Die körperdysmorphe Störung (KDS) geht oft mit einer geringen bis fehlenden Störungseinsicht einher. Folglich begeben sich viele Betroffene nicht in psychologische oder psychiatrische Behandlungen, sondern beanspruchen nichtpsychologische Behandlungen wie ästhetisch-plastische Verfahren. Im vorliegenden Beitrag wird die Einsicht bei der KDS mit der Einsicht bei der Zwangsstörung (ZS) und sozialen Angststörung (SAS) verglichen.
Grundlagen
Die KDS zeichnet sich durch übermäßige Beschäftigung mit wahrgenommenen Makeln im eigenen Aussehen aus, deren Einschätzung andere Menschen nicht in diesem Ausmaß oder gar nicht teilen (American Psychiatric Association [APA]
2013). Betroffene sorgen sich meistens um einen oder mehrere Aspekte des Gesichts- oder Kopfbereichs (z. B. Größe der Nase, Haut oder Haare); es können jedoch auch andere Körperregionen, wie z. B. der allgemeine Körperbau oder der Intimbereich, im Fokus stehen. Als Bewältigungsversuch werden repetitive Handlungen ausgeführt, z. B. Pflegerituale, Rückversicherungen, Vergleichen des eigenen Aussehens mit dem anderer (z. B. bei Treffen, über soziale Medien oder in Filmen) und das Überprüfen des eigenen Aussehens auf Fotos oder in reflektierenden Oberflächen (z. B. Spiegel, Schaufenster). Die Beschäftigung mit dem Aussehen ist mit deutlichem Leiden oder Beeinträchtigung in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Lebensbereichen (APA
2013) sowie erhöhter Suizidalität (Angelakis et al.
2016) verbunden.
Die KDS ist mit einer Punktprävalenz von 1,9 % bei Erwachsenen und 2,2 % bei Jugendlichen eine vergleichsweise häufige Erkrankung (Veale et al.
2016). Dennoch werden nur wenige Betroffene entsprechend diagnostiziert und erhalten eine adäquate psychotherapeutische oder psychopharmakologische Behandlung (Buhlmann
2011; Marques et al.
2010). Stattdessen werden häufig medizinische oder kosmetische Behandlungen in Anspruch genommen. Tatsächlich berichten bis zu 76,4 % der Betroffenen, sich zunächst an nichtpsychologische bzw. nichtpsychiatrische Behandler zu wenden (Phillips et al.
2001). Während die KDS-Prävalenz auf 5,8 % in ambulanten und 7,4 % in stationären psychotherapeutischen bzw. psychiatrischen Behandlungsangeboten geschätzt wird, beträgt sie 13,2 % bei Patienten in der plastischen Chirurgie und 11,3 % bei Patienten in Hautarztpraxen (Veale et al.
2016). Kosmetische Maßnahmen zur Veränderung der wahrgenommenen Makel führen jedoch in der Regel nicht zur Verbesserung, sondern oftmals sogar zur Verschlechterung der Symptomatik (Bowyer et al.
2016).
Die Gründe für die niedrigen Erkennungsraten und das mangelnde Hilfesuchverhalten sind vielschichtig. Einerseits stellt die KDS noch immer ein in den Medien unterrepräsentiertes und somit relativ unbekanntes Störungsbild dar. Folglich wissen viele Betroffene nicht, dass sie eine diagnostizier- und behandelbare psychische Störung haben, und berichten nicht von ihren Beschwerden. Hinzu kommt starke Scham bezüglich ihrer Sorgen, die eine Thematisierung zusätzlich erschwert. Darüber hinaus geht die KDS oftmals mit geringer bis fehlender Störungseinsicht einher, d. h., viele Betroffene sind mehr oder weniger davon überzeugt, dass der im Aussehen wahrgenommene Makel tatsächlich physisch vorliegt (Phillips
2004) und ihnen demnach auch nur mit medizinischen oder kosmetischen Behandlungen geholfen werden kann (Buhlmann
2011).
Da die fehlende Störungseinsicht ein derart hervorstechendes Symptom der KDS ist, wurde sie seit der Aufnahme der KDS in die dritte revidierte Version des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen (DSM-III‑R; APA
1987) als wahnhafte Störung mit körperbezogenem Wahn berücksichtigt und zusätzlich zur KDS vergeben. Mittlerweile zeigt eine breite Befundlage, dass sich wahnhafte und nicht wahnhafte Betroffene hinsichtlich der meisten demografischen und klinischen Merkmale nicht unterscheiden (Phillips et al.
2014). Zudem wird im Rahmen klinischer Beobachtungen angenommen, dass die Einsicht im Störungsverlauf entlang eines Kontinuums variiert (Phillips
2004). Seit dem jüngst eingeführten Spezifizierungskriterium zur Einsicht im DSM‑5 (APA
2013) sollte die Diagnose einer wahnhaften Störung bei körperdysmorphen Überzeugungen daher nicht mehr gestellt, sondern der Grad der Einsicht bei Vergabe der KDS als „gut oder angemessen“, „wenig“ oder „fehlend/mit wahnhaften Überzeugungen“ bestimmt werden. Berichtet ein Patient demnach beispielsweise, vollständig und starr davon überzeugt zu sein, körperlich entstellt zu sein, weist darüber hinaus jedoch keine psychotischen Merkmale auf, spricht dies für eine Störung mit fehlender Einsicht. Ein ähnliches Vorgehen ist für die ausstehende 11. Version der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme geplant (ICD-11; World Health Organization
2018).
Auch bei Menschen mit ZS können störungsspezifische Überzeugungen einen rigiden Charakter annehmen (APA
2013). Die wenigen bisher vorliegenden Vergleichsstudien bezüglich der Einsicht zwischen KDS und ZS zeigen, dass bei Menschen mit KDS eine vergleichsweise schlechtere Einsicht besteht. Phillips et al. (
2012) zeigten, dass von 211 Personen mit ZS 2,4 % als wahnhaft und 28,9 % mit exzellenter Einsicht eingeordnet werden konnten, während bei 68 Personen mit KDS das gegenläufige Muster vorlag, d. h. bei 2,9 % der Betroffenen die Einsicht exzellent und bei 32 % fehlend war. In einer Studie von Toh et al. (
2017) wiesen Patienten mit KDS (
n = 27) und einer psychotischen Störung (
n = 20) eine signifikant niedrigere Einsicht auf als Patienten mit ZS (
n = 19) und eine nichtklinische Vergleichsgruppe (
n = 42). Insgesamt illustrieren die Studien hinsichtlich der Störungseinsicht deutliche Unterschiede zwischen der KDS und ZS, trotz deren gemeinsamer diagnostischer Einordnung unter den Zwangsspektrumstörungen.
Einsicht erscheint auch innerhalb der von SAS Betroffenen besonders interessant, v. a., da im DSM‑5 die Einsicht in die Übermäßigkeit der Angst kein diagnostisches Kriterium der SAS mehr darstellt (APA
2013). Auch im klinischen Bild überschneidet sich die SAS mit eben den Störungen, die durch unterschiedliche Einsichtsgrade gekennzeichnet sind. So zeigen KDS und SAS Gemeinsamkeiten bezüglich des Störungsverlaufs sowie der Tendenz der Betroffenen, sozialen Situationen und Bewertungsängsten durch Sicherheitsverhaltensweisen zu begegnen oder zu vermeiden (Grocholewski et al.
2013). Die SAS überlappt mit der ZS bezüglich ausgeprägter Angst vor jeweils störungsspezifischen Stimuli; beide Störungen insgesamt sind hochkomorbid (Abramowitz und Deacon
2005). In der einzigen den Autoren des vorliegenden Beitrags bekannten Studie, in der die Einsicht der Teilnehmenden bei vorliegender SAS systematisch untersucht wurde, zeigte sich im Mittel eine nur ausreichende Einsicht in die sozialängstlichen Grundüberzeugungen (Vigne et al.
2014). Trotz der phänomenologischen Nähe dieser Störungen existiert darüber hinaus keine Studie, die dieses Merkmal vergleichend bei KDS, SAS und ZS betrachtet.
Die störungsübergreifende Untersuchung der Einsicht erscheint für die Behandlungsrationale der genannten Störungen relevant. Ihr Grad wird sowohl bei Menschen mit KDS (Greenberg et al.
2019; Phillips et al.
2002) als auch mit ZS (Catapano et al.
2010) und SAS (Vigne et al.
2014) als Prädiktor für ein geringeres Ansprechen auf psychotherapeutische und psychopharmakologische Behandlung diskutiert. Unabhängig von der vorliegenden Störung sind Behandler bei Patienten mit geringer Einsicht vor Behandlungsbeginn und während des Therapieprozesses gefordert, den Überzeugungen adäquat therapeutisch zu begegnen.
Diskussion
Interpretation der Ergebnisse
Die vorliegende Studie untersuchte die störungsspezifische Einsicht bei vorliegender KDS im Vergleich zu zwei klinischen Gruppen, spezifisch SAS und ZS. Es ergab sich ein differenziertes Gesamtbild. Die KDS- und SAS-Gruppen zeigten erhöhte Gesamt- und Einzelwerte in der BABS – d. h. sowohl global als auch hinsichtlich der einzelnen Facetten – weniger Einsicht im Vergleich zu der ZS-Gruppe. Personen mit KDS und SAS unterschieden sich bezüglich dieser Werte großteilig nicht signifikant. Eine Ausnahme bildete die Fixiertheit, in der die KDS-Gruppe höhere Werte als die SAS- und ZS-Gruppen aufwies. Bei Teilnehmenden mit SAS und ZS hingegen war diese, ebenso wie die Annahme einer psychologischen Ursache, gleich ausgeprägt, d. h., SAS- und ZS-Betroffene waren gleichsam empfänglich dafür, die eigene Überzeugung anzuzweifeln und eine psychologische Ursache anzuerkennen. In der KDS- und der SAS-Gruppe ergaben sich in der kategorialen Auswertung ähnliche Ergebnismuster im Sinne einer mehrheitlich schlechten bis fehlenden Einsicht. Hingegen war die Einsicht der Teilnehmenden bei vorliegender ZS in mehr als der Hälfte der Fälle exzellent, und jeweils nur vereinzelt als schlecht oder fehlend einzuschätzen.
Diese Ergebnisse lassen sich in den bestehenden empirischen und theoretischen Zusammenhang einordnen. Der Befund einer dimensional und kategorial schlechteren Einsicht bei Betroffenen mit einer KDS, in Kontrast zu einem gegenläufigen Muster bei Betroffenen mit einer ZS, bestätigt die Ergebnisse bisheriger Studien (Phillips et al.
2012; Toh et al.
2017). Im Vergleich zu ZS- scheint die Einsicht bei KDS-Betroffenen demnach deutlich häufiger schlecht ausgeprägt zu sein. Sowohl Personen mit KDS als auch Personen mit SAS erscheinen hingegen gleichermaßen stark von ihren eigenen Annahmen und deren Wahrheitsgehalt überzeugt. Es wurde zuvor erwartet, dass die Einsicht bei KDS-Betroffenen deutlich schlechter als bei der SAS-Betroffenen sein würde, was sich nicht bestätigte. Das Ergebnis könnte durch die gemeinsam zugrunde liegende Bewertungsangst bedingt sein, die sich bei vorliegender KDS auf das Aussehen und bei vorliegender SAS auf das Verhalten oder Angstsymptome bezieht (APA
2013). Da diese Grundüberzeugungen vom Urteil anderer Personen abhängen, können sie bei KDS und SAS nur schwer hinsichtlich ihrer Gültigkeit geprüft werden. Bei Betroffenen mit einer ZS hingegen sind die befürchteten Konsequenzen leichter durch beispielsweise Wissen oder Beobachtung widerlegbar (z. B. ausgeschalteter Herd durch einmaliges Betätigen eines Schalters). Die geringere Einsicht in eine psychologische Ursache, die bei KDS vorlag, könnte für Personen mit KDS durch den eindeutigen körperlichen Bezug und die mit der KDS einhergehenden verzerrten Wahrnehmung erschwert sein (im Sinne von „Ich sehe es, also ist es so“; Kollei und Martin
2010).
Insgesamt ist auffällig, dass die Gesamtwerte der BABS in diesen Stichproben niedriger ausfallen als in vergleichbaren Untersuchungen, insbesondere für KDS- und ZS-Betroffene, für die in anderen Studien die Gesamtwerte über 16 bei vorliegender KDS beziehungsweise über 7 bei vorliegender ZS betrugen (Eisen et al.
1998; Phillips et al.
2012; Toh et al.
2017). Gleichzeitig weicht der durchschnittliche Schweregrad der Störung in den hier untersuchten klinischen Gruppen nicht von denen in anderen Studien ab. Die Unterschiede lassen sich damit potenziell durch die Stichprobengewinnung und die damit gegebenen Merkmale (z. B. freie Rekrutierung vs. Behandlungseinrichtung) sowie ggf. die Durchführung des BABS-Interviews erklären (z. B. Auswahl der Grundüberzeugung).
Limitationen der Studie
Insbesondere die Stichprobengröße ist potenziell zu gering, um tatsächliche kleine Effekte in Unterschieden zwischen KDS und SAS festzustellen. Somit besteht die Möglichkeit, dass sich diese beiden Störungen bezüglich ihrer Einsichtsmuster noch differenzierter unterscheiden. Zukünftige Untersuchungen sollten die Befunde daher in größeren Stichproben replizieren. Eine weitere Limitation besteht darin, dass sich in der vorliegenden Stichprobe zum Erhebungszeitpunkt signifikant mehr Personen in der ZS- vs. SA- und KDS-Gruppe in psychotherapeutischer Behandlung befanden. Insbesondere in psychotherapeutischen Behandlungen werden Patienten, z. B. im Rahmen kognitiver Umstrukturierung, dazu angeleitet, eigene Befürchtungen zu hinterfragen und durch realistischere Annahmen zu ersetzen. Die festgestellte bessere Einsicht in der ZS-Gruppe könnte hierdurch verzerrt sein. Obgleich ein Spektrum an Personen mit unterschiedlichem Behandlungsstatus die Repräsentativität erhöht, sollten zukünftige Studien diesen Faktor über Vergleiche in größeren Stichproben beleuchten.
Implikationen für den psychotherapeutischen Umgang mit der Störungseinsicht
In allen 3 Störungsgruppen gab es Personen, deren Überzeugung durch fehlende Einsicht gekennzeichnet war. Behandler sollten dies entsprechend als Variante der zugrunde liegenden Störungen diagnostisch einordnen; auf die Vergabe einer wahnhaften Störung wird ohne Vorliegen anderer psychotischer Symptome verzichtet. Die Einsicht sollte im Sinne eines transdiagnostisch relevanten Faktors in die Behandlung der Störungen einbezogen werden, um die Therapieeffektivität zu fördern. Alle einzelnen Facetten der Einsicht stellen Ansätze für das therapeutische Arbeiten dar. Bislang sind uns keine Untersuchungen darüber bekannt, welche einzelnen Facetten besonders entscheidend für den Behandlungserfolg sind. In der Praxis sollten daher alle Facetten, z. B. mithilfe der BABS, erhoben und je nach individueller Relevanz bearbeitet werden. Eine besondere Bedeutung kommt sicherlich der Einsicht in eine psychologische oder psychiatrische Ursache (Item 6) zu. Fehlt diese, erscheinen bereits das Aufsuchen eines Psychotherapeuten oder Psychiaters nicht naheliegend sowie Ambivalenz und Widerstand in der Behandlung nachvollziehbar. Es muss dann auf eine Verschiebung der Problemdefinition beim Patienten hingearbeitet werden. Hinsichtlich der KDS bedeutet dies, das wahrgenommene „Aussehensproblem“ als „Wahrnehmungs- oder Körperbildproblem“ zu definieren. Betroffene sollten ab dem Erstgespräch mithilfe motivierender Gesprächsführung darin gefördert werden, sich für eine Psychotherapie und ggf. gegen kosmetische Behandlungen entscheiden zu können. Zudem sollte in der kognitiven Umstrukturierung bei Patienten mit KDS selbst bei einem leicht sichtbaren Makel nicht über das Vorhandensein oder Ausmaß des Makels diskutiert, sondern dessen Wichtigkeit hinterfragt werden. Dieses Vorgehen erscheint analog zu der üblichen Disputation der Bedeutung von sichtbaren körperlichen Angstsymptomen bei SAS-Patienten oder der Toleranz von Unsicherheit bei ZS-Patienten. Da eine geringe Einsicht in die störungsspezifischen Grundüberzeugungen bei der KDS besonders relevant erscheint, aber auch bei anderen psychischen Störungen wie ZS und SAS auftritt, sollten sich Behandler ermutigt fühlen, bekannte transdiagnostische Strategien in der Psychotherapie anzuwenden.
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