Hintergrund
Die spinale Muskelatrophie (SMA) ist eine autosomal-rezessive Erkrankung durch biallelische Mutationen des
SMN1-Gens. Mit einer Inzidenz von etwa 1:8000 [
2,
6] gehörte die SMA bisher zu den häufigsten genetisch bedingten Todesursachen im Kindesalter. In den letzten Jahren wurden verschiedene medikamentöse Therapien zur Behandlung der SMA entwickelt. Nusinersen wurde 2017 von der Europäischen Zulassungsbehörde (EMA) zur Behandlung der SMA zugelassen. Hierbei handelt es sich um ein Antisense-Oligonukleotid, das das Spleißen des
SMN2-Gens beeinflusst und damit zu einer vermehrten Produktion des SMN-Proteins führt. Es wird nach einer Aufsättigungsphase in viermonatlichen Intervallen über eine Lumbalpunktion intrathekal appliziert. Risdiplam ist ein „small molecule“, das sich noch in der klinischen Entwicklung befindet und ebenfalls das Spleißen von
SMN2 beeinflusst [
5].
Die Genersatztherapie ist ein weiterer Ansatz zur Behandlung der SMA. Bei Onasemnogene abeparvovec (früher AVXS-101, Zolgensma® [AveXis EU Limited, Dublin, Irland]) handelt es sich um eine auf einem AAV9-Vektor basierende Gentherapie, bei der durch eine einmalige intravenöse Infusion das funktionale
SMN1-Gen in die Zielzellen eingebracht wird. In den USA wurde Zolgensma von der FDA im Mai 2019 zur Behandlung von Patienten mit SMA bis zum Alter von zwei Jahren zugelassen. Klinische Studien liegen allerdings nur zur Behandlung von Säuglingen bis zum Alter von sechs Monaten vor [
3]. Für ältere Kinder wird auch die intrathekale Applikation von Onasemnogene abeparvovec im Rahmen einer US-amerikanischen Studie geprüft, weil hierbei eine geringere Dosierung erforderlich ist und der Genvektor durch Umgehung der Blut-Hirn-Schranke möglicherweise die Motoneurone besser erreicht. Die Rekrutierung für diese Studie wurde im Oktober 2019 durch die FDA gestoppt, weil in präklinischen Studien bei Affen eine Entzündung der dorsalen Nervenwurzeln auftrat.
Alle bisher verfügbaren Daten zur medikamentösen Therapie der SMA zeigen übereinstimmend, dass der therapeutische Nutzen vor allem vom Krankheitsstadium und vom Lebensalter bei Therapiebeginn abhängt. Besonders vielversprechend ist ein Therapiebeginn in der präsymptomatischen Phase. Deshalb wird seit 2018 in Deutschland ein Pilotprojekt zum Neugeborenenscreening für SMA durchgeführt [
6]. Die Aufnahme der SMA in die allgemeinen Screeningempfehlungen wird aktuell vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) evaluiert. Direkt vergleichende Studien zwischen den verschiedenen Therapieansätzen liegen nicht vor.
Vor kurzem hat die EMA Zolgensma für die Behandlung von folgenden Patientengruppen zugelassen [
1]:
-
Patienten mit 5q-assoziierter SMA mit einer biallelischen Mutation des SMN1-Gens und einer klinischen Diagnose einer SMA Typ 1,
-
Patienten mit 5q-assoiziierter SMA mit einer biallelischen Mutation des SMN1-Gens und bis zu drei Kopien des SMN2-Gens.
Die Zulassung weist zwar auf fehlende Daten zu Sicherheit und Wirksamkeit bei älteren Patient*innen hin, enthält aber – anders als in den USA – keine konkrete Grenze in Bezug auf das Alter oder Körpergewicht. Sie umfasst somit theoretisch auch die älteren Kinder und Erwachsenen mit SMA und bis zu drei SMN2-Kopien.
Stellungnahme
Die Gesellschaft für Neuropädiatrie begrüßt es ausdrücklich, dass die Genersatztherapie mit Zolgensma® zur Behandlung der SMA jetzt auch in Europa zur Verfügung steht. Die breite Zulassung in Kombination mit der sehr begrenzten Evidenz zu Wirksamkeit und Sicherheit der Therapie ist aber auch mit erheblichen Herausforderungen für die betroffenen Patient*innen, deren Familien und die behandelnden Zentren verbunden. Aufseiten der Betroffenen ist die Möglichkeit einer einmaligen intravenösen Therapie verständlicherweise mit großen Hoffnungen verbunden.
Demgegenüber liegen klinische Studien nur für die Behandlung von Säuglingen bis zum Alter von sechs Monaten vor, von denen bisher nur eine in einem Journal mit Peer-Review veröffentlicht wurde. Nach Zulassung von Zolgensma® in den USA wurden in den letzten zwölf Monaten weitere Erfahrungen bei Patient*innen bis zum Alter von zwei Jahren und einem Gewicht von maximal 13,5 kg gesammelt. Systematische Analysen oder Veröffentlichungen liegen hierzu bisher nicht vor.
Die Dosierung der Genersatztherapie mit Zolgensma® erfolgt körpergewichtsbasiert, d. h., je schwerer das Kind bei der Therapie ist, desto höher ist die Dosis und damit die Anzahl der zu applizierenden AAV-Vektorgenome. Möglich ist, dass die Rate immunologischer Nebenwirkungen (z. B. Hepato- oder Kardiotoxizität) insbesondere bei systemischer Applikation von der verabreichten Gesamtdosis abhängt. In Anbetracht der Tatsache, dass für Patient*innen mit einem Körpergewicht bis 13,5 kg begrenzte und über 13,5 kg gar keine klinischen Erfahrungen vorliegen, führt das aktuell empfohlene Zulassungslabel zu erheblichen Sicherheitsbedenken in der Fachgesellschaft.
Auch in Bezug auf die Wirksamkeit ist unklar, ob diese bei älteren Patient*innen mit den bisher in klinischen Studien beobachteten Effekten bei Säuglingen vergleichbar ist. Es ist denkbar, dass bei älteren Patient*innen eine intrathekale Applikation der Genersatztherapie effektiver und im Vergleich zur systemischen Gabe mit weniger Nebenwirkungen verbunden ist. Nach bereits erfolgter intravenöser Therapie ist nach bisherigem Kenntnisstand die spätere intrathekale Applikation aufgrund einer Immunisierung nicht mehr möglich.
Aufgrund der aktuellen Datenlage sehen die Verfasser einen möglichen unkritischen Einsatz der Therapie mit Sorge. Es ist davon auszugehen, dass die Therapie nicht für alle von der Zulassung erfassten Patient*innen sinnvoll ist, sondern bei jedem einzelnen Patienten eine individuelle Nutzen-Risiko-Abwägung erfordert. Dabei müssen neben Alter, Körpergewicht und Krankheitsstadium auch die verfügbaren medikamentösen Therapiealternativen berücksichtigt werden.
Angesichts der oben angeführten Sicherheitsaspekte und der immensen Kosten der innovativen Therapien ist eine qualitativ hochwertige Vor- und Nachsorge der Patienten in spezialisierten Zentren mit fach- beziehungsweise behandlungsspezifischer Expertise unabdingbar. Eine Expertengruppe hat hierzu bereits einen Vorschlag mit entsprechenden Qualitätskriterien erarbeitet [
7]. Für die Behandlungszentren entsteht ein erheblicher Mehraufwand, der bei der Erarbeitung neuer Vergütungsmodelle entsprechend berücksichtigt werden muss. Eine Therapie, ohne dass die fachgerechte Überwachung auch finanziell sichergestellt ist, ist sowohl aus ökonomischen Erwägungen als auch im Sinne der Patientensicherheit nicht vertretbar.
Die Therapie mit Zolgensma® sollte ausschließlich durch einen Neuropädiater*in an Zentren mit entsprechender Erfahrung in Bezug auf die Altersgruppe, das Erkrankungsspektrum und die therapeutischen Optionen zur Behandlung der SMA erfolgen. Des Weiteren erscheint es zwingend geboten, die Erfahrungen zu Wirksamkeit und Sicherheit von Zolgensma systematisch zu sammeln, damit für zukünftige Entscheidungen eine bessere Evidenzbasis zur Verfügung steht. Hierzu stehen mit SMArtCARE (
www.smartcare.de) für Deutschland und Österreich[
4] sowie Swiss-Reg-NMD (
www.swiss-reg-nmd.ch) für die Schweiz bereits entsprechende Register zur Verfügung.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.