des YCFF wurden 10 zur Datenanalyse verwendet (Zusatzmaterial online 3). Diese wurden anschließend nach Aussagekräftigkeit der zugeordneten Kategorien priorisiert [
2]. Zur Organisation der Daten wurde MAXQDA 2018.2 (Verbi Software GmbH, Berlin) verwendet.
Die Interpretation der Themen erfolgte induktiv anhand des vorliegenden Datenmaterials [
2]. Dabei wurde nach möglichen Zusammenhängen zwischen den Themen gesucht, um Wechselwirkungen und Einflüsse auf die SK zu identifizieren und beschreiben. Die Ergebnisse wurden in einem Seminar des Studiengangs Versorgungsforschung und Implementierungswissenschaft im Gesundheitswesen der Universität Heidelberg unter der Leitung von C.U. und R.P.D. diskutiert. Zudem wurden die befragten Ärzte um Prüfung der Ergebnisse gebeten („member checking“) [
32]. Sieben meldeten sich zurück und bestätigten die dargestellte SK als realitätsnah.
Ethikvotum
Das positive Ethikvotum wurde am 22.05.2019 bei der Ethikkommission der medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg eingeholt (S356-2019).
Diskussion
Alle befragten Ärzte erwarteten vom Chefarzt, eine konstruktive SK vorzuleben. Dass die Führungskräfte dabei v. a. für jüngere Mitarbeiter ein Vorbild darstellen, wird durch eine Metaanalyse qualitativer Studien aus verschiedenen medizinischen Fachdisziplinen bestätigt [
19]. Die befragten Chefärzte wählten ihre Teams auf Basis von Wertvorstellungen aus, was die Wichtigkeit des Handelns nach gemeinsamen Werten zeigt. Zudem ist bereits bekannt, dass das Handeln nach ethischen Grundsätzen v. a. für Führungskräfte eine elementare Kompetenz darstellt [
3,
10,
12]. Insbesondere Chefärzte sind für die Vorgabe eines ethischen Rahmens zuständig, in dem Ärzte weitestgehend autonom handeln können [
10]. Bei wiederholter Nichtbefolgung dieser impliziten Vorgaben erläuterten die befragten Chefärzte, dass entsprechende Ärzte aus dem Team zu entfernen seien. Ähnliche Ergebnisse konnten auch in einer ethnografischen Studie über intensivmedizinisches Personal gezeigt werden [
28].
Dass Chefärzte nicht nur einen Handlungsrahmen vorgeben, sondern durch ihr Verhalten die Handlungen des ärztlichen Teams beeinflussen, ist aus anderen Fachdisziplinen bekannt [
3,
21,
27]. Es gibt konkrete Hinweise darauf, dass eine straffreie Meldung von UE und die Möglichkeit des Lernens aus Fehlern die Frequenz von Fehlermeldungen beeinflusst [
21]. Die Ergebnisse dieser Studie zeigen darüber hinaus, dass für die Meldung von UE ein vertrauensvoller Umgang im Team grundlegend ist und die Chefärzte dieses durch das Eingestehen eigener Fehlhandlungen vorleben. Dagegen konnten Sanktionen gegen den Melder eines Fehlers und emotionale Reaktionen des Chefarztes wie auch bei Morrow et al. [
19] als eine Barriere für die Kommunikation von UE identifiziert werden.
Ein vertrauensvoller Umgang mit dem Melder als Bestandteil einer konstruktiven SK [
25] wurde zwar von vielen Befragten als erstrebenswert beschrieben, aber nicht von allen so erlebt. Vor allem die interdisziplinäre M&M stand aufgrund einer häufig wahrgenommenen Personenzentrierung in der Kritik. Die vorliegenden Ergebnisse zeigen, dass das Fokussieren auf vermeintlich schuldige Ärzte ein Verschweigen von eigenen Fehlhandlungen fördert, um vor den Kollegen nicht bloßgestellt zu werden. Dies wird durch eine weitere Studie [
19] bekräftigt. Hinsichtlich der interdisziplinären Kommunikation wurde deutlich, dass diese von Stereotypen begleitet ist. So wurden Anästhesisten beschuldigt, die Aufarbeitung von UE durch das Negieren von Fehlhandlungen zu behindern. Gillespie et al. [
8] fanden hinsichtlich der Teamarbeit bei Operationen heraus, dass die Zusammensetzung des Teams sowohl die Kommunikation als auch den Inhalt des Informationsaustausches beeinflusst. Der Grund hierfür könnte in der beruflichen Identifikation von Chirurgen liegen, die durch einen hohen Individualismus geprägt ist und die Teamarbeit einschränken kann [
8].
Streng hierarchische Strukturen konnten ebenfalls als Hindernis für die Kommunikation von UE identifiziert werden. Dies zeigt sich konsistent mit Ergebnissen weiterer Studien [
9,
20,
24]. Schwappach et al. [
24] untersuchten die Kommunikation über sicherheitsrelevante Themen in deutschsprachigen Krankenhäusern und konnten zeigen, dass 20 % der Befragten sicherheitsgefährdende Handlungen zwar beobachteten, aber aus Gründen der sozialen Konstellation nicht meldeten.
In dieser Studie beschrieben Ärzte, UE in 3 verschiedenen Besprechungstypen aufzuarbeiten, was den Anforderungen einer konstruktiven SK entspricht [
4]. Dabei wurde die Notwendigkeit der Regelmäßigkeit von Teamsitzungen betont, um sie als Rahmenbedingungen der Kommunikation zu etablieren. Dies konnte auch in einer Fokusgruppenstudie in dänischen Universitätskliniken gezeigt werden [
20]. Auffällig war in der vorliegenden Studie die Varianz der inhaltlichen Gestaltung zwischen den verschiedenen Krankenhäusern. Die Ergebnisse zeigen, dass durch die fehlende Standardisierung oft nicht das Lernen aus Fehlern im Mittelpunkt steht, sondern eine personenzentrierte Fallauswahl ermöglicht wird.
Stärken und Limitationen
In der vorliegenden Studie wurde die SK anhand der TA nach Braun und Clarke [
2] und mithilfe einer ergänzenden Framework-Analyse exploriert. So konnten relevante Bestandteile der SK aus ärztlicher Perspektive anhand eines dichten Datenmaterials erläutert werden. Die Befragung von Ärzten aus 8 verschiedenen Kliniken mit unterschiedlicher Hierarchiezugehörigkeit und Berufserfahrung ermöglicht einen fundierten Einblick in ein bisher unterrepräsentiertes Forschungsgebiet. Die Interpretation der Studienergebnisse wurde durch die befragten Ärzte selbst als realitätsnah bestätigt [
26,
30].
Durch das Heranziehen eines Gatekeeper erfolgte die Rekrutierung von Studienteilnehmern zielgerichtet und zeitnah. Im Sample könnten sich jedoch hauptsächlich Ärzte befunden haben, die einer Studienteilnahme aufgeschlossen und für eine konstruktive SK sensibilisiert waren. Zudem beruhte der Umfang des Sample auf Aspekten der Machbarkeit und nicht ausschließlich auf inhaltlicher Sättigung der erhobenen Daten, was die Validität der Ergebnisse beschränken kann. Da ausschließlich männliche Ärzte befragt wurden, konnten geschlechterbezogene Perspektiven auf die SK nicht adressiert werden. Die Erhöhung der Beteiligung von Ärzten aller Geschlechter könnte ein Ziel weiterführender Forschung sein, um das Thema noch umfangreicher beleuchten zu können.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Alle beschriebenen Untersuchungen am Menschen oder an menschlichem Gewebe wurden mit Zustimmung der zuständigen Ethikkommission, im Einklang mit nationalem Recht sowie gemäß der Deklaration von Helsinki von 1975 (in der aktuellen, überarbeiteten Fassung) durchgeführt. Von allen beteiligten Patienten liegt eine Einverständniserklärung vor.
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