Erschienen in:
01.02.2012 | Außer der Reihe
Gedemütigt, entwürdigt, verstümmelt: die „rassenhygienische Ausmerze“ der Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten. Studie zur Situation der Betroffenen und zur Position der Ärzte im Dritten Reich
Teil I: Das nationalsozialistische Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN) vom 14. Juli 1933 und seine Folgen für die deutschen Spaltträger
verfasst von:
Doz. Dr. Dr. habil. V. Thieme
Erschienen in:
Die MKG-Chirurgie
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Ausgabe 1/2012
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Zusammenfassung
Auf der Grundlage des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN) vom 14. Juli 1933 wurden im Dritten Reich ca. 350.000 bis 400.000 Menschen zwangssterilisiert. Unter den Opfern befanden sich auch Menschen mit Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten. Die genaue Zahl der betroffenen Spaltträger ist nicht bekannt.
Im ersten Teil dieser Studie wird der Unrechtscharakter des GzVeN und dessen soziale Folgen für die Spaltträger dargestellt. Anhand einer exemplarischen Literaturrecherche über 130 Kasuistiken und aktenkundige Verfahren gegen Spaltträger an Erbgesundheits- und Erbgesundheitsobergerichten in den Jahren 1934 bis 1940 wird die konkrete Politik der rassenhygienischen „Ausmerze“ gegenüber dieser Opfergruppe verdeutlicht. In ihren Ergebnissen waren diese Verfahren durch Willkür, Uneinheitlichkeit und Widersprüchlichkeit gekennzeichnet. Bei 71 Verfahren (54,6%) wurde die Sterilisation durchgeführt bzw. angeordnet. In weiteren 12 (9,2%) Fällen lag ein Antrag des Amtsarztes auf Sterilisation vor. In 42 (32,3%) Beschwerdeverfahren wurde die Sterilisation abgelehnt. In einem Fall ist die Meldung eines Neugeborenen an den „Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden“ zur Aufnahme in einer „Kinderfachabteilung“ dokumentiert. Dies hatte in der Regel den Mord im Rahmen der nationalsozialistischen Euthanasie zur Folge.