Oft noch ungenutzte Therapiechance: Das Endocannabinoidsystem

Starke Schmerzen bei diabetischer Polyneuropathie lassen sich mit herkömmlichen Analgetika oft nicht adäquat lindern, sodass ein hoher Bedarf an zusätzlichen Therapien besteht. Gerade bei therapierefraktären neuropathischen Schmerzen hat die Add-on-Therapie mit Tetrahydrocannabinol-haltigen Cannabis-Wirkstoffen ihre derzeit beste Evidenz. Schmerzfreiheit kann bei Patienten mit neuropathischen Schmerzen meist nicht erreicht werden. Ein realistisches Therapieziel ist eine Schmerzreduktion um 30–50% [1]. Als weitere Therapieziele nennt die DGN-Leitlinie Verbesserungen von Schlaf- und Lebensqualität, den Erhalt von Sozialleben und Sozialstrukturen sowie die Rückkehr in den Beruf und eine erhaltene Berufsfähigkeit [1]. Bei allen medikamentösen Optionen sprechen ca. 20–40% der Patienten nur unzureichend auf die Therapie an (<30% Schmerzreduktion) oder leiden an nicht tolerierbaren Nebenwirkungen [1]. Ein großes Problem der Therapie des neuropathischen Schmerzes ist die mangelnde Adhärenz: Nach einem Monat haben häufig bereits 30% der Patienten ihre orale Therapie wieder abgesetzt, nach einem Jahr 70%, meist aufgrund von Nebenwirkungen [2]. THC beeinflusst Schmerzweiterleitung und -verarbeitung Eine erfolgversprechende Option, die von den bisher bei Neuropathien eingesetzten Wirkstoffklassen noch nicht genutzt wurde, ist die Ansprache des Endocannabinoidsystems (ECS). Das erst in den 1990er Jahren entdeckte ECS ist an der Regulation vielfältiger Reizerkennungs- und -übertragungssysteme im zentralen und peripheren Nervensystem beteiligt. Seine wichtigste Funktion ist der Erhalt der Homöostase, also eines gesunden Gleichgewichts physiologischer Prozesse. Dies ist auch die Grundlage seiner Rolle bei der Linderung pathologischer, überschießender Schmerzreize. Die Schmerzmodulation durch Endocannabinoide bzw. durch exogen zugeführtes Delta-9-Tetrahydrocannabinol (THC; Dronabinol) erfolgt durch Bindung an präsynaptisch lokalisierte Cannabinoid-Rezeptoren (CB1), die daraufhin die Übertragung überschießender Schmerzsignale supprimieren. Die Daten einer randomisierten placebokontrollierten Crossover-Studie, in der zwei Stunden nach Einnahme von THC mithilfe von Gehirn-Scans die Konnektivität verschiedener Hirnareale der Schmerz-Matrix bestimmt wurden, sprechen dafür, dass THC sowohl die Schmerzweiterleitung als auch die Schmerzverarbeitung beeinflusst [3]. Cannabinoide können den Opiatbedarf mindern Das ECS interagiert auch mit dem Opioidsystem. Synergistische analgetische Effekte von THC und Opioiden sind beschrieben [4]. Bei einer Add-on-Gabe von Cannabinoiden kann es daher zu einer spürbaren Reduktion des Opiatbedarfs kommen [5]. Empfehlungen zur Anwendung von Cannabinoiden Zum Einsatz von Cannabinoiden im klinischen Alltag liegt noch keine Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V. (AWMF) vor. Die Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin (DGS) hat jedoch eine PraxisLeitlinie „Cannabis in der Schmerztherapie“ [6] erstellt, in der die Add-on-Therapie mit Cannabinoiden bei neuropathischen Schmerzen als sinnvoll bewertet wird, wenn mit anderen Verfahren keine zufriedenstellende Linderung erreicht wurde. Auch in der Leitlinie „Diagnose und nicht-interventionelle Therapie neuropathischer Schmerzen“ der Deutschen Gesellschaft für Neurologie/AWMF wird empfohlen, dass Cannabinoide bei Versagen anderer Schmerztherapien im Einzelfall erwogen werden können [1], wenn auch eine allgemeine Empfehlung wegen unzureichender Daten noch nicht möglich ist. Der Rezepturwirkstoff Dronabinol ist als einziges Cannabinoid bereits seit 1998 in Deutschland betäubungsmittelrechtlich verkehrs- und verordnungsfähig [6]. Die Voraussetzungen für die GKV-Kostenübernahme sind seit 2017 im „Cannabisgesetz“ geregelt [7]. Die Wirksamkeit, Verträglichkeit und Sicherheit von Cannabinoiden bei chronischen neuropathischen Schmerzen wurden mehrfach in klinischen Studien untersucht. Aktuelle Daten des vom Bundesministerium für Gesundheit initiierten Forschungsprojekts „Cannabis: Potenzial und Risiken. Eine wissenschaftliche Analyse“ (CaPRis) bewerten die Evidenz für die Wirksamkeit von cannabisbasierten Wirkstoffen (als Add-on zu anderen Medikamenten) in verschiedenen Indikationen [8]. Die Studienlage bei chronischen, speziell auch neuropathischen Schmerzen, wird als gut bezeichnet [8]. Die European Pain Federation (EFIC) hat ein Positionspapier zur angemessenen Verwendung von cannabisbasierten Wirkstoffen und medizinischem Cannabis bei chronischen Schmerzen erstellt [9]. Im Hinblick auf chronische neuropathische Schmerzen wird die Schlussfolgerung gezogen, dass cannabisbasierte Arzneien als Drittlinientherapie in Betracht gezogen werden können. Symptomlinderung unter Dronabinol als Rezepturwirkstoff Günstige therapeutische Effekte der Add-on-Therapie mit Dronabinol als Rezeptur in Form öliger Tropfen oder Kapseln zeigten sich u.a. in der Verordnungsrealität deutscher Schmerztherapeuten [10]. 124 Patienten mit chronischen Schmerzen (i.d.R. über mehr als drei Jahre) erhielten im Mittel sieben Monate lang orales Dronabinol zunächst Add-on. Viele litten zusätzlich unter schmerzbedingten Schlafstörungen oder einer Beeinträchtigung ihrer Lebensqualität. Die Schmerzintensität wurde unter Dronabinol deutlich reduziert [10]. Polymedikation reduziert Die Anzahl der zusätzlich eingenommenen (Ko-)Analgetika konnte im weiteren Therapieverlauf von durchschnittlich 4,2 auf 1,0 reduziert werden. Auch der Pain Disability Index, die gesundheitsbezogene Lebensqualität sowie Angst und depressive Symptome besserten sich unter dem Cannabis-Wirkstoff. Die Abbruchrate lag mit etwa 28% in der gleichen Größenordnung wie bei Standardtherapien in dieser Indikation [10]. Cannabinoide sollten grundsätzlich einschleichend dosiert werden („Start low, go slow“) [6]. Therapeutische Dosierungen von Dronabinol liegen üblicherweise zwischen 5 und 20mg pro Tag. In Einzelfällen sind deutlich höhere Tagesdosen nötig und möglich. Die Auftitration kann mit 2,5mg, bei starker Symptomlast auch mit 5mg abends beginnen und wird bis zu einer individuellen Zieldosis gesteigert [6]. Die Verträglichkeit von Cannabinoiden ist im Allgemeinen gut [8]. In einer Metaanalyse von 23 randomisierten, kontrollierten Studien und acht Beobachtungsstudien wurden unerwünschte Arzneimittelwirkungen zwar häufiger berichtet als in den Kontrollgruppen, schwerwiegende jedoch nur in Einzelfällen und nicht häufiger als in den Kontrollgruppen [11]. Fazit Das Endocannabinoidsystem hat die Funktion, überschießende Reaktionen auf ein physiologisches Maß zu reduzieren (Erhalt der Homöostase). Cannabisbasierte Wirkstoffe sind die Einzigen, die gezielt das ECS adressieren. Damit bieten Cannabinoide eine zusätzliche Therapieoption für Patienten mit therapierefraktären neuropathischen Schmerzen. Sie werden in der Regel add-on zur bestehenden Therapie angewendet. Kasuistik 1: Deutliche Besserung von Schmerz, Schlaf und Stimmung* Ein 46-jähriger Typ-2-Diabetiker berichtete über seit rund zehn Jahren zunehmende Schmerzen, zunächst im Rückenbereich, dann auch in mehreren Gelenken. Im weiteren Verlauf manifestierten sich zusätzlich zu diesen nozizeptiven muskuloskeletalen Schmerzen polyneuropathische Schmerzen, die dominierend wurden. Hauptsymptom waren brennende Schmerzen der Füße und Unterschenkel, die als stechend und stromstoßartig beschrieben und auf der numerischen Rating Skala (NRS) mit dem Maximalwert von 10 eingestuft wurden (Chronifizierungsstadium III nach Gerbershagen). Anamnestisch sind Burn-out und Suizidversuche bekannt. Der Patient befindet sich in neurologisch-psychiatrischer Begleitbehandlung. Die körperliche Untersuchung ergab Störungen im Gangbild, Gleichgewichtsstörungen, Hypästhesien und Beeinträchtigungen der Feinmotorik. Aufgrund der polyneuropathischen Schmerzen bestanden ausgeprägte Durchschlafstörungen. Unter Gabapentin, Tapentadol, Milnacipran sowie Trazodon abends und Novaminsulfon als Bedarfsmedikation und kombinierter Physiotherapie konnte keine ausreichende Beschwerdelinderung erzielt werden. Der Patient litt unter hochdosisbedingten zentralnervösen Nebenwirkungen (Schwitzen, kognitive Einschränkungen und massive Tagesmüdigkeit). Das Gesamtbild (Schmerz, Schlaf, Stimmung) war konsistent sehr unbefriedigend. Bei ausgereizter Standardtherapie wurde die Behandlung mit einer Dronabinol-Rezeptur eingeleitet (ölige Tropfen 25mg/ml), zunächst mit 3 Tropfen am Abend. Die Dosis wurde schrittweise auf täglich 3x5 Tropfen gesteigert. Unter der Cannabinoidtherapie kam es zu einer deutlichen Schmerzreduktion (NRS bis 4) und Verbesserung des Nachtschlafs. Die Tapentadol-Gabe konnte reduziert und die Dosierung von Gabapentin halbiert werden, was in einer Verbesserung von Tagesmüdigkeit und Kognition resultierte. Außerdem nahm die Mobilität zu, was eine entsprechende Anpassung der Insulindosis ermöglichte und in einer deutlichen Gewichtsreduktion resultierte. Die Behandlung mit Dronabinol erfolgt seit mehr als acht Monaten, mittlerweile nach Bedarf (2–3 Tropfen, maximal 4x pro Woche). Da der Patient den Geschmack der öligen Tropfen als störend empfand, wurde die Rezeptur auf Kapseln à 2,5mg umgestellt. Bei der letzten Wiedervorstellung beschrieb der Patient seine Schmerzsituation als „so gut wie schon lange nicht mehr“. Kasuistik 2: Neuropathischer Schmerz auf erträgliches Maß reduziert* Der 50-jährige Typ-1-Diabetiker litt unter zunehmenden Gefühlsstörungen im Rahmen einer Polyneuropathie. Anamnestisch bestanden schwere depressive Episoden, eine rezidivierende dissoziative Störung und eine Hypothyreose. Der Patient klagte über ein Gefühl, wie „auf Watte“ zu gehen und eine dadurch bedingte Gangunsicherheit, außerdem über z.T. unerträgliche brennende Fuß- und Unterschenkelschmerzen („wie kochendes Wasser“). Der Wert auf der NRS wurde mit 8–10 angegeben. Die Schmerzen führten zu massiven Schlafstörungen und zu einer Verstärkung der bekannten Depression. Soziale Kontakte wurden zunehmend eingeschränkt. In diversen ambulanten und stationären Maßnahmen waren Therapieversuche mit Novaminsulfon, Pregabalin, Gabapentin, Duloxetin, Morphin, Oxycodin, L-Polamidon frustran verlaufen. Bei der letzten stationären multimodalen Schmerztherapie wurde Add-on zur bestehenden Medikation (Mirtazapin, Venlafaxin, Pravastatin, Ranitidin, L-Thyroxin, Insulin) eine Therapie mit Dronabinol begonnen, zunächst mit 3 Tropfen abends, gefolgt von einer Auftitration bis 2x täglich 5 Tropfen. Unter der Therapie kam es zu einer Schmerzreduktion auf ein für den Patienten erträgliches Maß (NRS 5–6) sowie Verbesserungen der Schlafstörungen und der Stimmungslage. Ein anfänglich unter Dronabinol aufgetretener Schwindel sistierte nach fünf Tagen. Mittlerweile besteht die Cannabinoid-Therapie seit Januar 2018 bei guter Verträglichkeit und Compliance. Beim letzten Kontakt wirkte der Patient ausgeglichener, berichtete über eine bessere Stimmungslage und besseren Schlaf. * Es handelt sich um reale Fallbeispiele aus der Praxis zweier in Deutschland niedergelassener Fachärzte für Anästhesiologie mit Zusatzbezeichnung Spezielle Schmerztherapie und Palliativmedizin. Literatur S2k-Leitlinie „Diagnose und nicht-interventionelle Therapie neuropathischer Schmerzen“, AWMF-Registernummer 030-114 Yang M et al. Pain Medicine 2015, 16:2075–2083 Walter C et al., Neuropsychopharmacology 2016, 41:1659–1669 Cichewicz DL, Life Sci 2004, 74:1317–1324 Nielsen S et al., Neuropsychopharmacology 2017, 42:1752–1765 www.dgs-praxisleitlinien.de/index.php/leitlinien/cannabis (letzter Zugriff: 5.5.2020) Bundesgesetzsblatt Teil I, Nr. 11, 9.3.2017 Hoch E et al., Bundesgesundheitsbl 2019, 62:825 Häuser W et al., Eur J Pain 2018, 22:1547–1564 Weber J et al., Anesthesiol Res Pract 2009, pii:827290; doi: 10.1155/2009/827290 Wang T et al. CMAJ 2008; 178: 1669–1678 Impressum „Therapierefraktäre schmerzhafte diabetische Polyneuropathie: Oft noch ungenutzte Therapiechance: Das Endocannabinoidsystem“ Literatur und Kasuistiken Berichterstattung: Dr. Kirsten Westphal, Heimstetten Artikel gedruckt in: Der Schmerz, Band 34, Heft 3, Juni 2020, und DGNeurologie, Band 3, Heft 4, Juli 2020 Mit freundlicher Unterstützung der Bionorica ethics GmbH, Neumarkt Corporate Publishing (verantwortl. i. S. v. § 55 Abs. 2 RStV): Ulrike Hafner, Tiergartenstraße 17, 69121 Heidelberg Redaktion: Andrea Krahnert Springer Medizin Verlag GmbH Heidelberger Platz 3 14197 Berlin Tel: 0800 7780 777 (kostenfrei) | +49 (0) 30 827 875 566 Fax: +49 (0) 30 827 875 570 E-Mail: kundenservice@springermedizin.de Die Springer Medizin Verlag GmbH ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Nature Geschäftsführer: Joachim Krieger, Fabian Kaufmann Handelsregister Amtsgericht Berlin-Charlottenburg HRB 167094 B Umsatzsteueridentifikationsnummer: DE 230026696 © Springer Medizin Verlag GmbH Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. PDF: Therapierefraktäre schmerzhafte diabetische Polyneuropathie - Oft noch ungenutzte Therapiechance: Das Endocannabinoidsystem

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