Von Nukleinsäuren und Neoplasmen

COVID-19 hat Nukleinsäuren in Diagnostik und Therapie eine beispiellose breite Aufmerksamkeit beschert. In der Onkologie ist das Thema alt – und doch im Moment so spannend wie nie zuvor. Schon die frühesten Verfahren der modernen Krebstherapie zielten auf Nukleinsäuren: Etwa lindern die ersten Strahlentherapeuten um 1900 Krebsleiden, indem sie die DNA maligner Zellen schädigen und so den Untergang der Tumorzellen herbeiführen – freilich ohne, dass sie die molekularen Mechanismen kennen. Und auch die ersten modernen Chemotherapeutika – Abkömmlinge militärischer Senfgas-Verbindungen – entfalten in den 1940er-Jahren ihre Wirkung über eine Schädigung der Erbinformation. Auf ihnen gründet die auch heute noch breit eingesetzte Substanzklasse der sog. Alkylantien: Wirkstoffe, die Alkylgruppen auf die DNA übertragen, wodurch sich u. a. unphysiologische Querverbindungen zwischen den einzelnen Strängen der DNA-Doppelhelix bilden, was schließlich den programmierten Zelltod auslösen kann. Zwar werden die genauen Zusammenhänge erst Jahrzehnte nach ihrem Ersteinsatz aufgeklärt (bzw. werden es noch immer); doch schon 1957 publizieren US-Forscher um Charles Heidelberger Daten zur antineoplastischen Wirkung von für diesen Zweck konstruierten Nukleinsäureanalogen – den sog. Fluoropyrimidinen, darunter auch 5-Fluorouracil [Nature. 1957;179(4561): 663-6]. Parallel dazu wächst das Wissen um die DNA als Träger der Erbinformation, das 1953 in eine Reihe einflussreicher Publikationen im Fachblatt Nature mündet – unter ihnen auch die berühmten Beiträge zur Struktur und Funktion der DNA von Watson und Crick [Nature. 1953;171(4356):737-8; Nature.1953;171(4361):964-7]. In den Jahrzehnten danach gelingt es zunehmend präziser, Konzepte wie „Gen“ und „Mutation“ in DNA-Molekülen zu verorten. Das Rous-Sarkom-Virus (RSV), ein schon seit 1911 bekannter Erreger, der bei Hühnern Tumoren auslöst, verhilft verschiedenen Forschergruppen jetzt – nicht zuletzt dank verfeinerter Forschungsmethoden – zu mindestens zwei spektakulären Einsichten [vgl. Martin GS. Nat Rev Mol Cell Biol. 2001;2(6):467-75]: Erstens: DNA kann in der Natur nicht nur in RNA umgeschrieben werden; einige Viren können auch umgekehrt RNA in DNA umschreiben. Zweitens: Krebs kann durch mutierte, ursprünglich „normale“ Gene (sog. Protoonkogene) ausgelöst werden. RSV entfaltet seine kanzerogene Wirkung nämlich dadurch, dass es eine mutierte Variante des SRC-Gens ins Hühnerwirtsgenom einschleust. SRC wird schließlich auch beim Menschen gefunden und es zeigt sich, dass es dort in mutierter Form ebenfalls als Onkogen wirksam werden kann – auch ganz ohne RSV. DNA, RNA und Co. Aufbau: Nukleinsäuren bestehen aus aneinandergereihten Nukleotiden, die wiederum aus einem Einfachzucker, einer Base und einem Phosphatanteil aufgebaut sind. DNA trägt die Erbinformation bei allen Lebewesen und auch bei einigen Viren. RNA trägt die Erbinformation nur bei bestimmten Viren. In Lebewesen ermöglicht sie als mRNA („messenger RNA“) die Übersetzung von DNA in Proteine. Darüber hinaus sind inzwischen dutzende weitere RNA-Formen bekannt, die als nichtkodierende RNA bezeichnet werden. Sie regulieren u. a. die Genexpression oder wirken als Enzyme. (Auch für die Onkologie) bedeutende Vertreter sind etwa die siRNA („small interfering RNA“). In der Folge werden weitere Onko- und auch Tumorsuppressorgene entdeckt und schließlich bis hinunter auf die Basenebene sequenziert. Damit wird nicht nur die molekularbiologische Onkologie geboren, sondern ultimativ auch der Weg für sog. zielgerichtete Therapien geebnet – ein Weg, der nicht selten erst Dekaden später ins Ziel führt: Von der DNA-Sequenz zur Therapie Beispielsweise hatten Nobuo Tsuchida und Kollegen die Nukleotidsequenz des KRAS-Onkogens schon 1982 in Science publiziert [Tsuchida N et al. Science. 1982;217(4563):937-9]. Aber erst letztes Jahr ließ sich vermelden, dass es in einer Phase-I-Studie gelungen ist, das Produkt einer spezifischen KRAS-Punktmutation (KRASG12C) bei Patienten mit verschiedenen soliden Tumoren teilweise pharmakologisch zu inhibieren [Hong DS et al. N Engl J Med. 2020;383(13):1207-17]. Unterdessen haben auch andere Bereiche der Onkologie enorm von Erkenntniszuwächsen in puncto Nukleinsäuren profitiert. Prominentestes Beispiel dürfte die Liquid Biopsy sein, also die Analyse von Tumorbestandteilen im peripheren Blut. Vieles spricht dafür, dass auf lange Sicht Screening, Diagnostik und Verlaufskontrolle von Tumoren mittels Tumor-DNA bzw. -RNA umfassend möglich sein werden. Schon jetzt sind erste Anwendungen verfügbar [vgl. Schwarzenbach H et al. Nat Rev Cancer. 2011;1(6):426-37; Cescon DW et al. Nat. Cancer. 2020;1(3)276-90]. Mit RNA Onkogene abschalten Überhaupt gerät die RNA zunehmend in den Blick [Goodall GJ, Wickramasinghe VO. Nat Rev Cancer. 2021;21(1):22-36]: Es stellt sich heraus, dass diese weit mehr ist, als nur eine Arbeitskopie der DNA. Vielmehr kann die RNA mannigfaltig die Genxepression regulieren – und so auch zur Onkogenese beitragen. Besonders wichtig sind dabei wahrscheinlich sog. nichtkodierende RNA-Moleküle, also RNA-Formen, die nicht unmittelbar der Herstellung eines Proteins dienen. Therapeutisch eröffnet das die Option, Onkogene „abzuschalten“ – etwa mittels sog. siRNA („small interfering RNA). Während in der Onkologie in dieser Hinsicht aktuell noch keine klinischen Erfolge erzielt werden konnten, gibt es in der Hämatologie sogar schon ein in den USA und der EU zugelassenes Präparat: Patisiran ist eine siRNA, mit deren Hilfe ein mutiertes Transthyretin-Gen „stumm geschaltet“ wird, das die sog. familiäre Amyloid-Polyneuropathie auslöst [Hoy SM. Drugs. 2018;78(15):1625-31]. Aber auch andere therapeutische Einsätze von Nukleinsäuren sind denkbar: Seit etlichen Jahren wird daran geforscht, RNA- und auch DNA-Moleküle für Krebsimpfstoffe einzusetzen [Jahanafrooz Z et al. Drug Discov Today. 2020;25 (3):552-60]. Als Vakzine liefern die Nukleinsäuren die Bauanleitung für Tumorantigene, mithilfe derer das Immunsystem dann gegen die Tumoren vorgehen könnte. Vor den Augen der Welt reüssiert das Prinzip derzeit in mRNAVakzinen gegen COVID-19. Ein erschwerender Unterschied zur Infektionsprophylaxe ist, dass die Impfung bei Krebs zu einem Zeitpunkt kommt, da das Immunsystem bereits niedergerungen wurde. Eine Option könnte daher sein, den Impfstoff zusammen mit einem Immuncheckpointinhibitor zu verabreichen. In einer Phase-I-Studie ließ sich so bei vorbehandelten Patienten mit Melanom noch ein Ansprechen erzielen. Hinter der Studie: Ein Team um Ugur Sahin, der mit seiner Frau Özlem Türeci und der Firma Biontech die erste COVID-19-mRNA-Vakzine marktreif entwickelt hat [Nature. 2020;585(7823):107-12]. Quelle: Ärzte Zeitung für Onkologen und Hämatologen

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