Theoretische Überlegungen und empirische Befunde legen einen Zusammenhang zwischen (sicherer) Bindung und (guter) Körpergesundheit nahe. Eine unsichere Bindung beeinträchtigt bekanntermaßen die körperliche Gesundheit über verschiedene Mechanismen. Bislang fehlten jedoch Untersuchungen, die Assoziationen zwischen desorganisierter Bindung und körperlichen Krankheiten sowie der somatischen Krankheitslast insgesamt in repräsentativen Allgemeinbevölkerungsstichproben beleuchten und klären, ob der „psychotherapeutische Blick“ insbesondere bei dieser Patientenklientel das körperliche Befinden stärker einbeziehen sollte.
Hintergrund
Die klinische Bindungsforschung zeigt, dass eine desorganisierte Bindung sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen ein potenter Risikofaktor für ungünstige Entwicklungsverläufe und psychopathologische Störungen ist (Lyons-Ruth und Jacobovitz
2016; Buchheim
2017). Desorganisiertes Bindungsverhalten im Kindesalter entsteht, wenn das Bindungs- und das Furchtsystem wiederholt zeitgleich aktiviert werden, z. B. wenn die Interaktion mit der frühen Bezugsperson angstauslösend war (wie bei misshandelnden oder dissoziierenden Eltern). Die frühe Bindungsfigur stellt gleichzeitig die Ursache, aber auch die potenzielle Beruhigung für den kindlichen Stress dar, sodass es zu einem „Schrecken ohne Lösung“ kommt (Hesse und Main
2000). Im Fremde-Situations-Test (FST, Ainsworth et al.
1978) wurde desorganisiertes Bindungsverhalten bei Kindern erstmalig betrachtet und äußerte sich in Form von gleichzeitiger Annäherung an die Bezugsperson und Fluchtverhalten, Erstarren der Bewegungen („Einfrieren“) sowie durch dissoziative Phänomene (Main und Solomon
1990).
Als Äquivalent zum kindlichen desorganisierten Bindungsverhalten wurde im Erwachsenenalter der unverarbeitete Bindungsstatus beschrieben (Lyons-Ruth und Jacobovitz
2016). Dieser ist durch die fehlende Integration von traumatischen Erfahrungen, insbesondere mit frühen Bezugspersonen, charakterisiert (Hesse und Main
2000) und wird durch sprachliche Auffälligkeiten in bindungsbezogenen Narrativen im Adult Attachment Interview (AAI; George et al.
1984) oder Adult Attachment Projective (AAP; George und West
2001) erfasst. Das Konzept der desorganisierten Bindung ist für das Verständnis von komplexen psychischen Störungen hoch relevant (Lyons-Ruth und Jacobovitz
2016; Buchheim
2017) und stellt im Vergleich mit den Dimensionen der „organisierten“ unsicheren Bindung in verschiedenen Metaanalysen den größeren Risikofaktor für psychopathologische Störungen dar (Bakermans-Kranenburg und van Ijzendoorn
2009; Fearon et al.
2010; Cassidy und Mohr
2001). Seine Bedeutung für die körperliche Gesundheit ist dagegen bislang unzureichend untersucht. Sowohl theoretische Überlegungen als auch empirische Befunde legen einen Zusammenhang zwischen (sicherer) Bindung und (guter) Körpergesundheit nahe (Göbel et al.
2022). Eine unsichere Bindung beeinflusst über folgende Mechanismen die körperliche Gesundheit (Maunder und Hunter
2001):
-
Unsicher gebundene Menschen nehmen Stress nicht nur intensiver wahr (Meredith und Strong
2019), sondern haben auch physiologisch bedingte Schwierigkeiten mit der Stressregulation (Engel und Gunnar
2020).
-
Unsicher gebundene Menschen greifen eher auf externe Affektregulationsstrategien zurück, wie z. B. dysfunktionales Essverhalten oder Substanzmittelkonsum (Pietromonaco und Beck
2019).
-
Bindungsunsicherheit wirkt sich nachteilig darauf aus, wie Betroffene professionelle Hilfe suchen und Adhärenz gegenüber Therapieempfehlungen zeigen (Meredith und Strong
2019; Maunder und Hunter
2001).
Neue Untersuchungen fokussieren zunehmend mögliche zugrunde liegende Mechanismen der Zusammenhänge von Bindung und körperlicher Gesundheit, wobei dem Immunsystem eine wichtige Rolle zukommt (Ehrlich
2019). (Unsichere) Bindung ist direkt mit chronischen Entzündungsprozessen assoziiert (Ehrlich et al.
2019) und stellt des Weiteren mutmaßlich einen moderierenden Faktor zwischen frühen Stresserfahrungen und dem Risiko für spätere körperliche Erkrankungen dar (Dagan et al.
2018; Farrell et al.
2019).
Wenn Bindungsdesorganisation einen potenteren Risikofaktor für psychopathologische Störungen darstellt als „organisierte“ Bindungsunsicherheit (Lyons-Ruth und Jacobovitz
2016; Buchheim
2017; Bakermans-Kranenburg und van Ijzendoorn
2009), kann dies auch für die Körpergesundheit angenommen werden. Tatsächlich finden sich Hinweise darauf, dass ein unverarbeiteter Bindungsstatus im Erwachsenenalter mit dem metabolischen Syndrom (Davis et al.
2014) und chronischen Schmerzen (Neumann et al.
2011; Ratnamohan und Kozlowska
2017) assoziiert ist.
Es fehlen jedoch Untersuchungen, die in größeren repräsentativen Allgemeinbevölkerungsstichproben die Assoziationen zwischen desorganisierter Bindung und einer Vielzahl körperlicher Krankheiten sowie der somatischen Krankheitslast insgesamt beleuchten. Dieser Umstand könnte u. a. mit dem hohen zeitlichen und personellen Aufwand für die Erhebung und Auswertung von AAI bzw. AAP zusammenhängen (Ravitz et al.
2010). In der vorliegenden Studie wurden daher 2 Selbstbeurteilungsinstrumente, die kürzlich im angloamerikanischen Raum zur Erfassung möglicher Merkmale desorganisierter Bindung im Erwachsenenalter entwickelt wurden, eingesetzt. Die Disorganized Response Scale (DRS) aus der Arbeitsgruppe von Briere (
2019) orientiert sich konzeptuell an der Erhebung des unverarbeiteten Bindungsstatus im AAI. Jedoch ermittelt die DRS sprachliche Auffälligkeiten, die bei Beschreibungen von Kindheitserlebnissen auftreten, mithilfe der Selbstbeurteilung (beispielsweise Item 7: „Wenn ich über meine Kindheit spreche, geraten meine Worte durcheinander.“). Die Adult Disorganized Attachment Scale (ADA) aus der Arbeitsgruppe von Paetzold (
2015) hingegen steht in der sozialpsychologischen Tradition der Bindungsdiagnostik, die davon ausgeht, dass sich frühe Beziehungserfahrungen in den Liebesbeziehungen Erwachsener niederschlagen (Hazan und Shaver
1987). Die Autoren nehmen an, dass Erwachsene mit Merkmalen einer desorganisierten Bindung (äquivalent zum kindlichen desorganisierten Bindungsverhalten im FST) gegenüber ihren Liebespartnern gleichzeitig sowohl Furcht vor als auch Wünsche nach Nähe erleben, resultierend aus zugrunde liegenden inkohärenten inneren Arbeitsmodellen des Selbst und des Anderen (beispielsweise Item 3: „In einer Liebesbeziehung weiß ich nie, wer ich bin.“). Untersuchungen zur ADA zeigen, dass die Skala sowohl Überschneidungen mit Bindungsangst und Bindungsvermeidung aufweist als auch über eine Kombination beider Skalen (entsprechend der „fearful avoidance“; Bartholomew und Horowitz
1991) hinausgeht.
Sowohl ADA als auch DRS könnten aufgrund der ökonomischen Anwendbarkeit vielversprechende Ansätze sein und weisen in den Originalversionen und auch in der jeweiligen deutschen Übersetzung gute psychometrische Kennwerte auf (Flemming et al. in Revision, eingereicht zur Veröffentlichung in PPmP). Jedoch stehen Studien zur konvergenten Validität mit der Fremdbeurteilung im AAI bislang aus. Für die Repäsentationen der organisierten Bindung im AAI konnte in der Literatur nur eine geringe Übereinstimmung mit dimensionalen Selbstbeurteilungsinstrumenten gezeigt werden (z. B. Experiences in Close Relationships – revidierte deutsche Fassung ECR-RD; Strauss et al.
2022). Darüber hinaus erfassen die beiden Skalen ADA und DRS aufgrund ihrer unterschiedlichen konzeptuellen Hintergründe mutmaßlich verschiedene Facetten von Bindung. In der vorliegenden Studie werden beide Instrumente vergleichend eingesetzt, wobei die Ergebnisse unter Berücksichtigung der bislang unklaren konvergenten Validität als vorläufig zu betrachten sind.
Methodik
Studiendesign und Stichprobe
Es wurden Daten an einer Stichprobe von 1101 Personen erhoben. Die Rekrutierung der Teilnehmenden und die onlinebasierte Datenerhebung wurden durch das Marktforschungsunternehmen bilendi & respondi im Mai 2022 durchgeführt. Die Steuerung der Rekrutierung erfolgte hinsichtlich der Merkmale Geschlecht, Alter, Einkommen und Bundesland nach Quoten, die repräsentativ für die deutsche Allgemeinbevölkerung waren. Es handelt sich um eine Querschnittstudie. Neben den üblichen demografischen Kennwerten wurden sowohl Körpergewicht und -größe zur Ermittlung des Body-Mass-Index (BMI) als auch der Nikotinkonsum der Teilnehmenden erfasst. Es wurden Personen ab einem Alter von 18 Jahren , die über ausreichende deutsche Sprachkenntnisse verfügten, in die Studie eingeschlossen. Die Studie wurde von der Ethikkommission an der Medizinischen Fakultät der Universität Rostock genehmigt (Registriernummer A 2021-0268).
Instrumente
Adult Disorganized Attachment Scale
Die ADA (Paetzold et al.
2015) ist ein Selbstbeurteilungsinstrument zur Erfassung desorganisierter Bindungsstrategien in Liebesbeziehungen und umfasst 9 Items, die auf einer Skala von 1 (starke Ablehnung) bis 7 (starke Zustimmung) eingeschätzt und anschließend gemittelt werden. Höhere Werte entsprechen einer stärkeren Ausprägung desorganisierter Bindung. Die Autoren des vorliegenden Beitrags erstellten eine deutsche Übersetzung der englischsprachigen Originalversion, angelehnt an die Richtlinien für Fragebogenübersetzungen der Food and Drug Administration (Acquadro et al.
2008). Die Übersetzung wurde von der Originalautorin der Skala autorisiert. Die interne Konsistenz der Skala in der vorliegenden Stichprobe war sehr hoch (McDonalds ω = 0,91).
Disorganized Response Scale
Die DRS (Briere et al.
2019) ermittelt selbstbeurteilte desorganisierte Kindheitsbeschreibungen. Die Befragten schätzen mithilfe von 15 Items auf einer Skala von 1 (trifft nicht zu) bis 5 (trifft völlig zu) ein, welche sprachlichen oder gedanklichen Schwierigkeiten auftreten, wenn sie mit anderen über ihre Kindheit sprechen. Der Gesamtsummenwert ist ein Maß für die Ausprägung desorganisierter Kindheitsbeschreibungen. Auch für diese Skala wurde von der eigenen Arbeitsgruppe entsprechend dem oben geschilderten Vorgehen eine deutschsprachige Übersetzung erstellt, die vom Autor der Originalversion genehmigt wurde. Die interne Konsistenz der Skala in der vorliegenden Stichprobe war mit ω = 0,96 sehr hoch.
Experiences in Close Relationships – revidierte deutsche Fassung
Der ECR-RD erhebt qua Selbstbeurteilung die partnerschaftsbezogenen Bindungsdimensionen Angst und Vermeidung (Ehrenthal et al.
2009), basierend auf dem empirisch umfangreich abgesicherten zweidimensionalen Modell von Bindung im Erwachsenenalter. Die Befragten schätzen ihr Erleben in Partnerschaften anhand von 36 Items auf einer Skala von 1 (starke Ablehnung) bis 7 (starke Zustimmung) ein. Anhand der Mittelwerte von jeweils 18 Items werden die beiden Skalen
bindungsbezogene Angst (
BANG) und
bindungsbezogene Vermeidung (
BVER) gebildet. Höhere Werte entsprechen einer höheren Ausprägung der jeweiligen Dimension. In der vorliegenden Stichprobe betrug die interne Konsistenz beider Skalen (McDonalds ω) 0,93.
Work Ability Index
Der Work Ability Index (WAI) stellt einen Index zur Selbstbeurteilung der Arbeitsfähigkeit dar (Hasselhorn et al.
2005). Der WAI ist umfassend psychometrisch evaluiert worden; allerdings deuten aktuelle Untersuchungen eher auf eine zweifaktorielle Struktur hin (subjektive Einschätzung der Arbeitsfähigkeit vs. objektiver Gesundheitsstatus; Freyer et al.
2019). In der vorliegenden Untersuchung wurde ausschließlich die Sektion 3 der validierten Kurzform des WAI (Friedli et al.
2018) in die Analysen einbezogen, wobei ärztlich diagnostizierte Erkrankungen erfasst werden, die zu folgenden Gruppen zusammengefasst sind: Unfallverletzungen, Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Atemwegserkrankungen, neurologische Erkrankungen, Erkrankungen des Verdauungssystems, im Urogenitaltrakt, Hautkrankheiten, Tumoren/Krebs, Hormon‑/Stoffwechselerkrankungen sowie Krankheiten des Blutes. Die Zahl der angegebenen Erkrankungen kann als Indikator für die Gesamtmorbidität genutzt werden (Hasselhorn et al.
2005).
Alcohol Use Disorders Identification Test
Dieses Screeningverfahren für alkoholbezogene Störungen erlaubt die Erkennung eines problematischen Alkoholkonsums (Dybek et al.
2006). Das Instrument zeigte in einer großen Stichprobe aus der allgemeinärztlichen Versorgung eine hohe Reliabilität (Intraklassen-Korrelationskoeffizient des Gesamtwerts = 0,95) und Validität (Dybek et al.
2006). Der Summenwert über die 10 Items erlaubt eine Kategorisierung in unproblematisches vs. riskantes bzw. kritisches Trinkverhalten. Die Cut-off-Werte betragen 5 (für Männer) bzw. 4 (für Frauen).
Statistische Analysen
Neben deskriptiven Kennwerten wurden die bivariaten Korrelationen der beiden Skalen ADA und DRS mit den demografischen Merkmalen, dem Vorliegen der einzelnen ärztlich diagnostizierten Erkrankungen, der Gesamtmorbidität (d. h. der Zahl ärztlich diagnostizierter Erkrankungen), den Risikofaktoren BMI, Rauchen und riskanter Alkoholkonsum (Alkohol) bestimmt. Die Variable Rauchen wurde dichotomisiert (ja: aktuell oder früher geraucht vs. nein: niemals), ebenso wie die Variable Alkohol (ja/nein). Es bestanden jeweils signifikante Zusammenhänge (Zusatzmaterial online: Tab. S1), weshalb die Risikofaktoren Alter, Geschlecht, Familienstand, Schulbildung, BMI, Rauchen und Alkohol in alle folgenden Analysen als Kontrollvariablen eingeschlossen wurden. Es wurden zunächst logistische Regressionen mit der jeweiligen körperlichen Erkrankung als abhängige Variable und ADA resp. DRS als Prädiktor gerechnet. Berichtet werden die „odds ratios“ (OR), die 95 %-Konfidenzintervalle (95 %-KI) und der jeweilige p-Wert; das Signifikanzniveau wurde nach Bonferroni adjustiert. Als Nächstes wurde der inkrementelle Zusammenhang von desorganisierter Bindung mit der Gesamtmorbidität unter Berücksichtigung der Dimensionen der „organisierten“ Bindung bestimmt. Dazu wurden lineare Regressionsmodelle berechnet, in die die Zahl ärztlich diagnostizierter Erkrankungen als abhängige Variable und die ADA bzw. DRS sowie die Skalen des ECR-RD als Prädiktoren eingingen. Multikollinearität konnte ausgeschlossen werden, da der „variance inflation factor“ (VIF) nicht höher als 2 war. Es werden jeweils das adjustierte R2, die standardisierten Koeffizienten β mit Standardfehler SE und den dazugehörigen p-Werten berichtet. Die statistischen Auswertungen erfolgten mit der Software IBM SPSS Statistics 27.
Ergebnisse
Der Altersdurchschnitt der Stichprobe (Mittelwert) betrug 46,4 Jahre (SD ± 15,24 Jahre), und von den 1101 Teilnehmenden waren 49,8 % Frauen. Etwas über die Hälfte der Personen waren Raucher, und etwa ein Viertel der Stichprobe gab einen riskanten Alkoholkonsum an. Der durchschnittliche BMI der Teilnehmenden betrug 26,9 kg/m
2 (SD ± 6,28 kg/m
2) und war damit dem Bereich des Übergewichts zuzuordnen (Tab.
1).
Tab. 1
Demografische und klinische Charakteristika der Stichprobe (n = 1101)
Alter in Jahren, M ± SD (Range) | 46,43 ± 15,24 (18–74) |
Geschlecht, n (%) |
Weiblich | 548 (49,8) |
Männlich | 551 (50,0) |
Divers | 2 (0,2) |
Familienstand, n (%) |
Ledig, ohne Partner | 268 (24,3) |
Ledig, mit Partner | 222 (20,2) |
Verheiratet/eingetragene Lebenspartnerschaft | 500 (45,4) |
Geschieden/getrennt/verwitwet | 111 (10,1) |
Schulbildung, n (%) |
(Fach‑)Abitur | 618 (56,1) |
Realschule | 361 (32,8) |
Hauptschule | 114 (10,4) |
Sonstiges (kein Abschluss, Sonderschule) | 8 (0,8) |
Raucher (aktuell und/oder früher), n (%) | 595 (54,0) |
Riskanter Alkoholkonsum (AUDIT) , n (%) | 269 (24,4) |
Body-Mass-Index (BMI [kg/m2]), M ± SD (Range) | 26,90 ± 6,28 (13,65–63,71) |
Adult Disorganized Attachment, M ± SD (Range) | 2,20 ± 1,23 (1–7) |
Disorganized Response Scale, M ± SD (Range) | 22,32 ± 11,05 (15–75) |
ECR-RD, Bindungsangst, M ± SD (Range) | 2,72 ± 1,25 (1–7) |
ECR-RD, Bindungsvermeidung, M ± SD (Range) | 2,74 ± 1,27 (1–6,33) |
Aus Tab.
2 geht hervor, dass Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems im WAI mit 36,7 % als die häufigste ärztliche Diagnose genannt wurden, als seltenste Erkrankung wurden Krankheiten des Blutes mit 4,2 % angegeben.
Tab. 2
Häufigkeiten der ärztlich diagnostizierten Erkrankungen und ihre Assoziationen mit selbstbeurteilter desorganisierter Bindung in der Partnerschaft (ADA) bzw. mit desorganisierten Kindheitsbeschreibungen (DRS)
Unfallverletzungen | 191 | 17,3 | 0,96 | 0,557 | 0,84–1,10 | 1,01 | 0,214 | 1,00–1,02 |
Muskel-Skelett-System | 404 | 36,7 | 1,12 | 0,054 | 0,10–1,25 | 1,00 | 0,739 | 0,99–1,02 |
Herz-Kreislauf-System | 312 | 28,3 | 1,07 | 0,328 | 0,93–1,23 | 1,00 | 0,800 | 0,99–1,02 |
Atemwege | 196 | 17,8 | 1,18 | 0,013 | 1,04–1,35 | 1,03 | <0,001* | 1,02–1,04 |
Neurologisches System | 212 | 19,3 | 1,38 | <0,001* | 1,22–1,57 | 1,03 | <0,001* | 1,02–1,05 |
Verdauungssystem | 131 | 11,9 | 1,20 | 0,016 | 1,03–1,40 | 1,02 | 0,013 | 1,00–1,04 |
Urogenitaltrakt | 127 | 11,5 | 1,25 | 0,005 | 1,07–1,46 | 1,03 | 0,002* | 1,01–1,04 |
Haut | 194 | 17,6 | 1,10 | 0,146 | 0,97–1,25 | 1,01 | 0,143 | 1,00–1,02 |
Tumoren/Krebs | 60 | 5,4 | 1,34 | 0,005 | 1,10–1,65 | 1,03 | 0,011 | 1,01–1,05 |
Hormon‑/Stoffwechsel | 251 | 22,8 | 1,22 | 0,002* | 1,07–1,39 | 1,02 | 0,003 | 1,01–1,04 |
Blut | 46 | 4,2 | 1,34 | 0,008 | 1,08–1,66 | 1,04 | <0,001* | 1,02–1,06 |
Die beiden Instrumente zur Erfassung von desorganisierter Bindung unterschieden sich teilweise in ihren Zusammenhängen mit den einzelnen Erkrankungen (Tab.
2): Desorganisierte Bindung in der Partnerbeziehung war mit Erkrankungen des neurologischen Systems und Hormon- bzw. Stoffwechselerkrankungen assoziiert. Desorganisierte Kindheitsbeschreibungen zeigten deskriptiv kleinere Zusammenhänge mit den einzelnen Erkrankungen, wobei signifikante Assoziationen mit Atemwegserkrankungen, neurologischen Erkrankungen, Erkrankungen des Urogenitaltrakts und Bluterkrankungen bestanden.
Eine höhere Krankheitslast (operationalisiert über die Zahl der im WAI genannten Erkrankungen) ging sowohl mit desorganisierter Bindung in der Partnerbeziehung (
β = 0,10;
p = 0,012) als auch mit desorganisierten Kindheitsbeschreibungen (
β = 0,12;
p < 0,001) einher. Auch unter Berücksichtigung der organisierten Bindungsdimensionen Angst und Vermeidung erklärte desorganisierte Bindung zusätzlich einen signifikanten Varianzanteil der Krankheitslast (Tab.
3).
Tab. 3
Zusammenhänge der Gesamtmorbidität mit desorganisierter Bindung in der Partnerschaft (ADA) bzw. mit desorganisierten Kindheitsbeschreibungen (DRS), jeweils unter Berücksichtigung von Bindungsangst und Bindungsvermeidung
Modell 1; R2 = 0,190 |
ADA | 0,10 | 0,04 | 0,012 |
ECR-RD, BANG | 0,13 | 0,04 | <0,001 |
ECR-RD, BVER | −0,02 | 0,03 | 0,625 |
Modell 2; R2 = 0,195 |
DRS | 0,12 | 0,03 | <0,001 |
ECR-RD BANG | 0,13 | 0,03 | <0,001 |
ECR-RD BVER | 0,00 | 0,03 | 0,911 |
Diskussion
Die vorliegende Studie untersuchte erstmalig Zusammenhänge zwischen selbstbeurteilter desorganisierter Bindung und körperlicher Gesundheit bei Erwachsenen. Sowohl desorganisierte Bindung in der Partnerschaft als auch desorganisierte Kindheitsbeschreibungen waren mit einzelnen Diagnosegruppen und der körperlichen Krankheitslast assoziiert. Diese Ergebnisse bestanden unter Kontrolle der Risikofaktoren Alter, Geschlecht, Familienstand, Schulbildung, Rauchen, Alkoholkonsum und BMI. Es zeigten sich zudem inkrementelle Zusammenhänge zwischen desorganisierter Bindung und körperlicher Gesundheit über die Dimensionen der „organisierten“ Bindung, Angst und Vermeidung, hinaus.
Die vorliegenden Befunde replizieren und ergänzen Studien, die Assoziationen zwischen desorganisierten Bindungsrepräsentationen (erfasst mit dem AAI) und einem metabolischen Syndrom (Davis et al.
2014) resp. chronischen Schmerzen (Neumann et al.
2011; Ratnamohan und Kozlowska
2017) berichtet haben. Sie geben erste Hinweise darauf, dass selbstbeurteilte Bindungsdesorganisation in Liebesbeziehungen und desorganisierte Kindheitsbeschreibungen im Zusammenhang mit Erkrankungen des neurologischen Systems stehen könnten. Andere Krankheitsgruppen waren hingegen nur mit der einen oder anderen Methode zur Erfassung von desorganisierter Bindung assoziiert, sodass diese Befunde als vorläufig zu betrachten sind. Es ist hervorzuheben, dass sich in der vorliegenden Untersuchung ein Trend zu einem Zusammenhang von desorganisierter Bindung und Tumor- und Krebserkrankungen abzeichnete (dieser überschritt das Signifikanzniveau nach konservativer Korrektur nach Bonferroni knapp). In der Literatur bestehen Hinweise darauf, dass desorganisierte bzw. ungelöste Bindungsmuster mit der Schwere und Krankheitsverarbeitung von Krebserkrankungen assoziiert sind (Hinnen
2016; Ouakinin et al.
2015; Smith und George
2012). Auffällig ist zudem, dass kardiovaskuläre Erkrankungen mit keiner der beiden Selbstbeurteilungsskalen zur Erfassung desorganisierter Bindung assoziiert waren, obwohl in anderen repräsentativen Studien der Zusammenhang zwischen unsicherer Bindung und Herzerkrankungen berichtet worden war (McWilliams und Bailey
2010). Hingegen wurde dieser Zusammenhang auch in einer weiteren Studie zu Bindungsangst und Bindungsvermeidung nicht gefunden (Göbel et al.
2022).
Dass die somatische Morbidität mit Bindungsdesorganisation assoziiert ist, konnte mithilfe beider Selbstbeurteilungsinstrumente bestätigt werden. In diesem Kontext konnte auch der kürzlich publizierte Befund (Göbel et al.
2022) dahingehend repliziert werden, dass Bindungsangst mit der körperlichen Krankheitslast assoziiert ist. Bindungsvermeidung hingegen hatte in der vorliegenden Untersuchung keinen inkrementellen Effekt über das Vorliegen desorganisierter Bindung hinaus.
Trotz der großen Fallzahl und der Berücksichtigung bedeutsamer Risikofaktoren ist methodenkritisch zu bedenken, dass aufgrund des Querschnittdesigns keine Aussagen zur Kausalität der Zusammenhänge möglich sind. Ebenso müssen die möglichen zugrunde liegenden Mechanismen offen bleiben. In weitere Studien sollten daher idealerweise in einem Längsschnittdesign mögliche moderierende oder vermittelnde Variablen auf Verhaltensebene, z. B. Inanspruchnahme des Gesundheitssystems, und auf physiologischer Ebene, z. B. Biomarker für chronisch entzündliche Prozesse (Ehrlich
2019), eingeschlossen werden, um die Zusammenhänge genauer zu klären. Zudem sollte in weiteren Untersuchungen geklärt werden, ob desorganisierte Bindung entsprechend dem Modell von Maunder und Hunter (
2001) im Zusammenhang mit dem Verlauf und der Prognose von körperlichen Erkrankungen steht. Als Limitation des eingesetzten WAI ist zu erwähnen, dass die erfassten Krankheitsgruppen relativ grobe Kategorien repräsentieren; in diesen werden Erkrankungen mit sehr unterschiedlichen pathogenetischen Mechanismen zusammengefasst. Somit sollten die Ergebnisse in weiteren Studien mithilfe feinkörnigerer Methoden überprüft werden. Als weitere Limitation ist zu nennen, dass die körperlichen Erkrankungen per Selbstbeurteilung erfasst wurden; Selbstbeurteilungen können jedoch von ärztlich diagnostizierten Erkrankungen abweichen (Oemrawsingh et al.
2020). Für beide Selbstbeurteilungsskalen zur Erfassung desorganisierter Bindung liegen bislang keine Befunde zur konvergenten Validität (mit AAI oder AAP) vor, weshalb die Ergebnisse als vorläufig betrachtet werden müssen.
Jenseits dieser Methodenkritik geben die vorliegenden Ergebnisse erste Hinweise darauf, dass mithilfe von Selbstbeurteilungsinstrumenten Aspekte von desorganisierter Bindung im Erwachsenenalter, die unabhängig von Bindungsangst und -vermeidung mit der körperlichen Gesundheit im Zusammenhang stehen, erhoben werden können. Weitere Studien sind notwendig, um die konvergente Validität der Skalen ADA und DRS mit Bindungsinterviews (AAI) zu überprüfen. Für die klinische Praxis implizieren die vorgestellten Ergebnisse, dass in der Psychotherapie von bindungsdesorganisierten PatientInnen besonders auf die körperliche Gesundheit zu achten ist. Der Förderung der körperbezogenen Selbstfürsorge (z. B. bei körperlichen Beschwerden rechtzeitig einen Arzt aufzusuchen, gesundheitsfördernde Verhaltensweisen zu stärken, Adhärenz bei somatischen Therapien) kommt bei dieser PatientInnengruppe eine besondere Bedeutung zu.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Alle beschriebenen Untersuchungen am Menschen oder an menschlichem Gewebe wurden mit Zustimmung der zuständigen Ethikkommission, im Einklang mit nationalem Recht sowie gemäß der Deklaration von Helsinki von 1975 (in der aktuellen, überarbeiteten Fassung) durchgeführt. Von allen Beteiligten liegt eine Einverständniserklärung vor.
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