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Erschienen in: Rechtsmedizin 1/2022

Open Access 31.03.2021 | Forensische DNA-Analyse | Kasuistiken

„Skelettfund“ im Keller

verfasst von: Prof. Dr. med. M. A. Verhoff, M. F. Klinger, M. Kettner, C. G. Birngruber

Erschienen in: Rechtsmedizin | Ausgabe 1/2022

Zusammenfassung

Bei der Identifizierung einer unbekannten, stark verwesten Leiche oder eines Skelettes ohne Hinweise auf die Identität durch die Auffindesituation spielt die Erstellung des sog. biologischen Profils eine entscheidende Rolle. Vorgestellt wird ein Leichenfund in einem mehr oder weniger frei zugänglichen Kellerabteil eines Mehrfamilienhauses. Der Leichnam war weitgehend skelettiert, das Skelett jedoch durch mumifizierte Weichteilreste noch nahezu vollständig zusammengehalten. Bei den Hinweisen auf die Identität ergaben sich insbesondere in der Altersschätzung scheinbare Widersprüche, die jedoch zufällig eine relativ genau zutreffende Schätzung lieferten. Die Überreste konnten mittels forensischer DNA-Analyse einer seit 4 Jahren vermissten 49-Jährigen zugeordnet werden. Als Todesursache wurde ein Kältetod diskutiert.
Der Fall wies eine außergewöhnliche Auffindesituation auf, die an Bilder von „Skelettfunden“ in Kriminalverfilmungen erinnerte. Derartige Befunde dürften jedoch in der Realität wohl nur sehr selten vorkommen. Darüber hinaus werden die Wichtigkeit und die Probleme der forensisch-osteologischen Untersuchungen bei der Identifizierung eines stark verwesten, unbekannten Leichnams demonstriert.

Einleitung

Die Identifizierung von Verstorbenen ist eine zentrale Aufgabe der Rechtsmedizin. Dabei sind unterschiedliche Szenarien möglich. Eine große Herausforderung stellt ein (einzelner) stark verwester bis skelettierter, ggf. überdies unvollständiger menschlicher Leichnam dar, bei dem der Auffindeort und die -umstände keinen Hinweis auf die Identität ermöglichen. Als Beispiele wären ein verwester Leichnam auf einer Waldlichtung, ein weitgehend skelettierter Leichnam an einer Bahnstrecke oder ein Skelettfund bei Bauarbeiten bzw. an einem öffentlich zugänglichen Ort zu nennen. Zusätzlich erschwert wird die Situation, wenn es keine sog. Beifunde gibt, die auf die Identität hindeuten.
Der Identifizierungsprozess besteht bei unbekannten Leichen bzw. Skeletten aus zwei Schritten: Erstens dem Sammeln von Hinweisen auf die Identität und zweitens der Identitätssicherung. Hinweise auf die Identität zu erheben, bedeutet, dass so viele individualisierende Merkmale des Verstorbenen wie möglich herausgefunden werden, um anhand dieser eine Einengung des infrage kommenden Personenkreises, ggf. einen Abgleich mit Vermisstenlisten, zu ermöglichen. Gegebenenfalls können diese auch zur Identifikation des Verstorbenen über Menschen führen, die diesen zu Lebzeiten gekannt haben. Gerade im englischsprachigen Raum wird dieser Schritt die Erstellung eines „biologischen Profils“ genannt [20]; dazu gehören: Geschlecht („sex“), Alter („age at death“), Körperhöhe („body height“) und die Herkunft („ancestry“). Weiterhin können mögliche verheilte knöcherne Verletzungen [8] oder Krankheiten, die zu Besonderheiten des Aussehens der Person (z. B. Narben, Deformierungen) oder Auffälligkeiten der Bewegung (Hinken, steifer Arm o. Ä.) geführt haben könnten, hierunter fallen. Streng genommen gehört die Liegezeit, das sog. postmortale Intervall (PMI), nicht mit zum biologischen Profil, es kann aber durch die zeitliche Einordnung des Todesgeschehens ein wichtiger Hinweis auf die Identität sein und hat für die Frage der forensischen Relevanz (Rezenz des Fundes) sogar eine Weichenstellerfunktion für die weitere Aufarbeitung des Falles [21].
Völlig andere Voraussetzungen bieten sog. Wohnungsleichen [12, 13, 22] oder Massenkatastrophen in „geschlossenen Szenarien“ [10], da hier primär ein Verdacht besteht, um wen es sich handeln könnte, bzw. eine Passagier- oder Gästeliste „abgearbeitet“ werden kann. In diesen Situationen kann man gleich zum zweiten Schritt des Identifizierungsprozesses, der Identitätssicherung, übergehen. Bei Massenkatastrophen sind je nach Größe logistische Probleme zu lösen, was eine geeignete Organisation und entsprechende Datenverarbeitung erfordert [9, 10, 15].

Falldarstellung

Vorgeschichte

Nachdem ein langjähriger Mieter aus einem Mehrfamilienhaus ausgezogen war, fiel auf, dass er sein Kellerabteil völlig überfüllt zurückgelassen hatte. Auf Aufforderungen, dieses zu räumen, reagierte er nicht, sodass dem Hausmeister diese Aufgabe zuteil wurde. Er begab sich Mitte September in den Keller, um mit der Räumung zu beginnen. Die Tür des Kellerabteils war nicht durch ein Schloss gesichert. Der Riegel war nicht zu bewegen, aber zurückgeschoben, sodass sich die Tür direkt öffnen ließ. In dem Abteil befanden sich unterschiedliche Alltagsgegenstände für Haus und Garten, die offenbar lange Zeit nicht mehr benutzt worden waren. Auffällig waren zahlreiche mit Kordeln zusammengebundene Zeitschriftenstapel, die jedoch starke Zerstörungen wie von Nagetieren aufwiesen. Dazu passend waren überall große Mengen an Rattenkot und kleinen Papierschnipseln zu sehen.
Schräg gegenüber der Eingangstür, an den Mauerwinkel angelehnt, fast ein Viertel der Grundfläche des Abteils einnehmend, lag die Zeltplane eines Gartenpavillons den Gegenständen auf. Die Oberfläche der Plane war von Rattenkot, Papierschnipseln und Staub belegt. Nach Entfernen der Zeltplane entdeckte der Hausmeister unmittelbar darunter ein „Skelett“ (Abb. 1) und informierte unverzüglich die Polizei.

Auffindesituation

Der Leichnam lag auf einer etwa 30 cm dicken Schicht aus unterschiedlichen Materialien, darunter (offenbar durch Rattenfraß) zerstörte Kleidung. Auf dem Leichnam war nach Wegnahme der Zeltplane kein weiteres Material. Insbesondere waren am Leichnam keine Bekleidungsreste abzugrenzen. Am Leichnam selbst sowie in dessen Umgebung fand sich Rattenkot, dazwischen zahlreiche leere Puparien, jedoch zunächst keine lebenden Insekten. In dem Kellerabteil und im Durchgangsbereich des Kellers wurde jeweils eine Temperatur von 12 °C gemessen.
Bis auf Anteile von Händen und Füßen war das Skelett durch mumifizierte Weichteilreste vollständig zusammengehalten. Der Brustkorb war noch anatomisch korrekt aufgespannt. Demzufolge handelte es sich gem. Hessischem Friedhofs- und Bestattungsgesetz um eine Leiche [5], da passend zu § 9 Abs. 2 Satz 2 „der körperliche Zusammenhang durch den Verwesungsprozess noch nicht völlig aufgehoben“ war.

Erste Ermittlungen

Der Hausmeister sagte aus, dass ihm im Herbst vor 4 Jahren vermehrt Fliegen im Hausflur aufgefallen seien. Im Frühjahr oder im Sommer des Jahres darauf seien es noch immer außergewöhnlich viele Fliegen gewesen. Danach sei „eigentlich wieder alles normal“ gewesen. Die Haustür sei in den letzten Jahren „ständig kaputt“ gewesen, sodass der Hausflur von außen frei zugänglich gewesen sei. Die Tür zum Kellereingang sei nie verschlossen. Die Temperatur im Keller sei das ganze Jahr über relativ konstant; im Moment sei der Keller nach der langen Hitzeperiode etwas wärmer als sonst.
Eine Mieterin, die im Sommer vor vier Jahren eingezogen war, gab an, dass sie sich ab dem Herbst ihres Einzugsjahres mehrfach bei der Hausverwaltung wegen des unmöglichen Gestankes im Keller beschwert habe. Sie habe kaum mehr ihr Kellerabteil betreten, da ihr jedes Mal übel geworden sei. Die Hausverwaltung habe aber nichts unternommen. Im Lauf der Zeit sei der Geruch geringer geworden, oder sie habe sich daran gewöhnt.
Der ehemalige Mieter bestätigte der Polizei gegenüber, dass das Kellerabteil zu seiner Wohnung gehört habe. Er habe es bei seinem Einzug vor 7 Jahren leer übergeben bekommen. Er habe den „Verschlag“ jedoch nie benutzt und ihn deshalb nicht mit einem Vorhängeschloss gesichert. Später sei ihm aufgefallen, dass sich zunehmend Gegenstände „darin gesammelt“ hätten, die aber nicht von ihm gewesen seien. Vor etwa 4 Jahren habe es im Keller „furchtbar angefangen zu stinken“. Vor ungefähr 2 Jahren habe es noch immer gestunken, aber nicht mehr so schlimm. Seitdem habe er den Keller nicht mehr betreten. Er sei der Aufforderung der Hausverwaltung, den Keller zu räumen, nicht nachgekommen, da ja nichts von ihm darin gewesen sei.

Obduktionsbefunde

Der Leichnam war zusammen mit dem Material, auf dem er auflag, geborgen worden. Zunächst wurde eine postmortale Computertomographie durchgeführt, die weder Hinweise auf knöcherne Verletzungen noch auf röntgendichte Fremdkörper ergab.
Im Rahmen der gerichtlichen Leichenöffnung waren Reste innerer Organe nicht mehr nachzuweisen. Es fanden sich anteilig wie mit dem Skelett verbackene Schichten aus Rattenkot, Puparien und Papierschnipseln (Abb. 2), innerhalb derer vereinzelte lebende Mottenlarven aufzufinden waren. Knöcherne Verletzungen waren makroskopisch nicht darzustellen. Zungenbein und Kehlkopfgerüst waren nicht abgrenzbar.
Die geschlechtsdiskriminatorischen Merkmale an Schädel (Abb. 3) und Becken (Abb. 2) sprachen klar für ein weibliches Geschlecht. Die Schädelform war kaukasoid. Die Körperhöhe wurde nach Vermessung der Langknochen und Vergleich der Resultate verschiedener Formeln [2, 14, 19] auf etwa 165 cm geschätzt.
Die Schädelnähte [11, 18] waren endokranial nicht mehr erkennbar (Obliterationsgrad 4), ektokranial gut sichtbar, allenfalls vereinzelt mit Obliterationsgrad 1. Auf die Berechnung eines durchschnittlichen Obliterationsgrades [17] wurde verzichtet.
Die Kiefer (Abb. 3 und 4) wiesen zahlreiche intravitale Zahnverluste auf, jedoch keine nennenswerten Kieferatrophien. Die verbliebenen Zähne zeigten überwiegend Zahnarbeiten, teils waren sie mit Verblendkronen versorgt. Behandlungsbedürftige Zahnpathologien, wie kariöse Läsionen oder entzündliche Veränderungen der Zahnfächer, fanden sich nicht. Es waren Abrasionsgrade von bis zu 2 nach Gustafson [7] erreicht worden.
An den Symphysenflächen (Abb. 2) war das charakteristische horizontale Wellenmuster gerade noch vorhanden. Der Rand war allseits leicht betont, ventral deutlich zu tasten. Nach Suchey-Brooks [3] wurde der Befund als Grad IV eingestuft.
Der Corpus-Collum-Winkel des Femurs (Abb. 5) betrug beidseits 135º [1]. Hinweise auf Pathologien des Hüftgelenks ergaben sich nicht.
Das Acetabulum wurde nach Calce [4] in die Altersstufe 2 (40 bis 64 Jahre) eingeteilt.
Die Gelenke wiesen insgesamt keine degenerativen Veränderungen auf. An der Schultergelenkpfanne waren einzelne knöcherne Randanbauten. Die Lendenwirbelkörper wirkten dezent höhengemindert und zeigten kleinere knöcherne Randzacken.
Bei der Altersschätzung sprachen der Zahnstatus und die Schädelnähte von endokranial für ein höheres Lebensalter. Dagegen wiesen der Corpus-Collum-Winkel und die Schädelnähte von ektokranial eher auf ein jüngeres Erwachsenenalter hin. Die Symphysenflächen, das Acetabulum und der Status von Gelenken und Wirbelsäule waren mit einem mittleren Erwachsenenalter vereinbar. So erfolgte eine Einordnung in die Maturitas (41 bis 60 Jahre).
In dem unterhalb des Leichnams befindlichen Material waren Reste unterschiedlich gut erhaltener Kleidungsstücke zu differenzieren. Am besten erhalten war eine schwarze Damenunterhose. Diese wies im Schrittbereich weißgraue, feinbröckelige Antragungen auf. Weiterhin waren eine Jeanshose, eine Winterjacke und ein linker Sportschuh, Größe 41, erkennbar. Im Kragenbereich der Jacke befand sich ein aufgebügeltes Wäscheschild, wie es beispielsweise in Heimen verwendet wird, mit einem nicht vollständig lesbaren Namen.
Für die weiteren Ermittlungen hatten sich neben dem biologischen Profil (weiblich, etwa 40 bis 60 Jahre alt, ca. 165 cm groß) somit für einen heuristischen Ansatz ergänzende Befunde ergeben: Der Zahnstatus mit fortgeschrittenen intravitalen Verlusten wies im Vergleich zu dem geschätzten mittleren Erwachsenenalter auf besondere Lebensumstände hin. Allerdings waren keine behandlungsbedürftigen Zahnbefunde vorhanden, wie man sie oftmals bei Obdachlosen oder Drogenabhängigen findet. Das sprach gegen einen längeren Zeitraum ohne festen Wohnsitz. In diesem Zusammenhang deutete das Wäscheschild auf eine Heimbewohnerin hin – unter der Annahme, dass dieses in dem Material unter dem Leichnam aufgefundene Wäschestück von der Verstorbenen stammte. Aufgrund der Altersschätzung war ein Altenwohnheim nicht naheliegend, sondern eher z. B. ein Heim für Erwachsene mit Behinderung o. Ä.

Weitere Ermittlungen

Bei den Recherchen kamen die Kriminalbeamten auf eine damals 49-Jährige, die im September vor 4 Jahren von einem Pflegeheim für chronisch psychiatrisch Erkrankte als vermisst gemeldet worden war. Dieses Pflegeheim befand sich in etwa 30 km Entfernung von dem Auffindeort des Leichnams. Es war damals in der Vermisstensache anhand einer Zahnbürste ein „Short Tandem Repeats“(STR)-Vergleichsprofil erstellt worden. Die Krankenvorgeschichte ergab keine Anhaltspunkte für eine mögliche Suizidalität.
Die auf dem Wäscheschild an der Jacke noch zu entziffernden Buchstaben waren mit dem Nachnamen der Person in Übereinstimmung zu bringen. Die bei der Vermisstenanzeige beschriebene Kleidung passte in Bezug auf die Jacke, die Jeans und den Sportschuh. Demnach bestand die Möglichkeit, dass alle sichergestellten Kleidungsreste von der Person stammten.
Ein möglicher Bezug der Frau zu dem Haus bzw. einem aktuellen oder früheren Bewohner des Hauses wurde nicht ermittelt.

Ergänzende Untersuchungen zur Obduktion

Die forensische DNA-Analyse ergab anhand aus einer Probe aus dem linken Femur extrahierter DNA eine vollständige Übereinstimmung des STR-Profils mit dem der vermissten Person. Dieses Muster kommt rein rechnerisch bei einem von 30 Mrd. unverwandten Menschen einmal vor. Es bestand somit kein begründeter Zweifel an der Identität.
Darüber hinaus wurden die Antragungen im Schrittbereich der Unterhose untersucht: Der prostataspezifisches-Antigen(PSA)-Vortest verlief negativ. Mikroskopisch waren keine Spermien nachweisbar. Die STR-Analyse ergab ein Teilprofil, dessen Allele sämtlich in dem antemortalen Vergleichsprofil bzw. dem Profil des Leichnams wiederzufinden waren. Y‑chromosomale STR-Systeme wurden nicht erfolgreich amplifiziert.
Mumifiziertes Gewebe aus dem Bereich des Oberarms und des Oberschenkels sowie einige Mottenlarven wurden forensisch-toxikologisch untersucht. An den beiden Gewebeproben war ein Ibuprofenmetabolit nachzuweisen, an der Probe aus der Oberschenkelregion zusätzlich Koffein. Weitere Fremdsubstanzen fanden sich nicht. An den Insektenlarven verliefen die Untersuchungen negativ.

Diskussion

In dem vorgestellten Fall eines unbekannten, nahezu vollständig skelettierten Leichnams ergab der Auffindeort keinen verwertbaren Hinweis auf die Identität. Das von dem Mieter wohl nicht benutzte Kellerabteil war aufgrund einer defekten Haustür sowie des konsequenten Nicht-Verschließens der Kellertür und des Kellerabteils für Personen ohne Bezug zu dem Mehrfamilienhaus frei zugänglich. Zu berücksichtigen ist hierbei, dass der ehemalige Mieter oder der Hausmeister gegenüber der Polizei unwahre Angaben hätte machen können; aus den Ermittlungen ergab sich dafür jedoch kein Anhalt.
Die forensisch-osteologischen Untersuchungen und das dabei erstellte sog. biologische Profil sowie speziell die besonderen Probleme bei der Altersschätzung führten die Ermittlungsbehörden sehr schnell auf den richtigen Weg. Die scheinbaren Widersprüche bei den untersuchten Altersmerkmalen hätte man als unlösbares Problem werten können. Stattdessen wurde bei der Bewertung das anhand des Zahnstatus und der endokranialen Schädelnähte anzunehmende höhere Lebensalter sozusagen egalisiert durch den großen Corpus-Collum-Winkel und die ektokranialen Schädelnähte, und die übrigen Paramater waren mit einem mittleren Erwachsenenalter zu vereinbaren. Damit war die letztlich sehr gut zutreffende Schätzung 40 bis 60 Jahre begründbar. Aus dem von der Altersschätzung abweichenden, ein falsch zu hohes Alter vermuten lassenden Zahnstatus waren aber bei saniertem Gebiss noch weitere Informationen ableitbar. Die (zahn-)medizinische Versorgung muss bis kurz vor dem Tod gewährleistet gewesen sein. Demzufolge kamen bestimmte Milieus bei den Ermittlungen zunächst eher nicht in Betracht, und man konnte sich auf vermisste Heimbewohner konzentrieren. Dazu passte ebenfalls das Wäscheschild der Jacke.
Die Zeit von der Vermisstenanzeige durch das Heim, etwa vier Jahre vor dem Auffinden, passte gut zusammen mit den Angaben des Hausmeisters, einer Hausbewohnerin und des ehemaligen Mieters, die kurz danach den auffälligen Geruch sowie die vermehrten Fliegen wahrgenommen hatten. Im Einklang mit dem Zustand des Leichnams kann ein Todeszeitpunkt relativ kurz nach der Vermisstenmeldung angenommen werden.
Der Erhaltungszustand des Leichnams dürfte Seltenheitswert haben. Es handelte sich nach dem ersten laienhaften Eindruck des Hausmeisters um ein „Skelett“. Dabei ist anzumerken, dass Skelette in Kriminalfilmen häufig auf eine derartige Weise dargestellt werden. In der Realität wird ein menschliches Skelett hingegen zumeist in Form unzusammenhängender Knochen aufgefunden, die in der Erde allenfalls in einer sog. In-situ-Situation geborgen werden. Die Besonderheit im vorliegenden Fall war die weitgehende Skelettierung bei gleichzeitigem nahezu noch komplettem Zusammenhalt aller Knochen und sogar intaktem Aufbau des Brustkorbs. Hierbei dürfte die Besiedlung mit Ratten eine wichtige Rolle gespielt haben: Ratten bauen regelechte Nester in Brustkorb und Bauchhöhe und fressen die inneren Organe auf, was zu einem vorzeitigen Feuchtigkeitsverlust führt. Gleichzeitig sind durch ihre Exkremente konservierende Eigenschaften gegenüber Fäulnis, Autolyse und Insektenfraß zu postulieren.
Die Identitätssicherung gelang mittels forensischer DNA-Analyse im Vergleich mit dem an einer Zahnbürste gewonnenen antemortalen Vergleichsprofil. Das in der Unterhose nachgewiesene unvollständige STR-Profil passte in den nachgewiesenen Allelen zu der Verstorbenen; es ergaben sich keine Hinweise auf eine weitere Person, insbesondere keine männliche. Damit waren hinsichtlich eines möglichen Sexualdelikts keine weiteren Verdachtsmomente abzuleiten.
Die forensisch-toxikologischen Analysen ergaben Ibuprofen und Koffein. Morphologisch war keine Todesursache festzustellen. Knöcherne Verletzungen fanden sich weder im postmortalen CT noch bei der Obduktion. Allerdings fehlten Zungenbein und Kehlkopfgerüst.
In Anbetracht, dass es sich bei der unter dem Leichnam gesicherten Kleidung am ehesten um die der Frau handelte, und am Leichnam keine Bekleidungsreste zu sehen waren, könnte vermutet werden, dass die Frau zum Zeitpunkt des Todeseintritts unbekleidet war. Dies lässt an ein sog. paradoxes Entkleiden in Rahmen eines Kältetodes denken [6, 16].
Warum sich die Frau genau diesen Ort als möglichen Unterschlupf ausgewählt hat und dort verstarb, bleibt ungeklärt. Möglicherweise war es eine Verkettung von Zufällen, die durch die offenen Türen des Mehrparteienhauses begünstigt wurde. Hinweise auf einen Suizid hatten sich weder aus der Vorgeschichte oder dem Auffindeort noch aus den morphologischen oder forensisch-toxikologischen Untersuchungen ergeben. Eine Tötung, beispielsweise durch Gewalt gegen den Hals, war letztlich nicht ausschließbar. Im Zusammenhang mit einem möglichen Kältetod würde die Auffindesituation zu dem von Rothschild und Schneider 1995 beschriebenen Phänomen des „terminalen Höhlenverhaltens“ [16] passen.

Fazit für die Praxis

  • Forensisch-osteologische Untersuchungen und insbesondere die Erstellung eines sog. biologischen Profils sind essenziell bei der rechtsmedizinischen Untersuchung stark verwester, unbekannter Leichen.
  • Diskrepanzen und scheinbare Widersprüche der Parameter untereinander bei der Altersschätzung am Skelett können zusätzliche Informationen zur Identität liefern.
  • Besondere Umgebungsbedingungen und Zugänglichkeit verschiedener Tierspezies können zu außergewöhnlichen Leichenerscheinungen führen.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

M. A. Verhoff, M. F. Klinger, M. Kettner und C. G. Birngruber geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien. Die Untersuchungen erfolgten unter Einhaltung der Vorgaben der Zentralen Ethikkommission der Bundesärztekammer.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
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Metadaten
Titel
„Skelettfund“ im Keller
verfasst von
Prof. Dr. med. M. A. Verhoff
M. F. Klinger
M. Kettner
C. G. Birngruber
Publikationsdatum
31.03.2021
Verlag
Springer Medizin
Erschienen in
Rechtsmedizin / Ausgabe 1/2022
Print ISSN: 0937-9819
Elektronische ISSN: 1434-5196
DOI
https://doi.org/10.1007/s00194-021-00474-9

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