Kasuistik: weniger Schmerzen mit weniger Opioiden

Bei starken chronischen Schmerzen kann eine Cannabinoid-Therapie Schmerzsymptome und Spastik lindern. Gleichzeitig kann es gelingen, überlange Medikationspläne zu verschlanken und Opioide einzusparen. × Cannabinoide werden in der Regel als Add-on-Therapie bei Patienten verordnet, deren Beschwerden mit etablierten Therapieschemata nicht zufriedenstellend gelindert werden können. Doch bei welcher Indikation? Der Gesetzgeber hat die Erstattungsfähigkeit Cannabis-basierter Wirkstoffe nicht an bestimmte Indikationen gebunden. Somit liegt die Indikationsstellung, ebenso wie die Wahl des Wirkstoffs, im Ermessen des Arztes. Einen Handlungsleitfaden für den Einsatz von Cannabinoiden in der Schmerz- und Palliativversorgung bietet z.B. die derzeit in der Konsentierung befindliche Praxisleitlinie „Cannabis in der Schmerztherapie“ der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin (DGS) [1]. Die Leitlinie beschreibt mögliche Indikationen und spricht sich für den bevorzugten Einsatz definierter, titrierfähiger oraler Cannabinoide aus, wie z.B. Dronabinol. Da Dronabinol bereits seit 20 Jahren betäubungsmittelrechtlich verordnungsfähig ist, liegen zu diesem Wirkstoff die langjährigsten Erfahrungen in Deutschland vor. Kasuistiken können diese Erfahrungen aufgreifen und zusätzliche Orientierungshilfe bieten. Kasuistik: 70-jährige Patientin mit Schmerz und Spastik Die langjährige Schmerzpatientin* hatte bereits Mitte der 60er Jahre erste Rückenschmerzen, die als rechtsseitige Ischiasbeschwerden eingeordnet wurden. In den 70er und 80er Jahren folgten wegen rechtsseitiger Schmerzen, Fußheberschwäche rechts und Blasenentleerungsstörungen mehrere Wirbelsäulenoperationen, darunter drei Spondylodesen. Seit 1993 berichtete die Patientin zunehmend über Dauerschmerzen, elektrisierende Schmerzattacken und schmerzhafte Muskelverkrampfungen auch im linken Bein. Im Jahr 2000 wurde eine Myelopathie im mittleren Abschnitt des zervikalen Myelons diagnostiziert, die sich operativ nicht korrigieren ließ. Im Verlauf ihrer Erkrankung erhielt die Patientin medikamentöse Schmerztherapien mit unterschiedlichen Opioiden, darunter Buprenorphin, Levomethadon, Hydromorphon, Oxycodon und Tramadol. Die Opioide mussten wegen ungenügender Wirksamkeit oder unerwünschter Wirkungen wieder abgesetzt werden. Seit 2002 wurde wegen der ausstrahlenden Schmerzsymptomatik in erster Linie transdermales Fentanyl in einer Dosis von zuletzt 100 µ/h eingesetzt, zusätzlich alle zwei Tage 20 mg nicht retardiertes Morphin. Um bestehende Spastiksymptome zu adressieren, wurden Muskelrelaxanzien eingesetzt, u.a. Baclofen intrathekal. Antikonvulsiva und Antidepressiva waren regelmäßige Begleittherapeutika. Mit dem Ziel, die trotz Opioidtherapie anhaltenden Symptome zu lindern und die medikamentöse Therapie zu deeskalieren, wurde im August 2015 eine Behandlung mit öliger Dronabinol-Lösung initiiert. Beginnend mit 1 mg pro Tag und sehr langsamer Dosisanpassung über viele Wochen wurde auf eine Enddosis von 17 mg pro Tag gesteigert. Der mit einer visuellen Analogskala (Skala von 0 bis 10) erfasste Dauerschmerz konnte so von 9 auf 4 reduziert werden. Sowohl Spastik als auch einschießende Schmerzattacken verschwanden fast vollständig. Auch der Nachtschmerz wurde deutlich gelindert, was mit einer Verbesserung der Schlafqualität einherging. Die schmerzfreie Gehstrecke verlängerte sich von 50 m auf 200 m. Parallel zu diesen Fortschritten konnte die tägliche Dosis von transdermalem Fentanyl auf 75 µ/h reduziert werden, auf die ergänzende Therapie mit nicht retardiertem Morphin wird seither komplett verzichtet. Die Patientin nimmt neben Dronabinol und transdermalem Fentanyl als Begleittherapie derzeit täglich noch 3-5 mg Tizanidin, 3×600 mg Gabapentin, 1×25 mg Amitriptylin und 1×15 mg Meloxicam ein. Mit diesem Therapiekonzept fühlt sie sich gut eingestellt und kommt im Rahmen ihrer Möglichkeiten im Alltag zurecht. * Kasuistik zur Verfügung gestellt von Professor Matthias Karst, Leiter der Schmerzambulanz der Medizinischen Hochschule Hannover Haupteinsatzgebiete von Dronabinol Dronabinol hat aufgrund seiner vielfältigen Therapieeffekte ein breites Anwendungsspektrum: Chronische Schmerzen Spastik unterschiedlicher Genese Appetitmangel und Kachexie unterschiedlicher Genese Übelkeit und Erbrechen, z. B. bei Krebs Komplexe palliative Situationen Literatur DGS-Praxisleitlinie Cannabis in der Schmerztherapie (in Konsentierung), https://www.dgs-praxisleitlinien.de/index.php/leitlinien/cannabis Kasuistik: Dronabinol bei finaler Krebserkrankung Bei Krebspatienten kann eine Cannabinoid-Therapie auch dann Übelkeit und Erbrechen lindern, wenn die Symptome durch die Grunderkrankung und nicht durch eine Chemotherapie verursacht werden. Auf diese Weise kann die Lebensqualität Betroffener wesentlich verbessert werden. × Bis zu 71 Prozent der Patienten mit fortgeschrittenen Tumorerkrankungen leiden unter Übelkeit und Erbrechen [1]. Eine leitliniengetreue, antiemetische Kombinationstherapie kann nicht allen Betroffenen zufriedenstellende Linderung verschaffen. In solchen Fällen lohnt sich ein individueller Therapieversuch mit Dronabinol. Das Cannabinoid (reines Tetrahydrocannabinol, THC) ist in den USA schon seit 1985 zur Behandlung therapierefraktärer Übelkeit und Erbrechen zugelassen. In Deutschland ist der Wirkstoff seit 1998 verordnungsfähig und wird als Rezepturarzneimittel vor allem in der Schmerz- und Palliativmedizin eingesetzt. Die umfangreichen Therapie-Erfahrungen mit Dronabinol bei refraktären chronischen Schmerzen, Spastiken, Anorexie/Kachexie und komplexen Kombinationen dieser Beschwerdebilder in der Palliativsituation sind daher der Erkenntnis aus klinischen Studien weit voraus. Einige dieser Erfahrungen sind publiziert: So wurde in einer Fallsammlung aus dem Jahr 2017 der erfolgreiche Einsatz von Dronabinol bei 33 onkologischen Palliativpatienten beschrieben, die unter einer antiemetischen Standardtherapie wie Ondansetron keine ausreichende Symptomkontrolle erfuhren [2]. Kasuistik: Patientin mit Übelkeit/Erbrechen bei Peritonealkarzinose Eine gut dokumentierte Kasuistik betrifft eine 49-jährige Patientin mit metastasiertem serösen Adenokarzinom des Ovars im Stadium IV mit Peritonealkarzinose und malignem Aszites [3]. Die Patientin war neoadjuvant mit einer Kombinations-Chemotherapie aus Docetaxel und Carboplatin behandelt worden. Anschließend erfolgte eine operative Entfernung der Gebärmutter sowie von Metastasen im Bauchraum im Sinne eines Debulkings. Fünf Monate nach diesem Eingriff entwickelte die Patientin starke, therapierefraktäre Abdominalschmerzen, die letztlich zur Aufnahme in eine Hospiz- und Palliativstation führten. Dort gelang erst durch Applikation von 8 bis 16 mg Hydromorphon pro Stunde eine zufriedenstellende Schmerzkontrolle. Innerhalb von sechs Wochen stellten sich jedoch – ohne weitere emetogene Medikation – ausgeprägte Übelkeit und starkes Erbrechen ein – im Mittel zehn- bis 20-mal am Tag. Hinweise auf über die Peritonealkarzinose und Schmerztherapie hinausgehende Ursachen für die Symptome fanden sich nicht. Es wurde eine antiemetische Therapie eingeleitet mit 8 mg Ondansetron i.v. und 4 mg Dexamethason i.v. alle acht Stunden, außerdem Haloperidol 2,5 mg s.c. zweimal täglich sowie bei Bedarf. Selbst mit dieser Kombination gelang nur eine mäßige Reduktion des Erbrechens. Die Übelkeit wurde kaum gelindert – von neun bis zehn Punkten auf sieben bis zehn Punkte auf einer 10-Punkte-Skala. Den therapeutischen Durchbruch brachte erst das zusätzlich zu Ondansetron, Dexamethason und Haloperidol eingesetzte Cannabinoid Dronabinol. Der Wirkstoff wurde auf 15 mg pro Tag auftitriert und führte zu einem nahezu vollständigen Abklingen des Erbrechens und der Übelkeit auf Skalenwerte von 0 bis 1 auf der 10-Punkte-Skala. Insgesamt war die Patientin sechs Wochen lang frei von Erbrechen und litt nur an minimaler Übelkeit, bevor sie letztlich an einer enterokutanen Fistel und wahrscheinlich einem Ileus starb. In ihren letzten Lebenswochen konnte sie dank der Cannabinoid-Therapie die Palliativstation regelmäßig verlassen und ganze Tage mit der Familie verbringen. Diese Kasuistik illustriert, dass die zusätzliche Gabe von Dronabinol bei therapierefraktärer Übelkeit und Erbrechen die Lebensqualität Betroffener auch noch in der palliativen Situation entscheidend verbessern kann. Andere Fallbeispiele belegen einen therapeutischen Benefit durch das Cannabinoid gerade auch bei komplexen (palliativen) Beschwerdekombinationen. Der BtM-Rezepturwirkstoff wird bevorzugt in Form öliger Tropfen verordnet. Seit 2017 ist er auf Antrag GKV-erstattungsfähig. Wirkeigenschaften von Dronabinol Für Dronabinol sind unterschiedliche Wirkungen nachgewiesen: antiemetisch antikachektisch anxiolytisch analgetisch antiphlogistisch muskelrelaxierend sedativ Literatur 1. Fainsinger R et al., J Palliat Care 1991, 7: 5-11 2. Likar R et al., Z Palliativmed 2017, 18: 249-254 3. Hernandez SL et al., Am J Hosp Palliat Care 2015, 32: 5-7 Kasuistik: Dronabinol als Add-on bei Tumorschmerzen Cannabinoide sind bei Tumorpatienten nicht nur in der Indikation Übelkeit/Erbrechen, sondern auch bei therapieresistenten Tumorschmerzen eine zusätzliche Therapieoption. Vor allem Dauerschmerzen lassen sich gut kontrollieren, und die Lebensqualität verbessert sich deutlich. × Bei Tumorschmerzen wird die Cannabinoid-Therapie schon seit mehreren Jahren als eine oft hilfreiche Zusatztherapie genutzt. So sind Cannabinoide in der Praxisleitlinie „Tumorschmerz“ der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin (DGS) aus dem Jahr 2014 als Zusatztherapie sowohl bei Übelkeit/Erbrechen als auch bei therapieresistenten Tumorschmerzen verankert [1]. Eine Kasuistik von Dr. Marc Seibolt, Anästhesist und Schmerztherapeut am Algesiologikum MVZ München, illustriert, wie die Therapie mit Dronabinol einem schwer betroffenen Tumorschmerzpatienten effektiv helfen konnte. Kasuistik: 56-jähriger Patient mit metastasiertem Lungenkarzinom Bei einem 56-jährigen Patienten wurde 2017 ein inoperables Bronchialkarzinom diagnostiziert, das zu diesem Zeitpunkt bereits zu ebenfalls inoperablen Metastasen in Gehirn, Rippen, Pleura und Lymphknoten geführt hatte. Als Folge der Hirnmetastasen hatte sich ein Hirnödem mit Hemiparese entwickelt, das eine sofortige Kortisontherapie erforderlich machte. Auf die Kortisontherapie und auf eine anschließende Immuntherapie sprach der Patient gut an, die Metastasen gingen zurück. Es blieben allerdings als dumpf und stechend sowie ziehend beschriebene Schmerzen im Rumpfbereich, die im Tagesdurchschnitt auf der Numerischen Rating-Scale (NRS, von 0 bis 10) mit 2/10 quantifiziert wurden, mit Spitzen bis NRS 8/10. Die Schmerzen waren nachts sowie bei längerem Liegen deutlich ausgeprägter, und sie nahmen im Gesamtverlauf langsam zu. Insgesamt war die Lebensqualität deutlich beeinträchtigt, durch die Schmerzen, aber auch durch Schlafstörungen und Angst. Der Patient verlor zudem Körpergewicht. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Schmerzsymptomatik und der genannten Begleitsymptome wurde eine analgetische Kombinationstherapie mit Hydromorphon retard 2 mg zweimal täglich, nicht retardiertem Hydromorphon 1,3 mg bei Bedarf sowie Ibuprofen 400 mg und Metamizol 500 mg je fünfmal täglich initiiert. Jedoch war die Wirksamkeit dieser Behandlung insgesamt unzureichend. Nach Erhöhung der Hydromorphon-Gabe auf zweimal täglich 8 mg, Hinzunahme von Mirtazapin 15 mg zur Nacht bei leichter Dosisreduktion von Ibuprofen und Metamizol wurde die Wirksamkeit der Schmerztherapie vom Patienten als zwar besser, aber weiterhin nicht ausreichend beurteilt. Ergänzend wurde daraufhin mit der Auftitration des Cannabinoids Dronabinol begonnen. Ziel dabei war, die Schmerzen zu lindern, die Lebensqualität zu verbessern und gegebenenfalls der Gewichtsabnahme und Angstsymptomatik entgegenwirken zu können. Dronabinol wurde initial für zwei Tage mit 3 Tropfen, danach mit 6 Tropfen (0,83 mg/Tropfen) zur Nacht dosiert, gefolgt von einer Auftitrierung der Morgendosis bis zu einer Gesamtdosis von 10 mg/d. Gesteckte Therapieziele erreicht Unter dieser zusätzlichen Therapie ging insbesondere der Dauerschmerz fast vollständig zurück und wurde vom Patienten mit NRS 0/10 angegeben. Schmerzspitzen bis NRS 7/10 traten weiterhin auf, sie wurden vom Patienten aber deutlich besser toleriert. Gleichzeitig nahmen die Angst und Depressivität ab, Schlaf und Appetit besserten sich, und es kam zu einer sehr erwünschten Gewichtszunahme, sodass die gesteckten Therapieziele insgesamt mehr als erreicht wurden. Bei einer aus Neugierde vom Patienten selbst vorgenommenen, temporären Dosisreduktion von Dronabinol kam es zu einem prompten Wiederauftreten der Dauerschmerzen. Auch verschlechterten sich die Angst- und Depressionssymptome. Der Patient starb ein Jahr nach der Erstdiagnose. In den letzten Lebenswochen hatte er die Dronabinol-Dosis auf bis zu 20 Tropfen pro Tag gesteigert. Dank der Cannabinoid-Therapie konnte der Patient seine letzten Lebensmonate bei den Umständen entsprechend relativ guter Lebensqualität verbringen. Neue Praxisleitlinie zu Cannabis In der Praxisleitlinie „Cannabis in der Schmerztherapie“ der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin (DGS) werden mehrere Schmerzentitäten, u.a. Tumorschmerz, als mögliche Indikation mit Empfehlungsgrad A für die Verordnung von Cannabinoiden genannt. Die Leitlinie spricht sich für definierte, titrierfähige, orale Cannabinoide wie Dronabinol und deutlich gegen Cannabisblüten aus [2]. Literatur Horlemann J., DGS-Praxisleitlinie Tumorschmerz. 2014, https://www.dgs-praxisleitlinien.de/index.php/leitlinien/tumorschmerz Horlemann J et al., DGS-Praxisleitlinie Cannabis in der Schmerztherapie, 2018, https://www.dgs-praxisleitlinien.de/index.php/leitlinien/cannabis Antikachektische Wirkung von Dronabinol nutzen Eine Cannabinoid-Therapie kann auch zur Appetitsteigerung eingesetzt werden. Dies gilt z.B. bei Patienten mit Tumorkachexie, alters- oder demenzbedingter Kachexie und bei Kachexie anderer Ursache. × Für die Therapie mit dem Rezepturarzneimittel Dronabinol gibt es mehrere Berichte über Patientenkohorten, bei denen das Cannabinoid erfolgreich bei Kachexie unterschiedlicher Genese eingesetzt wurde. So wurde beispielsweise beim 11. Internationalen Kongress der International Psychogeriatric Association im Jahr 2003 von 48 im Mittel 77-jährigen Patienten berichtet, die an Anorexie im Rahmen einer Alzheimer-Demenz litten [1]. Klinisches Hauptproblem dieser Patienten, die alle in einem Seniorenheim lebten, war die Agitation. Aus diesem Grund hatte jeder Patient vor Beginn der Dronabinol-Therapie bereits mehr als drei verhaltensmodifizierende Medikamente erhalten, darunter immer auch atypische Neuroleptika. Mit dem Ziel, die Agitation zu mindern und die Kachexie zu bessern, wurde bei den Patienten eine Behandlung mit Dronabinol begonnen. Die initiale Dosis betrug 5 mg pro Tag, verteilt auf zwei Einzeldosen. Je nach Wirksamkeit und Verträglichkeit wurde Dronabinol dann bis maximal 10 mg pro Tag aufdosiert. Deutliche Besserung der Agitation Die Behandlung führte bei allen Patienten zu einer Gewichtszunahme. Bei 31 Patienten (65 Prozent) kam es aber auch zu einer deutlichen Besserung der Agitation und bei gut jedem dritten Patienten zu einer Verbesserung im Mini Mental Status Test (MMST) um einen bis drei, im Mittel 1,6 Punkte. Bei 33 Patienten (69 Prozent) sahen die Pflegekräfte, die die Wirksamkeit per Fragebogen evaluierten, auch funktionelle Verbesserungen. 35 Prozent der Patienten zeigten dagegen keine Besserung der Agitation. Bei diesen Patienten wurde die Behandlung mit Dronabinol innerhalb von zwei Wochen wieder beendet. Die Verträglichkeit der Dronabinol-Therapie war insgesamt gut: Zu Stürzen, Synkopen, Krampfanfällen oder einer Verstärkung der Agitation oder einer bestehenden depressiven Symptomatik kam es nicht. Zunahme um im Mittel 1,5 kg Der positive Effekt von Dronabinol bei Appetitmangel geriatrischer Patienten wird von einer anderen Fallsammlung bestätigt: Insgesamt 28 im Mittel knapp 80-jährige Bewohner von fünf Pflegeheimen in der US-amerikanischen Stadt Saint Louis nahmen an der Studie teil [2]. Bei allen Patienten war es zu einem starken Gewichtsverlust (>5 Prozent in 30 Tagen oder 10 Prozent in 180 Tagen, BMI <21 kg/m2) gekommen. Dieser konnte mit Ernährungsinterventionen nicht mehr beeinflusst werden. Die Betreffenden wurden zwölf Wochen lang mit Dronabinol behandelt. Die Startdosis lag bei 2,5 mg täglich abends. Nach einer Woche wurde bei einem Teil der Patienten die Dosis auf 2× 2,5 mg mittags und abends erhöht. Die Dronabinol-Therapie führte bei 15 Patienten (53,5 Prozent) zu einer Zunahme des Körpergewichts, wobei sechs dieser Patienten mehr als 4,5 kg zunahmen. Im Mittel nahmen die Patienten etwa 1,5 kg zu. Patienten, bei denen es unter der Dronabinol-Therapie nicht zu einer Gewichtszunahme kam, hatten eine erhöhte Mortalität. Ein Nicht-Ansprechen auf Dronabinol könnte daher ein Indikator für ein erhöhtes Sterberisiko sein, so die Studienautoren [2]. COPD: Leistungsfähigkeit gesteigert Eine dritte Publikation beschreibt den Effekt einer Dronabinol-Therapie im Rahmen einer stationären Rehabilitation bei 17 kachektischen Patienten zwischen 35 und 74 Jahren mit chronisch-obstruktiver Lungenerkrankung (COPD) [3]. Behandelt wurde in Form einer Kurzzeittherapie mit 2× 5 mg Dronabinol täglich über zwei bis drei Wochen. In dieser Kohorte berichteten 15 von 17 Patienten über eine deutliche Appetitsteigerung und ein besseres Allgemeinbefinden. Das Körpergewicht stieg bei 14 von 17 Patienten um mindestens 1 kg, und die Sechs-Minuten-Gehstrecke verlängerte sich im Mittel um 110 m. Der Autor der Studie empfiehlt daher, bei kachektischen COPD-Patienten während der Rehabilitation die Gabe von Dronabinol zu erwägen. Zusammenfassend können Patienten mit Kachexie unterschiedlicher Genese von Dronabinol in meist geringer Dosierung profitieren. Appetitmangel bei Palliativpatienten Laut Hospiz- und Palliativ-Erfassung (HOPE 2017) leiden zwei Drittel der betreuten Patienten unter Appetitmangel [4]. Eine Normalisierung des Appetits wird derzeit lediglich bei sechs Prozent dieser Patienten erreicht. Dronabinol kann hier eine zusätzliche therapeutische Option bieten. Literatur Patel S et al., 11th International Congress of the International Psychogeriatric Association, Chicago 2003, https://www.cannabis-med.org/studies/ww_en_db_study_show.php?s_id=61 Wilson MM et al., Journal of Nutrition, Health & Aging 2007, 11: 195-198 Bergmann KC, Pneumologe 2005, 59:V493 HOPE 2017 – Bericht Basisbogen, abrufbar unter: www.hope-clara.de/download/2017_HOPE_Bericht.pdf Postzoster: nachhaltige Besserung durch Dronabinol Eine Behandlung mit Cannabinoiden kann bei Patienten mit therapierefraktären neuropathischen Schmerzen einen therapeutischen Durchbruch bringen. In der folgenden Kasuistik einer hochbetagten Patientin mit Postzosterneuralgie hatte Dronabinol über die Schmerzlinderung hinaus günstige Effekte auf die Lebensqualität. × Die jetzt über 90-jährige Patientin von Dr. Marc Seibolt vom Algesiologikum MVZ München hatte vor zwei Jahren eine Herpes-zoster-Infektion rechts thorakal in Höhe des vierten bis sechsten Brustwirbels durchgemacht. Infolge der Infektion entwickelte sich ein typisches peripher-neuropathisches Schmerzsyndrom im Sinne einer Postzosterneuralgie mit mehrmals täglich von dorsal nach ventral einschießenden Schmerzen, die die Patientin auf einer numerischen Rating-Skala (NRS) mit 8 bis 10 bewertete. Zusätzlich bestand ein mit Allodynie und mechanischer Hyperalgesie einhergehender Dauerschmerz einer Intensität von 5 auf der NRS. Schmerz und Gewichtsverlust Die Schmerzen hatten bei der Patientin, die altersentsprechend gesund war und keine relevante Grunderkrankung aufwies, starke Begleiterscheinungen. Vor allem aufgrund einer schmerzbedingt reduzierten Nahrungsaufnahme nahm sie über einen Zeitraum von zwei Jahren von ursprünglich 51 kg auf zuletzt 45 kg ab bei einer Größe von 1,60 m, wurde also deutlich kachektisch. Gleichzeitig gingen die Sozialkontakte zurück, körperliche Aktivität war kaum noch möglich, und auch einfache Haushaltsaktivitäten konnte sie nicht mehr alleine verrichten. Dies wurde begleitet von zunehmenden Stimmungsschwankungen und schmerzbezogenen Angstsymptomen. Nach knapp zweijähriger externer Behandlung wurde die alte Dame, vorbehandelt mit Pregabalin 150 mg 2× täglich und Amitriptylin 10 mg abends, im Algesiologikum vorstellig. Extern war bereits ein großes Spektrum an weiteren medikamentösen und nicht medikamentösen Therapien eingesetzt worden, sowohl zur Schmerzlinderung als auch zur Stimmungsaufhellung. Diese hatten entweder keinen durchschlagenden Erfolg oder waren mit nicht tolerablen Nebenwirkungen behaftet. So trat unter Duloxetin 60 mg Schwindel auf, Tilidin 100 mg retard 2× täglich führte zu schwerer Obstipation, Oxycodon/Naloxon 10 mg/5 mg ging mit erheblichen kognitiven Einschränkungen einher. Magnetfeldtherapie, Osteopathie und Akupunktur sowie Capsaicin-Pflaster und Ketamin (2%)/Amitriptylin (1%)-Salbe waren ineffektiv. Obwohl die Patientin bei Vorstellung bereits weitgehende frustrane Therapieversuche erhalten hatte, wurde im MVZ ein weiterer Therapieversuch für etwa vier Wochen unternommen. Die vorbestehende Therapie mit Pregabalin und Amitriptylin wurde um Tapentadol 100 mg retard 2× täglich erweitert. Auch dies brachte kaum ausreichenden therapeutischen Durchbruch, sodass eine Cannabinoid-Therapie mit Dronabinol begonnen wurde. Tatsächlich hatte die Patientin in der Vergangenheit von Verwandten einmalig Cannabis erhalten. Darunter waren die Schmerzen zurückgegangen, wie sie berichtete. Begleitmedikamente abgesetzt Dronabinol wurde zunächst als zusätzliche Medikation zu Pregabalin/Amitriptylin/Tapentadol schrittweise aufdosiert, zunächst 2 Tropfen à 0,83 mg zur Nacht für drei Tage, danach zusätzlich 2 Tropfen am Morgen mit Steigerung um je 1 Tropfen pro Tag. Die Zieldosis lag bei 2× täglich 8 Tropfen, allerdings waren die Schmerzen bei 2× täglich 4 Tropfen bereits so deutlich zurückgegangen, dass die Patientin keine weitere Aufdosierung benötigte. Alle drei Begleitmedikamente konnten innerhalb eines Monats ausgeschlichen bzw. abgesetzt werden, ohne dass die starken Schmerzen wieder auftraten. Der Dauerschmerz wird von der Patientin jetzt als NRS 1–2 angegeben und in dieser Intensität akzeptiert. Schmerzspitzen sind selten geworden, sie dauern nur noch Sekunden und erreichen dann eine Intensität von NRS 4. Es bleibt ein Taubheitsgefühl in dem betroffenen Dermatom, das die Patienten aber als nicht störend empfindet. An unerwünschten Wirkungen traten Schwindel und Mundtrockenheit auf. Beides beschränkte sich auf die Aufdosierung von etwa zehn Tagen und stellt seither kein Problem mehr dar. Auch die Stimmung ist wieder besser Unter der Dronabinol-Therapie wurden auch Begleitsymptome teils erheblich reduziert. Die Stimmungsschwankungen sistierten, die sozialen Kontakte normalisierten sich, und die Patientin nahm 5 kg an Gewicht zu, sodass alle Therapieziele erreicht wurden. Die Patientin konnte in die hausärztliche Betreuung zurückgeschickt werden. Kasuistik Kasuistik, zur Verfügung gestellt von Dr. Marc Seibolt, München Dronabinol bei schwerer Motilitätsstörung mit Kachexie Medizinische Cannabinoide können bei schwerer gastrointestinaler Motilitätsstörung, verbunden mit Übelkeit und Inappetenz sowie sekundärer Kachexie, deutliche symptomatische Therapieerfolge bringen. × Die 58-jährige Patientin blickt bereits auf eine fast acht Jahre dauernde Krankheitsgeschichte im Zusammenhang mit schweren gastrointestinalen Motilitätsstörungen nach multiplen Laparotomien wegen wiederholter Zäkum-Volvuli, Extrauterin-Schwangerschaften und Cholezystitiden zurück [1]. Immer wieder litt sie an Symptomen wie Übelkeit, Obstipation und abdominellen Schmerzen in wechselnden Lokalisationen sowie Inappetenz mit Kachexie. Wegen dieser Beschwerden war sie mehrfach operiert und medikamentös therapiert worden. Den Anfang machte ein Notaufnahmebesuch im Jahr 2003 mit akuten abdominalen Schmerzen, in dessen Folge eine explorative Laparotomie durchgeführt wurde. Ein Volvulus im Bereich des Zäkums wurde beseitigt, Adhäsionen gelöst und der Blinddarm sowie ein Meckel-Divertikel entfernt. Nur temporäre Linderung durch Op Auch nach diesem Eingriff kam es zu episodenhaft auftretender Übelkeit mit rechtsseitigen abdominellen Schmerzen, die an Intensität und Häufigkeit so stark zunahmen, dass die Patientin nur noch mit Schwierigkeiten genug Nahrung zu sich nehmen konnte und schließlich berufsunfähig wurde. Zwei Jahre nach dem ersten Eingriff wurde die Patientin erneut operiert. Diesmal wurde die Gallenblase entfernt, und weitere umfangreiche Adhäsionen wurden gelöst. Dies brachte ein symptomfreies Jahr, bevor Verstopfung, Übelkeit und Schmerzen erneut auftraten. Zu diesem Zeitpunkt war bereits eine umfangreiche internistische Abklärung erfolgt. Unter anderem waren Diabetes mellitus, Zöliakie, entzündliche Darmerkrankungen und diverse Bindegewebserkrankungen ausgeschlossen worden. Da die funktionelle Diagnostik Hinweise auf eine stark ausgeprägte Magenentleerungsstörung ergab und in der Kapselendoskopie eine Dünndarmstenose auf Höhe des operierten Meckel-Divertikels auffiel, erfolgte im Jahr 2008 eine partielle rechtsseitige Kolektomie. Ein halbes Jahr nach der Operation kehrten die Symptome jedoch zurück. Gewichtszunahme unter Dronabinol Daraufhin wurde eine ganze Palette an Medikamenten gegen Übelkeit, Schmerzen und Obstipation eingesetzt, die entweder ineffektiv waren oder starke Nebenwirkungen hervorriefen (u.a. Metoclopramid, Ondansetron, Tramadol, Laxanzien, Omeprazol). Unter der Verdachtsdiagnose einer bakteriellen Überwucherung des Dünndarms wurden Anti- und Probiotika verordnet. Auch diätetische Therapieansätze wurden ausprobiert. Trotzdem blieben die Symptome bestehen, und die 1,64 m große Patientin hatte Schwierigkeiten, das Körpergewicht über 50 kg zu halten. Nach acht Leidensjahren erfolgte schließlich im Jahr 2011 ein Therapieversuch mit Dronabinol, zunächst in einer Dosis von 2 × 2,5 mg täglich. Im Verlauf weniger Monate nahm die Übelkeit ab, und der Appetit kehrte zurück. Die Dosis wurde schrittweise auf zuletzt 4 × 5 mg täglich erhöht. Darunter blieb das Gewicht stabil bei über 50 kg, die Patientin war drei Jahre lang komplett beschwerdefrei. Im Jahr 2014 kam es zu einem unfreiwilligen Auslassversuch: Die US-Krankenversicherung der Patientin entschied, Dronabinol nicht weiter zu erstatten, da der Einsatz bei Motilitätsstörung nicht durch FDA-Empfehlungen abgedeckt sei. Wenige Tage nach Absetzen des Cannabinoids kehrten die bekannten Symptome in gleicher Intensität wie drei Jahre zuvor zurück. Das Gewicht fiel auf 48 kg (BMI 17,6 kg/m²). Da die Patientin auch dehydriert war, wurde sie stationär eingewiesen. Die Cannabinoid-Therapie wurde wieder begonnen, die Symptome verschwanden, und das Gewicht stieg über 50 kg. In der Folgezeit erhielt die Patientin Dronabinol über die Klinikapotheke, da die Versicherung das Cannabinoid weiterhin nicht bezahlte. Insgesamt zeigt die Kasuistik, dass Dronabinol eine sowohl subjektiv (Stichwort Lebensqualität) als auch objektiv (Stichwort Gewichtszunahme) wirksame Therapieoption bei schweren gastrointestinalen Motilitätsstörungen unklarer Ursache sein kann, sofern andere medikamentöse Therapieansätze nicht den gewünschten Erfolg bringen. Cannabinoide wirken symptomorientiert Bei schwerer therapierefraktärer Übelkeit, Erbrechen, Kachexie oder Schmerzen auch unklarer Genese kann eine Dronabinol-Therapie Patienten zu neuer Lebensqualität verhelfen. Ein kausaler Therapieansatz ist mit Cannabinoiden derzeit nicht zu erwarten. Literatur Taylor GH, Schwaitzberg SD, Int J Surg Case Rep 2015, 11: 121-123 Impressum Kasuistik: weniger Schmerzen mit weniger Opioiden Literaturarbeit Artikel gedruckt in ÄrzteZeitung Nr. 106-195D Mittwoch, 10. Oktober 2018 Kasuistik: Dronabinol bei finaler Krebserkrankung Literaturarbeit Artikel gedruckt in ÄrzteZeitung Nr. 112-205D Mittwoch, 24. Oktober 2018 Kasuistik: Dronabinol als Add-on bei Tumorschmerzen Literaturarbeit Artikel gedruckt in ÄrzteZeitung Nr. 118-214D Mittwoch, 7. November 2018 Antikachektische Wirkung von Dronabinol nutzen Literaturarbeit Artikel gedruckt in ÄrzteZeitung Nr. 127-229D Mittwoch, 28. November 2018 Postzoster: nachhaltige Besserung durch Dronabinol Literaturarbeit Artikel gedruckt in ÄrzteZeitung Nr. 130-234D Mittwoch, 5. Dezember 2018 Dronabinol bei schwerer Motilitätsstörung mit Kachexie Literaturarbeit Artikel gedruckt in ÄrzteZeitung Nr. 133-239D Mittwoch, 12. Dezember 2018 Berichterstattung: Philipp Grätzel von Grätz, Berlin Mit freundlicher Unterstützung der Bionorica ethics GmbH, Neumarkt Corporate Publishing (verantwortl. i. S. v. § 55 Abs. 2 RStV): Ulrike Hafner, Tiergartenstraße 17, 69121 Heidelberg Redaktion: Dr. Ulrike Maronde Springer Medizin Verlag GmbH Heidelberger Platz 3 14197 Berlin Tel: 0800 7780 777 (kostenfrei) | +49 (0) 30 827 875 566 Fax: +49 (0) 30 827 875 570 E-Mail: kundenservice@springermedizin.de Die Springer Medizin Verlag GmbH ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Nature Geschäftsführer: Joachim Krieger, Fabian Kaufmann Handelsregister Amtsgericht Berlin-Charlottenburg HRB 167094 B Umsatzsteueridentifikationsnummer: DE 230026696 © Springer Medizin Verlag GmbH Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. PDF: Kasuistik: weniger Schmerzen mit weniger Opioiden PDF: Kasuistik: Dronabinol bei finaler Krebserkrankung PDF: Kasuistik: Dronabinol als Add-on bei Tumorschmerzen PDF: Antikachektische Wirkung von Dronabinol nutzen PDF: Postzoster: nachhaltige Besserung durch Dronabinol PDF: Dronabinol bei schwerer Motilitätsstörung mit Kachexie

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