Was gibt es Neues?
Zu Diagnostik, Klassifikation, Epidemiologie und Prognose
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Es liegt eine neue ILAE-Klassifikation des Status epilepticus (SE) vor [134], welche die minimale Dauer des generalisierten konvulsiven SE als ≥5 min und die anderer Statusformen mit ≥10 min definiert. Für den Absencenstatus ist die Minimaldauer fraglich. Die Leitlinienkommission hält an der pragmatischen Definition einer Minimaldauer von 5 min für alle Statusformen aus der DGN-Leitlinie 2012 fest.
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Das Konzept des superrefraktären SE und dessen Definition gilt mittlerweile als etabliert [36].
Zur Therapie
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Es wurde gezeigt, dass mit einem Applikator gegebenes intramuskuläres Midazolam (10 mg, bis 40 kg 5 mg) in der Initialtherapie des Status generalisierter konvulsiver Anfälle der i.v. Gabe von 4 mg Lorazepam mindestens gleichwertig ist ([112], EG1B). Das Ergebnis wurde vor allem durch die raschere Applikation des fertig aufgezogenen Midazolams aus einem Applikator begründet. Seit Dezember 2019 wird diese Form der Applikation in Deutschland durch die Firma Desitin Arzneimittel vermarktet.
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Intranasales Midazolam-Spray wurde in den USA für die Therapie von Anfallsclustern zugelassen und ist dort seit November 2019 verfügbar. Derzeit wird nicht erwartet, dass es in Deutschland zugelassen werden wird. Erste Studien zum Einsatz von i.n. Midazolam beim SE liegen vor [60] und eine Metaanalyse spricht dafür, dass unter den nicht intravenösen Midazolamapplikationen die i.n. Gabe nach der i.m. Gabe die wirksamste ist [4].
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Auch unter Einbeziehung von Clonazepam und Diazepam liegen weiterhin keine Einzelstudien vor, die klar für die Überlegenheit eines Benzodiazepins bezüglich der Durchbrechungsrate sprechen. Die höchste Evidenz liegt für intravenöses Lorazepam und für intramuskuläres Midazolam (per Applikator) vor.
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Eine große Registerstudie bestätigt die Rolle von Benzodiazepinen in der Initialtherapie des Status epilepticus. Die höchsten Durchbrechungsraten wurden nach der Gabe einer ausreichend hohen Dosis eines Benzodiazepins beobachtet. Häufigster Fehler war die Gabe zu niedriger Dosen [62].
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In diesem Zusammenhang gibt es Hinweise darauf, dass insbesondere Lorazepam oft zu niedrig dosiert wird (z. B. 2 mg statt 4 mg; [3]).
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Die Initialdosen von Benzodiazepinen bei Erwachsenen bzw. Kindern/Personen mit <40 kgKG liegen bei: Lorazepam 0,1 mg/kg (max. 4 mg/Bolusgabe, ggf. 1‑mal wiederholen) oder Clonazepam 0,015 mg/kg (max. 1 mg/Bolusgabe, ggf. 1‑mal wiederholen) oder Midazolam 0,2 mg/kg (max. 10 mg/Bolusgabe i.m., i.v. oder i.n. [bei <40–13 kgKG 5 mg], ggf. 1‑mal wiederholen) oder Diazepam 0,15–0,2 mg/kg (max. 10 mg/Bolusgabe, ggf. 1‑mal wiederholen; [3, 46, 59]).
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Eine komparative Studie zur Stufe 2 spricht dafür, dass in der Therapie des benzodiazepinrefraktären konvulsiven SE Levetiracetam (LEV, 60 mg/kg, max. 4500 mg), Fosphenytoin (FPHT, 20 mg/kg, max. 1500 mg) und Valproat (VPA, 40 mg/kg, max. 3000 mg) von vergleichbarer Effektivität sind. Der primäre Effektivitätsendpunkt (das Sistieren des Status bei Besserung des Bewusstseins) wurde in 47 % (LEV), 45 % (FPHT) und 46 % (VPA) erreicht. Dabei war auch die Verträglichkeit nicht signifikant verschieden [59].
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Es liegen mehrere neue retrospektive Kohortenstudien zur Gabe verschiedener intravenös applizierbarer Antiepileptika vor. Diese Studien sprechen in ihrer Summe dafür, dass neben Levetiracetam (nicht zur SE-Therapie zugelassen), Valproat (eingeschränkt zur SE-Therapie zugelassen), Fosphenytoin, Phenytoin und Phenobarbital auch Lacosamid (nicht zur SE-Therapie zugelassen) im Allgemeinen nur vergleichbar geringe Nebenwirkungs- und Komplikationsraten aufweist.
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In einer prospektiven kontrollierten Studie wurden Phenytoin und Lacosamid bezüglich ihrer Wirksamkeit und Verträglichkeit bei Patienten mit nonkonvulsiven Anfällen im EEG-Monitoring verglichen. Es ergaben sich keine signifikanten Unterschiede [56].
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Eine Überlegenheit der gleichzeitigen Gabe von Clonazepam und Levetiracetam gegenüber der alleinigen Gabe von Clonazepam durch den Rettungssanitäter vor Ort konnte nicht gezeigt werden [90].
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Mit Brivaracetam (nicht zur SE-Therapie zugelassen) steht seit 2016 ein weiteres intravenös applizierbares Antiepileptikum zur Verfügung, welches ersten Untersuchungen zufolge rascher als Levetiracetam eine zerebrale Maximalkonzentration erreicht [15, 38]. Erste Anwendungen in der Statustherapie wurden bereits berichtet [105, 115].
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Die therapeutische systemische Hypothermie (32–34 °C über 24 h) konnte in einer randomisierten kontrollierten Studie bei intubierten Patienten die Entwicklung zu einem RSE oder SRSE nicht verhindern, zudem zeigte sich kein signifikanter Effekt auf das neurologische Outcome nach 90 Tagen [68].
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Allopregnanolon i.v. war in einer randomisierten kontrollierten Studie der Gabe von Placebo in der Therapie des superrefraktären SE nicht überlegen (https://investor.sagerx.com […]).
Die wichtigsten Empfehlungen auf einen Blick
Empfehlungen zur Diagnostik
Empfehlungen zur Therapie und Versorgungskoordination
Stufe 1 (Therapie des initialen Status epilepticus einschließlich der Prähospitalphase)
Empfehlungen zu Stufe 2 (Therapie des benzodiazepinrefraktären Status epilepticus)
Empfehlungen zu Stufe 3 und 4 (Therapie des refraktären und superrefraktären Status epilepticus)
1 Einführung: Geltungsbereich und Zweck der Leitlinie
Begründung und Notwendigkeit einer Leitlinie
Ziele der Leitlinie
Patientenzielgruppe
Versorgungsbereich
Adressaten der Leitlinie
2 Definition, Epidemiologie und Klassifikation
Definition
Form des SE | T1 Prolongierter Anfall | T2 Risiko bleibender neuronaler Schäden |
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Generalisiert konvulsiv | 5 min | 30 min |
Fokal, nicht bewusst erlebt | 10 min | >60 min |
Absence | 10–15 min | Unbekannt |
Epidemiologie
Klassifikation
Semiologie
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An- und Abwesenheit von prominenten motorischen Zeichen
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Vorhandensein und ggf. Ausmaß einer qualitativen und quantitativen Bewusstseinsstörung
Ätiologie
EEG-Korrelate
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Frequenz der periodischen Entladungen >2,5/s
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Typische räumlich-zeitliche Ausbreitung der periodischen Aktivität
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Zeitliche Assoziation der periodischen Aktivität mit subtilen klinischen Phänomenen
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Klinisches und elektroenzephalographisches Ansprechen auf intravenös applizierte Antiepileptika (cave: auch die periodischen Entladungen bei nicht epileptischen Enzephalopathien sistieren mit der Gabe von z. B. Benzodiazepinen, der klinische Zustand des Patienten ändert sich aber nicht)
Alter
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Neonaten (0–30 Tage)
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Kleinkinder (>1 Monat bis 2 Jahre)
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Kindheit (>2 bis 12 Jahre)
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Jugend und Erwachsenenalter (>12 bis 59 Jahre)
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Höheres Lebensalter (>60 Jahre)
3 Diagnostik
3.1 Klinische Diagnostik
3.2 EEG-Diagnostik
3.3 Labordiagnostik
3.4 Bildgebung
4 Differenzialdiagnosen
4.1 Status psychogener/dissoziativer Anfälle
4.2 Hypoxische Enzephalopathien
4.3 Toxische und metabolische Enzephalopathie
4.4 Tetanus
5 Therapie nach Stufen
5.1 Prähospitalphase
5.1.1 Erweiterte prähospitale Maßnahmen und Therapie
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Sicherstellung der Vitalparameter (ABCDE-Schema)
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Kopf vor Verletzung schützen
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Antikonvulsive Therapie (siehe unten)
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Wenn möglich, Legen mindestens eines stabilen, anfallsungefährdeten (d. h. außerhalb der Ellenbeuge lokalisierten) i.v. Zugangs, ggf. Gabe von 0,9%iger NaCl-Lösung
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Pulsoxymetrie, Blutdrucküberwachung, EKG
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Gabe von Thiamin 100 mg i.v. bei V. a. alkoholassoziierten SGTKA
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Gabe von Glukose 40 % i.v. bei V. a. oder nachgewiesener Hypoglykämie; bei V. a. ethanolassoziierten SE Glukosegabe erst nach Thiamingabe
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O2-Insufflation bei O2-Sättigung <95 % (via Maske, ggf. Intubation und Beatmung) und symptomatische Temperatursenkung bei Körpertemperatur über 37,5 °C
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Da eine Intubationsbereitschaft immer gesichert sein muss, muss im Zielkrankenhaus eine Intensivüberwachung erfolgen. Zudem besteht die Gefahr einer systemischen Azidose infolge wiederholter motorischer Entäußerungen mit dem Risiko einer Rhabdomyolyse mit sekundärem Nierenversagen.
5.2 Therapie der Stufe 1
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Intravenöses Lorazepam ist die aktuell empfohlene, evidenzbasierte Initialtherapie durch den Rettungsdienst/Notarzt (0,1 mg/kg, max. 4 mg/Bolusgabe, ggf. nach 5 min 1‑mal wiederholen; [1, 23, 46, 95]; EG1A). Allerdings ist auf vielen Rettungsfahrzeugen Lorazepam aufgrund der zu kühlenden Substanz nicht verfügbar.
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Midazolam intramuskulär oder intranasal (10 mg für >40 kg, 5 mg für 13–40 kg, Einzelgabe; EG1B) oder 0,2 mg/kg i.v., max. 10 mg/Bolusgabe, ggf. nach 5 min 1‑mal wiederholen
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Clonazepam 0,015 mg/kg (langsame [0,5–1 ml/min] intravenöse Injektion von max. 1 mg, ggf. 1‑mal wiederholen)
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i.v. Diazepam (0,15–0,2 mg/kg/Gabe, max. 10 mg/Gabe, ggf. nach 5 min 1‑mal wiederholen)
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i.v. Phenobarbital (15–20 mg/kg/Gabe, Einzelgabe)
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Diazepam rektal (0,2–0,5 mg/kg, max. 20 mg/Gabe, Einzelgabe)
5.3 Therapie der Stufe 2
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Valproat 20 mg/kg, max. 10 mg/kg/min, ggf. nach 10 min wiederholen, kumulativ max. 3000 mg. Für die Weiterbehandlung sollte ein Valproatspiegel von 100–120 µg/ml angestrebt werden.
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Levetiracetam 30 mg/kg i.v., max. 500 mg/min, ggf. nach 10 min wiederholen, kumulativ max. 4500 mg. Bezüglich der Weiterbehandlung ist derzeit unklar, welcher Spiegel anzustreben ist.
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PHT-Infusionskonzentrat 20 mg/kg i.v. (max. 50 mg/min und über einen separaten i.v. Zugang). Zu beachten: Die akute hochdosierte i.v. Phenytoingabe sollte immer unter Intensivüberwachung mit Monitoring von Blutdruck und EKG erfolgen. Keine Phenytoingabe über Magensonde (mangelnde Resorption) oder intramuskulär (gewebetoxisch!). Der Sicherheit (Stabilität) des i.v. Zugangs kommt bei PHT wie auch bei Thiopental wegen der Gefahr von Gewebenekrosen bei Extravasaten besondere Bedeutung zu. Für die Weiterbehandlung sollte ein Phenytoinspiegel von 20–25 µg/ml angestrebt werden.
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Alternativ oder bei Kontraindikation gegenüber PHT oder bei Unwirksamkeit von frühzeitig verabreichtem PHT steht Phenobarbital (PB) zur Verfügung. Eine prospektive Vergleichsstudie von PB und VPA sprach für eine Überlegenheit von PB bezüglich der Effektivität (81 % vs. 44 % Kontrollrate und 7 % vs. 31 % Rezidivrate) bei nicht signifikant verschiedener Tolerabilität, und ein aktueller Review kam zu dem Ergebnis, dass PB sogar das Wirksamste der i.v. Medikamente sei, wobei Lacosamid und VPA Verträglichkeitsvorteile aufwiesen [14].
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Phenobarbital 15–20 mg/kg i.v. (max. 100 mg/min, höhere Gesamtdosen sind unter Intensivmonitoring, nach Intubation oder unter Beatmungsbereitschaft möglich). Cave: Interaktionsrisiken und mögliche Intoxikation bei zusätzlicher Verwendung von VPA. Für die Weiterbehandlung sollten Spiegel von 30–50 µg/ml angestrebt werden.
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Ebenfalls als Therapie der 2. Wahl kommt die i.v. Gabe von Lacosamid (LCM) in Betracht. Eindeutige Evidenz für die angemessene Dosis liegt nicht vor. Als häufig eingesetzte initiale Dosis wurden 5 mg/kg als Kurzinfusion über 15 min beschrieben [14], z. T. wird 200 mg/15 min als maximale Infusionsgeschwindigkeit vorgeschlagen. Die akute hochdosierte Gabe von i.v. LCM sollte unter EKG-Monitoring stattfinden.
5.4 Therapie der Stufe 3
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Midazolam 0,2 mg/kg i.v. als Bolus, Erhaltungsdosis EEG-gesteuert (Ziel: Anfallskontrolle und, falls erreichbar, ein Burst-Suppression-Muster, maximale Dosisrate bis 2,9 mg/kg/h) für 24 h [37]
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Propofol 2 mg/kg i.v. als Bolus, Erhaltungsdosis EEG-gesteuert (Ziel: Burst-Suppression-Muster, ca. 4–10 mg/kg/h) für 24 h. Cave: Propofolinfusionssyndrom (s. oben)
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Thiopental 5 mg/kg als Bolus, Erhaltungsdosis EEG-gesteuert (Ziel: Burst-Suppression-Muster, ca. 0,5–5 mg/kg/h) für 24 h. Wegen der negativen Inotropie von Thiopental ist häufig die zeitgleiche Gabe positiv inotroper Substanzen (meist Noradrenalin, seltener Dopaminperfusor) erforderlich.
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Der refraktäre Status epilepticus soll mit Propofol oder Midazolam oder einer Kombination der beiden oder mit Thiopental in anästhetischen Dosen so rasch als möglich (<48 h nach Symptombeginn) behandelt werden (Empfehlungsstärke: stark).
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Die Therapie des refraktären konvulsiven Status epilepticus soll auf einer Intensivstation bei intubierten Patienten erfolgen (Empfehlungsstärke: stark).
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Die Therapieeinleitung, deren Überwachung und das Ausschleichen der Anästhetika sollten mittels kontinuierlichen EEG-Monitorings erfolgen (Empfehlungsstärke: Empfehlung).
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Als Therapieziel bei der Einleitung eines therapeutischen Komas können folgende EEG-Muster erwogen werden: a) reine Anfallsunterdrückung, b) suppressionsdominante Burst-Suppression-Aktivität, c) isoelektrische EEG-Kurve (Empfehlungsstärke: offen).
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Es kann beim fokalen nicht konvulsiven refraktären Status epilepticus auf die Einleitung eines therapeutischen Komas verzichtet werden (Empfehlungsstärke: offen).
5.5 Therapie der Stufe 4, Management des superrefraktären Status epilepticus
Einführung
Pharmakologische Interventionen
Barbiturate
Ketamin
Inhalationsanästhetika
Enterale Applikation „klassischer“ Antiepileptika
Allopregnanolon
Nicht pharmakologische Interventionen
Ketogene Diät
Hypothermie
Epilepsiechirurgie
Elektrokonvulsive Therapie
6 Versorgungskoordination
7 Mortalität und Erste-Hilfe-Maßnahmen
8 Medizinethische Aspekte mit Therapierelevanz
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Bei Verzicht auf Therapiemaßnahmen der Stufe 3 kann eine Fortführung der Therapie auf Stufe 2 oder die Einleitung einer palliativen Behandlung folgen (Empfehlungsstärke: offen).
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Bei Einleitung bzw. Fortführung oder Eskalation einer intensivmedizinischen Therapie bei Patienten mit RSE und SRSE sollten der Patientenwille und das Vorliegen einer Patientenverfügung beachtet werden (Empfehlungsstärke: Empfehlung)