Hintergrund
Ältere Gefangene stellen weltweit die am schnellsten wachsende Gruppe unter den Inhaftierten dar [
33,
45]. Dieser Trend zeigt sich zwar am deutlichsten in den USA, wo der Anteil älterer Gefangener (über 55 Jahren) inzwischen 11 % beträgt und bis 2030 auf 33 % ansteigen soll [
33], aber auch in Europa sind durchschnittlich rund 18 % der Gefangenen älter als 50 Jahre [
12,
48,
49], wobei Deutschland mit rund 16 % nur knapp darunter liegt [
1]. Besonders viele ältere Personen finden sich in Deutschland in der Sicherungsverwahrung, d. h. einer Maßnahme für jene Gefangene, die als besonders gefährlich eingeschätzt werden und die über die eigentliche schuldangemessene Strafe hinaus inhaftiert bleiben. Diese keineswegs unumstrittene Form des Freiheitsentzugs, die es in ähnlicher Form auch z. B. in Österreich und der Schweiz gibt, ist also keine Sanktion bzw. Strafe. Vielmehr dient sie dem Zwecke der Prävention und Vorbeugung, weshalb sie in besonderen Abteilungen von Strafvollzugsanstalten vollzogen wird, die sich positiv vom Strafvollzug unterscheiden müssen (sog. „Abstandsgebot“; [
8]): Hier beträgt der Anteil der über 50-Jährigen 71 % und jener der über 60-Jährigen etwa 30 % [
20].
Es gibt zwei wesentliche Gründe für den größer werdenden Anteil älterer Gefangener: Einerseits führt der demografische Wandel dazu, dass häufiger Personen im höheren Alter straffällig und dann gegebenenfalls auch inhaftiert werden [
2,
6,
22]. Andererseits hat aber v. a. auch die jeweilige Strafpraxis einen Einfluss: So ist die steigende Zahl älterer Gefangener in den USA eine langfristige Folge der strengeren Strafrichtlinien aus den 1970er- und 1980er-Jahren, die zu einer sog. „mass incarceration“ („Masseninhaftierung“) geführt haben [
33]. Für die Schweiz verweisen Hostettler et al. in diesem Zusammenhang auf härtere Strafen für bestimmte, schwerwiegende Delikte [
25]. Für Deutschland berichtet Cornel [
13] z. B. von einer strengeren Bestrafung bei Mord: Wurden 1975 noch 31,5 % jener Straftäter:innen, die wegen Mordes verurteilt wurden, mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe belegt, so sind es 1990 > 50 %, im Jahr 2000 > 60 % und im Jahr 2019 schließlich 70,7 % gewesen. Infolgedessen ist die Anzahl der Gefangenen, die zu lebenslanger Haft verurteilt wurden, zwischen 1995 und 2020 um 37 % und die der Sicherungsverwahrten um 222 % gestiegen [
13]. Entsprechend ist davon auszugehen, dass der Anteil der Gefangenen mit einer sehr und ggf. lebenslangen Vollzugsdauer weiter steigt.
Unabhängig von den Gründen dieses Anstiegs stellen ältere Gefangene eine vulnerable, gesundheitlich besonders belastete Gruppe im Strafvollzug dar [
19,
34]. Ihr Gesundheitszustand wird um ca. 10–15 Jahre schlechter eingeschätzt als der ihrer Altersgenoss:innen in Freiheit [
36,
37,
45]. Laut WHO weisen ca. 32,8 % der europäischen Gefangenen psychische Störungen auf [
52]. Zudem leiden sie häufiger unter chronischen Krankheiten, Herz-Kreislauf- und Lungenerkrankungen, Krebs, Infektionskrankheiten (HIV/Aids, Hepatitis) und körperlichen sowie kognitiven Beeinträchtigungen bis hin zur Demenz [
9,
34,
49]. Die damit einhergehende Multimorbidität gerade auch bei älteren Gefangenen liegt zum einen an den strukturellen Lebensumständen und Lebensbedingungen vor der Inhaftierung (Armut, Obdachlosigkeit, Gewalterfahrungen etc.), zum anderen aber auch am individuellen Lebensstil der Betroffenen (riskante Lebensweisen, Konsum von illegalen und verunreinigten Substanzen etc.; [
45]). All dies führt häufig zu beschleunigten Alterungsprozessen, die sich in Verbindung mit den freiheitsbeschränkenden und gesundheitsabträglichen Bedingungen der „totalen Institution“ [
21] Gefängnis noch verschärfen [
20,
32]. Und es führt schließlich auch dazu, dass es immer häufiger Gefangene gibt, die pflegebedürftig werden, in Haft ihre letzte Lebensphase verbringen und ggf. auch dort versterben.
Auf diese Situation ist der in allen Belangen auf Sicherheit ausgerichtete Strafvollzug allerdings weder räumlich noch personell vorbereitet [
3]. Auch wenn es inzwischen einige wenige Haftanstalten (etwa in Singen, Waldheim, Detmold oder Bielefeld-Senne) mit altersgerechten Haftplätzen gibt [
24], so verfügen Justizvollzugsanstalten in der Regel nicht über altersgerechte Unterbringungsmöglichkeiten (Barrierefreiheit, rollstuhlgerechter Freistundenhof inklusive entsprechender Sanitärmöglichkeiten, breite Türen für Rollstühle und Betten, Halte- und Sitzmöglichkeiten im Sanitärbereich etc.; [
29,
36,
37]). Relativ ungeregelt scheint zudem, wer für notwendige pflegerische Leistungen zuständig ist. Diese Aufgaben werden einerseits häufig von den anstaltseigenen Krankenpflegediensten übernommen, andererseits liegt die Versorgung der Gefangenen aber grundsätzlich in der Zuständigkeit der Bediensteten des allgemeinen Vollzugsdienstes (AVD; [
29]). Auf Seiten des Krankenpflegepersonals ergibt sich in diesem Zusammenhang die Problematik der sog. „dualen Loyalität“ bzw. des „doppelten Mandats“, indem einerseits sichernde Aufgaben übernommen und andererseits die empathisch-pflegerische Versorgung sichergestellt werden soll [
40,
42]. Unabhängig davon verweisen Cooley Webb et al. [
12] auf ein grundsätzliches gegenseitiges Misstrauen zwischen den Gefangenen und dem Personal i. Allg. sowie dem medizinischen „weißen Dienst“ im Besonderen [
50].
Mit Blick auf eine langfristig bestehende Pflegebedürftigkeit sowie (hospizlich‑)palliative Pflegesituationen wird konstatiert, dass es im Strafvollzug in der Regel niemanden gibt, der dauerhaft Pflegeaufgaben übernehmen kann, da diese nicht zu den Aufgaben des AVD zählen. Überdies zielt der auf Resozialisierung angelegte Vollzug auf die Entlassung der Gefangenen [
39], weshalb das Thema Sterben weitgehend tabuisiert ist und der Tod in Haft als ein mit allen Mitteln zu verhindernder Unfall angesehen wird. Auch wenn die medizinische Versorgung in Haft den Standards und Leitprinzipien außerhalb des Vollzugs entsprechen soll (Äquivalenzprinzip; [
30]), so ist diese doch im Wesentlichen kurativ und damit auf die Wiedereingliederung der Gefangenen in das Gefängnissystem ausgerichtet, während die palliative Versorgung kaum Beachtung findet [
25]. Zudem kommt Neuber [
38] zu dem Ergebnis, dass pflegebedürftige Gefangene in aller Regel nicht hinreichend versorgt würden: Zum einen fehlten verlässliche Routinen, zum anderen würden das Sterben wie auch die Begleitung von Sterbeprozessen als Phänomene betrachtet, die außerhalb des Gefängnisses stattfinden sollten [
4,
5,
38].
Zugleich aber ist man damit konfrontiert, dass sich eine Haftentlassung aufgrund von Alter oder Pflegebedürftigkeit aus unterschiedlichen (etwa bürokratisch-administrativen) Gründen verzögert oder aus Sicherheitsgründen abgelehnt wird [
25], dass nicht alle Inhaftierten nach ihrer Entlassung mit einer angemessenen geriatrischen oder hospizlich-palliativen Versorgung rechnen können und dass es in einer Situation der Knappheit an Pflegeplätzen und -personal schwierig sein kann, gerade für (ehemalige) Strafgefangene einen Ort mit entsprechender pflegerischer und hospizlich-palliativer Versorgung außerhalb der Mauern zu finden. Überdies gibt es häufig keine Angehörigen und Freund:innen mehr [
51] und für manche Gefangene ist das Gefängnis auch zu dem Ort geworden, an dem sie ihre sozialen Bezüge und Kontakte haben, wo sie sich sicher (gewissermaßen: zuhause) fühlen und wo sie eben auch sterben möchten [
4].
Vor diesem Hintergrund konstatiert die „Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland“ in ihren Handlungsempfehlungen die Notwendigkeit einer bedarfsgerechten Hospiz- und Palliativversorgung in Justiz- und Maßregelvollzugseinrichtungen in Deutschland, um auch Gefangenen ein Sterben in Würde und ihren individuellen Bedürfnissen gemäß zu ermöglichen [
9,
23,
43].
In US-Gefängnissen stellt sich das Problem des Sterbens in Haft aufgrund der sehr hohen Inhaftierungsraten deutlich drängender: Während in Deutschland rund 58.000 Personen inhaftiert sind (Inhaftierungsrate: 67 pro 100.000 Einwohner:innen), gibt es in den USA rund 2 Mio. Gefangene (Inhaftierungsrate: 629 pro 100.000 Einwohner:innen; [
46,
53]), die überdies häufig in deutlich größeren Anstalten inhaftiert sind, in denen allein aufgrund ihrer Größe Pflege- und auch Todesfälle häufiger vorkommen. Aus diesem Grund werden hier bereits seit längerem innovative geriatrische Programme [
41] sowie Formen einer „end-of-life care“ implementiert [
12,
44]. Zudem wurden innerhalb von Gefängnissen 75 Hospize etabliert [
33], von denen einige auch mit einem Peer-support-Modell arbeiten, bei dem Mitgefangene den Sterbenden als ehrenamtlich-hospizliche Begleitende beistehen [
10,
11,
14]. In der deutschen Literatur wird diese Form der intramuralen Institutionalisierung von Sterbebegleitung kontrovers diskutiert, da sie die Gefahr berge, dass das Recht auf ein Lebensende in Freiheit mehr und mehr aus dem Blick gerate [
4,
5]. Diese und ähnliche Fragen umreißen das Spannungsverhältnis zwischen einem „würdigen Sterben“ in Freiheit und einem „guten Sterben“ in Haft, wobei z. B. auch aus einer menschenrechtlichen Perspektive konstatiert wird, dass eine Strafe, die auch im Sterben keine Grenze finde, unmenschlich und erniedrigend sei [
19,
32,
54].
Unabhängig davon wird für den deutschen Strafvollzug insgesamt ein eher stiefmütterliches Verhältnis zur Thematik des Sterbens i. Allg. [
31,
43] und zur hospizlich-palliativen Versorgung im Besonderen [
26] konstatiert. Dies bestätigen auch Bereswill und Neuber in ihrer qualitativen Pilotstudie zum Thema Sterben in Haft, für die sie im Jahr 2017 Mitarbeiter:innen von Fachdiensten im Strafvollzug befragten [
4,
5]. Eine aktuelle empirische Studie zur hospizlich-palliativen Versorgung im deutschen Strafvollzug liegt u. W. nicht vor.
Im Zentrum der vorliegenden, qualitativ-explorativen Studie fragen wir daher aus einer pflegewissenschaftlich-hospizlichen Perspektive, welche Möglichkeiten sich im Strafvollzug für eine der Situation in Freiheit äquivalente, hospizlich-palliative Versorgung bieten. Welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang ambulante Hospizdienste? Können und wollen deren (ehrenamtliche) Mitarbeitende sterbende Personen in Haft begleiten? Und wenn ja, welche Unterstützung erhalten sie dabei, und welchen Beschränkungen unterliegen sie?
Methode
Die Begleitung von Sterbenden durch ambulante Hospizdienste und -vereine (nach § 39a, Abs. 2 SGB V) wird von qualifizierten Ehrenamtlichen durchgeführt, die von hauptamtlichen Mitarbeitenden koordiniert werden [
17]. Um diese Personengruppen als Interviewpartner:innen zu rekrutieren, wurde zunächst eine Online-Umfrage (via MS Forms) mit folgender Fragestellung durchgeführt: „Gibt es hospizliche Begleitung in deutschen Justizvollzugsanstalten? Und wenn ja, welche Erfahrungen machen diejenigen, die Inhaftierte hospizlich begleiten?“ Die Umfrage wurde im September 2023 über den Deutschen Hospiz- und PalliativVerband (DHPV) in dessen Newsletter sowie auf dessen Facebook-Seite verbreitet.
Insgesamt haben von September bis November 2023
n = 31 Personen an der Befragung teilgenommen, von denen
n = 7 angaben, einschlägige Erfahrungen zu haben und zu einem Interview bereit waren. Über diese Personen konnten im Sinne der Schneeballmethode 7 weitere Interviewpartner:innen rekrutiert werden, die in unterschiedlichen Funktionen mit dem Thema Sterben in einer Justizvollzugsanstalt (JVA), der Sicherungsverwahrung (SV) oder einem Justizvollzugskrankenhaus (JVK) konfrontiert sind; eine Person ist hauptamtlich in einem regionalen Hospiz- und PalliativVerband tätig (Tab.
1).
Tab. 1
Zusammensetzung des Samples (n = 14)
4 | Koordination ambulanter Hospizdienst |
3 | Ehrenamtliche Hospizbegleitung |
2 | Hauptamtliche Seelsorge JVA |
1 | Pflegefachperson JVK |
1 | Pflegedienstleitung JVK |
1 | Ehrenamtlich tätig in SV und JVK |
1 | Verwaltung JVK |
1 | Hauptamtlich Hospizverband |
Mit den
n = 14 Interviewpartner:innen wurden zwischen Februar und Juni 2024 leitfadengestützte Expert:inneninterviews [
35] geführt, wobei der Interviewleitfaden allerdings nicht als strukturierter Fragebogen verstanden werden darf. Vielmehr soll er das Hintergrundwissen der Interviewenden thematisch organisieren und somit eine kontrollierte und vergleichbare Herangehensweise an den Forschungsgegenstand ermöglichen [
27]. Der Leitfaden beinhaltete 1. eine Erzählaufforderung, um der interviewten Person einen selbstgewählten Einstieg in das Thema sowie eine eigenstrukturierte Positionierung und Thematisierung zu ermöglichen, 2. sich anschließende offene sowie zugleich problemzentrierte Leitfragen, die sich auf die hospizlich-palliative Versorgung von Gefangenen bezogen und 3. sog. Aufrechterhaltungsfragen, um bestimmte Themenschwerpunkte und Relevanzsetzungen der Befragten zu vertiefen und auf diese Weise das Gespräch aufrecht zu erhalten. Zudem wurden zum Ende des Interviews ggf. konkrete Nachfragen gestellt, wenn z. B. bestimmte Themenfelder noch nicht ausreichend berührt wurden. Mit dem beschriebenen Vorgehen sollte einerseits Raum für die subjektiven Relevanzsetzungen gegeben, andererseits aber auch eine flexible und dynamische Handhabung von Strukturierung und Offenheit umsetzbar werden [
27]. Am Ende des Interviews hatten die Interviewten Gelegenheit, Dinge zu ergänzen, die bislang ggf. nicht thematisiert wurden, ihnen aber wichtig waren.
Die Interviews wurden computergestützt (mit f4
transcript) transkribiert, über ein deduktiv-induktiv entwickeltes Kategoriensystem (mithilfe von f4
analyse) kodiert und im Sinne der inhaltlich strukturierenden, qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet [
28]; d. h. die Kodes entsprachen einerseits den oben genannten Forschungsfragen und wurden andererseits am Interviewmaterial entwickelt. Diese deduktiv-induktive Generierung von Kodes erlaubt eine strukturierte und zugleich für neue Erfahrungsfelder offene Kodierung und Auswertung des Materials. Ziel der Studie war dabei eine qualitative Bestandsaufnahme hinsichtlich der Möglichkeiten und Herausforderungen der hospizlich-palliativen Versorgung in Haft.
Ergebnisse
Die folgende Ergebnisdarstellung blickt v. a. aus einer pflegewissenschaftlichen Perspektive auf die hospizlich-palliative Versorgung in Haft. Den Anfang bilden dabei die Rahmenbedingungen des Settings Strafvollzug (a), die maßgeblich Einfluss auf die palliative Pflege und Versorgung in Haft (b) sowie die Begleitung durch ehrenamtliche Hospizmitarbeiter:innen (c) haben. Den Abschluss bilden einige neuere Entwicklungen und Initiativen (d).
a. Gefängnis: eigentlich kein Ort zum Sterben
Hinsichtlich der Frage, ob und wie Gefangene im Falle progredient verlaufender Erkrankungen hospizlich-palliativ versorgt werden (können), wird von den Befragten zunächst auf die institutionellen Rahmenbedingen des Strafvollzuges verwiesen. Der Strafvollzug sei in erster Linie an Sicherheit orientiert, Sterben und Tod irritieren die entsprechenden Routinen und Regelungen: „Sterben braucht ganz viele Ausnahmen von diesen Regelungen, die auf Sicherheit abzielen. Die muss man gewillt sein umzusetzen, sonst wird es schwierig. Also ich muss gewillt sein […] Angehörige rein zu lassen […] extra Pflege muss ans Bett, es braucht offene Türen (.) Also es gibt eine ganze Menge Unruhe in der Anstalt. Also eigentlich ist Sterben im Vollzug total lästig“ (I_9, Z 389–394).
Es sind u. a. diese Rahmenbedingungen, die dazu führen, dass die Institution versucht, das Sterben in Haft zu vermeiden und es nach Möglichkeit in Settings außerhalb des Strafvollzuges zu verlagern: „Die Regel ist immer noch, ein bisschen zu versuchen, zu enthaften, ein Problem los zu werden“ (I_10, Z 121–122). Zugleich wird aber auch moralisch-normativ argumentiert, dass ein würdiges Sterben in Freiheit ermöglicht werden sollte, was aber aus unterschiedlichen Gründen nicht immer gelingt: Das kann an der vermuteten fortbestehenden Gefährlichkeit eines oder einer Gefangenen liegen, die einer Entlassung entgegensteht, an nicht vorhandenen extramuralen Kapazitäten oder auch daran, dass Pflegeheime oder Hospize sich weigern, Personen mit bestimmten Straftaten aufzunehmen: „Es ist ja nicht so, dass jedes Hospiz sagt: Juhu, wir nehmen einen Mörder oder Vergewaltiger mit auf, wo 90 % des Pflegepersonals weiblich ist und wie wir wissen, jede dritte oder vierte Frau schon sexuelle Missbrauchserfahrungen im Leben gemacht hat. Also das verkompliziert das ganze enorm“ (I_5, Z 181–185).
Überdies kann es passieren, dass der Entlassungszeitpunkt nicht mit den Möglichkeiten der extramuralen Einrichtung übereinstimmt: Entweder die Behörden entscheiden eine sofortige Enthaftung, ohne dass ein Pflegeplatz vorhanden ist, oder sie entscheiden zu spät, „dann ist der Heimplatz auch schon wieder vergeben. Und in diesem Dilemma stecken wir jedes Mal“ (I_8, Z 215–216). Und schließlich formulieren manche Gefangene auch explizit das Bedürfnis, in Haft zu versterben, woraus alle von uns Befragten den Schluss ziehen, dass dies dann auch im Gefängnis ermöglicht werden sollte: „Und dann muss es der richtige Ort sein und wir müssen sie dabei begleiten“ (I_11, Z 150–151). Die Einrichtung anstaltsinterner Hospize, wie es sie in den USA gibt, wird in diesem Zusammenhang allerdings kritisch gesehen, weil damit der Tod in Haft gewissermaßen institutionalisiert werde: „Die letzte Stufe wäre jetzt, ich mache sozusagen noch knastintern ein Hospiz. Wenn ich nicht mehr kurativ behandelt werden kann, dass selbst DAS dann kein Grund mehr ist zu sagen: So, jetzt ist aber auch mal gut mit der Strafe. Also das finde ich […] auch ethisch durchaus schwierig“ (I_7, Z 487–494).
b. Palliative Pflege und Versorgung in Haft
Wenn palliative Pflege und Versorgung in Haft erfolgt, findet diese in aller Regel nicht auf der Zelle der Gefangenen statt: „Denn leider gibt es in der Anstalt keinen ambulanten palliativen Dienst, der kommt und dort die Pflege machen kann. Es gibt keinen Pflegedienst, den man engagieren kann. Das sind alles Dinge, die in der Zelle nicht funktionieren“ (I_4, Z 627–630). Zwar würden einfache Pflege- und Unterstützungshandlungen gelegentlich auch von Bediensteten des AVD oder auch von Mitgefangenen übernommen, was aber nur bis zu einem gewissen Grad möglich und verantwortbar sei: „Das ist ja zu Hause auch so. Auch wenn man sagt, man möchte einen Menschen zu Hause pflegen, irgendwann kommt man da ja an die Grenzen und das ist im Vollzug natürlich auch so“ (I_7, Z 429–432).
Aus diesem Grund werden Schwerstkranke in aller Regel auf die Krankenstation einer JVA oder in ein JVK verlegt. Die pflegerische Versorgung sowie die entsprechende Ausstattung insbesondere der JVK werden in diesem Zusammenhang als gut beschrieben. Ein:e Befragte:r verweist dabei insbesondere auf die institutionelle und pflegerische Bereitschaft, „eine würdevolle Versorgung bei uns zu ermöglichen […] Wir können Einzelne einzeln legen. Wir können mit Hospizdiensten zusammenarbeiten, dass sie rein können. Wir können Sonderkostformen ermöglichen, wir können auch ganz, ganz, ganz viel möglich machen. Und das geht so weit, dass wir auch Besuche am Bett zulassen“ (I_8, Z 241–248).
Gleichwohl stellt die Pflegebeziehung zu den schwerstkranken Gefangenen auch eine Herausforderung der (palliativen) Pflege in Haft dar. Da Pflegefachpersonen in Haft in aller Regel auch eine Ausbildung als Strafvollzugsbeamt:innen haben, müssen sie im Sinne einer „doppelten Loyalität“ mit den unterschiedlichen Anforderungen an die Gewährleistung von Sicherheit einerseits und die empathische Pflege andererseits umgehen. Auf der einen Seite sind sie „echte Pflegekräfte, die gerne mehr Zeit verbringen würden und sich so kümmern würden, wie sie das von ihrer Pflegeausbildung gewohnt sind. Und auf der anderen Seite sind sie aber in diesem Spannungsfeld der Sicherheit […] Setze ich mich ans Bett? Eigentlich bin ich ja im Alltag im Gefängnis darauf getrimmt, Distanz zu halten. Gefangene anfassen? Schwierig. Bin ich da mehr als eine halbe Stunde? Was sagen meine Kollegen?“ (I_9, Z 84–90).
Besonders deutlich wird diese Problematik der unterschiedlichen Anforderungen auch im Falle des Versterbens eines oder einer Gefangenen, denn mit Eintritt des Todes wird der Ort der palliativen Pflege zu einem Tatort, der nicht mehr verändert werden darf: „S
obald bei uns jemand verstirbt, rollt ein ganz großer Apparat an, um maximal auszuschließen, dass ein Fremdverschulden dahintersteckt, also seitens der Behörden oder anderer Mitpatienten. Und deswegen ist es dann in dem Moment ein Tatort und wir müssen dann raus“ (I_8, Z 181–184). Dieses abrupte Ende der Pflegebeziehung ist für manche Pflegefachpersonen sehr belastend, da der Leichnam nicht mehr – wie professionell vorgesehen [
15] – pflegerisch versorgt werden darf: „
da stand mir eine Kollegin gegenüber im Büro, ganz junge Krankenpflegerin, die tatsächlich Tränen in den Augen hatte, und sagte, ihr wäre es so schwer gefallen, dass sie diesen Menschen nicht mal fertig machen durfte“ (I_9, Z 92–94).
c. Begleitung durch Ehrenamtliche
Neben dem Pflegepersonal sind es inzwischen vereinzelt auch qualifizierte ehrenamtliche Mitarbeitende von ambulanten Hospizdiensten, die in die Begleitung schwerstkranker und sterbender Gefangener eingebunden sind. Auch wenn alle Befragten darin übereinstimmen, dass alle Menschen auch in Haft das Recht auf eine hospizliche Begleitung haben sollten, entscheidet zunächst der Strafvollzug anhand einer Einschätzung des Gefährdungspotentials, ob der oder die jeweilige Gefangene infrage kommt. Wird einer Begleitung von Seiten der Anstalt zugestimmt, bekommt „der Hospizdienst keine Straftaten und Daten genannt. Also die wissen nicht, wen sie besuchen. Außer jemand erzählt es dann. […] Also, sie müssen uns so weit vertrauen, dass sie ihre Ehrenamtlichen da hinschicken“ (I_9, Z 580–583).
Kommt es im Folgenden zu einer Kooperation, werden die Ehrenamtlichen in der JVA allerdings zunächst häufig als Mehrarbeit empfunden: „Jetzt dürfen wir uns um die hier auch noch kümmern“ (I_9, Z 364–365). Denn die Sicherheitslogik erfordert es z. B., sie an der Pforte zu erfassen und zu kontrollieren und zu den Gefangenen „durchzuschließen“. „Dann muss immer jemand auch abgestellt werden, der dabeibleibt, denn ein Gefangener darf mit einem Hospizbegleiter nicht unbedingt alleine gelassen werden, es muss ein Beamter dabei sein“ (I_4, Z 246–250). Bei aller Mehrarbeit schätzen es manche Bedienstete aber auch durchaus wert, dass Ehrenamtliche eine andere Form der Beziehung zu den Gefangenen aufbauen können: „Ja, also ich finde das Pflegepersonal, wir, werden dadurch entlastet. Also es ist wirklich was Besonderes. Ja, aber auch was Gutes“ (I_11, Z 213–215).
Die Ehrenamtlichen wiederum sind im Falle der Begleitung eines oder einer Gefangenen mit besonderen Herausforderungen konfrontiert: Einerseits ist die gegenseitige Vertrauensbildung erschwert: „Man sollte sich darauf einstellen, dass der Prozess der Herausbildung von Vertrauen ein sehr langwieriger ist“ (I_1, Z 90–91). Andererseits sind sie durch die spezifischen Umstände in ihrem Handeln beschränkt: „abgeschlossene Türen, feste Regeln, wenig Autonomie. Also ich kann ja als Gefangener nicht entscheiden: Was möchte ich heute essen? Was möchte ich heute machen? Möchte ich noch mal an die frische Luft?“ (I_9, Abs. 59). Auf Bedürfnisse dieser Art kaum eingehen zu können, unterscheidet die Qualität hospizlicher Begleitung in Haft wesentlich von der in der Häuslichkeit oder anderen Institutionen: „Das ist ja, was wir versuchen, noch mal vielleicht […] nach Wünschen zu fragen“ (I_9, Abs. 59). Zudem ist die Begleitung in Haft in aller Regel an die zeitlichen Vorgaben der JVA gebunden, „und das ist ja eine hospizliche Begleitung zu Hause nicht. Da guckt man eben halt, was ist da für ein Bedarf? Oder muss ich jetzt mal eben ein bisschen bleiben oder ist es Zeit zu gehen? […] Oder man denkt, ich fahr da noch mal eben vorbei, ich habe kein gutes Gefühl. Aber das ist ja im Justizvollzug nicht gegeben“ (I_11, Z).
d. Perspektiven hospizlich-palliativer Versorgung in Haft
Alle von uns befragten Personen berichten davon, dass es in der jüngeren Vergangenheit zunehmend eine Offenheit für Fragen hospizlicher Begleitung in Haft gebe, mit der auch neue Überlegungen, Initiativen und Entwicklungen einhergehen. So wurde in einer Anstalt ein fachlicher (gut besuchter) Austausch zwischen Hospizmitarbeiter:innen und Justizvollzugsbeamt:innen initiiert, aus dem eine Palliativarbeitsgruppe hervorging, die sich u. a. mit Fragen der würdevollen Begleitung von Sterbenden befasst: Zwar sei es schwierig, „baulich was zu verändern, aber nach unserer Idee ist das auch gar nicht nötig, weil der Haftraum ja in dem Moment das Zuhause ist“ (I_9, Z 454–455), den es entsprechend zu gestalten gilt. Zu denken sei aber auch an einen speziellen Raum: „Also wir hätten tatsächlich gerne einen Raum, einen Hospizraum […] der in solchen Fällen einfach etwas anders gestrichen ist, wo die Vorhänge andere sind, der vielleicht etwas freundlicher wirkt, wo ich aber trotzdem die Möglichkeit habe, denjenigen, so ich sag mal, unterzubringen, dass es für ihn gut ist, dass er sich da vielleicht etwas wohler fühlt, dass die Angehörigen, die da reinkommen, vielleicht auch sich etwas wohler fühlen“ (I_8, Z 260–267).
Diese Beispiele verweisen darauf, dass viele Bedienstete das Bedürfnis haben, Sterbende auch in Haft würdevoll zu begleiten, wenn eine Enthaftung nicht möglich oder von Gefangenen nicht gewünscht ist. Um die (hospizlichen) Kompetenzen der Bediensteten zu stärken, wird angeraten, das Thema Tod und Sterben zum Thema von Fortbildungen zu machen. Zu bedenken sei überdies eine dienstliche Förderung der Teilnahme an „Letzte Hilfe“-Kursen [
7] oder auch an Kursen zur „Qualifizierten Vorbereitung Ehrenamtlicher in der Sterbebegleitung“ [
16], die von ambulanten Hospizdiensten angeboten werden.
Ein weiterer Ort der Thematisierung von Sterben und Tod sind in einigen Anstalten Trauergottesdienste, die den Mitgefangenen, aber durchaus auch den Bediensteten ein Ritual des Abschiednehmens ermöglichen: „Dann war die Idee gar nicht nur […] was für Inhaftierte zu tun, sondern auch für Bedienstete, die das tatsächlich auch belastet“ (I_9, Z 73–75). Ein:e andere:r Befragte:r erinnert sich, „dass ein kranker Gefangener nach einem Trauergottesdienst mal zu uns kam und sagte: ‚Macht ihr das für mich auch, wenn ich sterbe?‘ Und auf einmal war das ein Thema. Man hatte eine Sprache dafür. Es gab einen Ort für die Traurigkeit. Die Männer konnten Abschied nehmen. Das war ja vorher alles nicht da“ (I_7, Z 207–211).
Diskussion
Die dargelegten Befunde bestätigen zunächst einmal, dass die rigiden institutionellen Rahmenbedingungen des Vollzugs die Ausgestaltung pflegerischer Prozesse maßgeblich prägen [
3,
29,
36,
37,
50]. Insbesondere die Problematik der „doppelten Loyalität“ [
40] bzw. der Widerspruch von Strafe und Fürsorge [
38,
42] wurde auch von unsern Interviewpartner:innen thematisiert: Eine professionelle, der Situation in Freiheit äquivalente, palliative Pflege ist in Haft strukturell erschwert, was von Pflegefachpersonen durchaus als belastend empfunden werden kann. Insofern kann die Einbeziehung externer, ehrenamtlicher Hospizbegleiter:innen eine Ressource in der palliativen Pflegesituation sein [
17], weil die Ehrenamtlichen – zumindest potenziell – einen gänzlich anderen Zugang zu den Gefangenen aufbauen können, der der doppelten Loyalität nicht unterliegt.
Viele Studien kommen zu dem Ergebnis, dass die Institution Strafvollzug versucht, ein Versterben von Gefangenen in Haft zu vermeiden: Zum einen weil das Gefängnis nicht als eine menschenwürdige Umgebung eingeschätzt wird [
4,
5,
38], zum anderen weil das Sterben die institutionellen Routinen stört [
25]. Unsere Ergebnisse stützen diese Befunde und können ein stückweit erklären, warum z. B. ambulante Hospizdienste bzw. deren Ehrenamtliche von den Anstalten bis heute nicht regelhaft angefragt werden.
Gleichwohl scheint in den vergangenen Jahren zumindest in einigen JVAen eine gewisse Offenheit hinsichtlich hospizlich-palliativer Versorgung entstanden zu sein. Zwar hatten Bereswill und Neuber [
4,
5] zu Recht betont, dass auf die Bedürfnisse von schwerstkranken und sterbenden Gefangenen stets nur in Form von Einzelfalllösungen eingegangen werde, die eine Institutionalisierung von Sterbeprozessen in Haft vermeiden (sollen) [
38]. Die von uns Befragten berichten hingegen von ersten einzelnen Initiativen für eine kontinuierliche Kooperation, die sowohl von ambulanten Hospizdiensten als auch einzelnen Haftanstalten ausgehen. Diese vorsichtig einsetzende Aufgeschlossenheit hat sicherlich auch damit zu tun, dass die Themen Hospizarbeit und Palliative Care in den vergangenen Jahren gesellschaftlich an Bedeutung gewonnen haben und zunehmend auch vulnerable Gruppen einbeziehen [
9,
18].
Diese Annäherung verweist u. E. weniger auf einen Prozess der Institutionalisierung des Sterbens in Haft, sondern eher auf das Bedürfnis bei allen Beteiligten, einen Umgang mit diesen Situationen zu finden. Hierbei kann es dann hilfreich sein, Sterben als ein soziales Beziehungsereignis zu begreifen, das über den Tod hinausweist [
32] und Formen des Abschieds und der Trauer bedarf [
38]. Eine solche Abschieds- und Trauerkultur kann sowohl für Mitgefangene als auch Bedienstete von Bedeutung sein. Zugleich dokumentiert sie, dass Sterben und Tod nicht abgeschoben werden können, sondern auch in Haftanstalten zum Leben dazu gehören – auch wenn dabei stets die Ermöglichung eines Lebensendes in Freiheit im Blick behalten werden sollte.
Limitationen
Das Ziel der vorliegenden qualitativ-explorativen Studie, für die mit 14 Personen Expert:inneninterviews geführt wurden, war eine qualitative Bestandsaufnahme der Möglichkeiten und Herausforderungen der hospizlich-palliativen Versorgung in Haft. Die Rekrutierung der Interviewpartner:innen erfolgte zwar bundesweit, die konkreten Ergebnisse beziehen sich aber nur auf einige wenige der insgesamt 172 JVAen in Deutschland. Die Ergebnisse sind daher in quantitativer Hinsicht nicht repräsentativ. Gleichwohl war die Methode insoweit angemessen und erfolgreich, als ein breites Spektrum der bestehenden Probleme und Positionen, aber auch des heute bereits Möglichen aufgezeigt werden konnte.
Hinweis des Verlags
Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.