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Erschienen in: Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie 4/2022

Open Access 18.10.2022 | Substanzabusus | Journal Club

Psychiatrischer Beitrag

Behandlungsangebote für psychische und substanzgebundene Störungen können das Reinhaftierungsrisiko erhöhen

verfasst von: Dr. med. Stjepan Curic

Erschienen in: Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie | Ausgabe 4/2022

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Bei Personen in Haft ist die Prävalenz psychiatrischer Erkrankungen erhöht. Gerade nach einer Entlassung ist diese Personengruppe durch selbstverletzendes Verhalten, Überdosierung mit und ohne Todesfolge oder Suizid einem erhöhten Morbiditätsrisiko ausgesetzt. Die Wahrscheinlichkeit erneuter Inhaftierung ist ebenfalls erhöht. Behandlungsangebote für psychische und substanzgebundene Störungen sollen dazu beitragen, das Reinhaftierungsrisiko zu reduzieren. Die Evidenz für die Wirksamkeit solcher Therapieangebote ist jedoch heterogen. In einer kürzlich erschienenen Studie von Thomas et al. (2022) untersuchten die Autor:innen an einer der größten je untersuchten Kohorten von Personen, die aus der Haft entlassenen wurden (n = 1115), wie die Nutzung des Behandlungsangebots für psychische und substanzgebundene Störungen mit dem Risiko erneuter Inhaftierung zusammenhängt.
Zu diesem Zweck wurden Personen, die zwischen 2008 und 2010 aus einer Haft in Queensland, Australien, entlassen wurden, bis zum Ende des Jahres 2012 beobachtet. Die Zielvariable, die über ein Inhaftierungsregister erfasst wurde, war die Zeit von der Entlassung aus dem Gefängnis bis zur erneuten Inhaftierung. Außerdem betrachteten die Autor:innen die Relevanz des Erstkontaktzeitpunkts (< 30 Tage nach der Entlassung vs. später) sowie die Frequenz der Kontakte. Dies geschah unter der Vorstellung, dass gerade frühe und häufige Kontakte für einen Behandlungserfolg maßgebend sind. Die Nutzung des Behandlungsangebots für psychische und substanzgebundene Störungen (z. B. Krankenhauskontakte, Entzugsbehandlungen, Besuche von Beratungsstellen, Pharmakotherapie, Case-Management, Krisenintervention) wurden über 4 Register erfasst.
Mithilfe des Cox-Modells sollte der Einfluss von Kontakten zum Behandlungsangebot auf die Zeit bis zur erneuten Inhaftierung untersucht werden. Das Modell wurde durch eine Vielzahl von Kovariaten korrigiert: Lebenszeitindikatoren für eine schlechte psychische Gesundheit und der psychische Gesundheitszustand wurden zu Studienbeginn erfasst. Die Studie erhob Daten zu affektiven, Angst- oder Störungen aus dem schizophrenen Formenkreis sowie zur gegenwärtigen Psychopharmakotherapie. Das Maß intellektueller Beeinträchtigung (Hayes Ability Screening Index), die allgemeine psychische Belastung (Kessler Psychological Distress Scale), allgemeine Gesundheitsstatus (SF-36-Fragebogen) wurden ebenfalls zu Studienbeginn erfasst. Hinweise auf Substanzmissbrauch wie z. B. intravenösen Drogenmissbrauch, problematischen Alkoholkonsum (Alcohol Use Disorders Identification Test) und schädliche Folgen eines Substanzmissbrauchs (Alcohol Use Disorders Identification Test; Alcohol, Smoking and Substance Involvement Screening Test) und demografische Daten wurden erhoben und zur Korrektur des Cox-Modells verwendet.
Der Bewährungsstatus bei der Entlassung, die Zahl der Vorstrafen, die Zahl der Vorinhaftierungen, die Art der Delikte (drogenassoziiert, Gewaltdelikte), ein Risikoscore (QCS-Risk of Reoffending) und etwaige Jugenddelinquenz wurden ebenso in die Modellierung aufgenommen wie Indikatoren für den sozioökonomischen Status und das Maß an sozialer Unterstützung.
Von ursprünglich 1325 Personen zum Zeitpunkt der Baseline-Testung gab es bei 1115 Personen Daten zu allen Kovariaten. Das mediane Alter betrug 33 Jahre; es wurden 20 % weibliche Personen eingeschlossen. Als indigen identifizierten sich 20 % der Teilnehmenden. In der Kohorte hatten 40 % weniger als 10 Jahre Schulbildung, 40 % waren arbeitslos, und 40 % hatte ein Einkommen unter der Armutsgrenze.
Von den Untersuchten waren 67 % vorinhaftiert, davon waren 27 % in Jugendhaft gewesen. Bei einem Drittel der Teilnehmenden stand das Anlassdelikt im Zusammenhang mit Betäubungsmitteln, bei 50 % im Zusammenhang mit einem Gewaltdelikt. Zur Bewährung wurden 60 % der Teilnehmenden entlassen.
Es wurden 30 % der Personen psychopharmakologisch behandelt. Ein Anteil von 17 % der Teilnehmenden litt an einer affektiven Störung, 7,5 % an einer Angststörung und 3,8 % an einer Schizophrenie. Von den Untersuchten hatten 25 % ein hohes Maß an psychischem Disstress, gemessen mit der K10-Screening-Skala. Anhand des SF36 konnten 5 % der Teilnehmenden mit einem niedrigen psychischen Gesundheitsniveau identifiziert werden.
Von den Teilnehmenden berichteten 55 % bereits intravenös Drogen eingenommen zu haben, davon in 20 % während einer Haft. Ein riskanter Konsum von Alkohol 6 Monate vor der Inhaftierung wurde bei 36 % der Teilnehmenden beobachtet (17–46 % für andere Substanzen).
Mindestens einen Kontakt zum Behandlungsangebot für psychische Störungen hatten 19 % der Teilnehmenden. Die mediane Zeit bis zum Erstkontakt betrug ca. ein halbes Jahr. Von diesen Personen hatten 36 % nur einen Kontakt, 18 % zwei und 46 % mindestens 3 Kontakte.
Zum Behandlungsangebot für substanzgebundene Störungen hatten 24 % der Teilnehmenden Kontakt. Im Median betrug die Zeit bis zur ersten Kontaktaufnahme 130 Tage. Hier unterschied sich die Zeit von Personen mit Bewährungsstrafen deutlich, von derjenigen ohne (119 Tage vs. 211 Tage). Von den Personen, die das Suchthilfesystem aufsuchten, hatten 50 % einen, 34 % zwei und 16 % mindestens 3 Kontakte.
Die anhand der Kovariaten adjustierte Hazard Ratio (AHR) für die Wiederinhaftierung im Zusammenhang mit Kontakten zum Behandlungsangebot für psychische Störungen betrug 1,76. Das bedeutet, dass diejenigen mit Kontakt zu den Behandlungsangeboten, selbst nach einer Korrektur für alle Kovariaten, ein 76 % höheres Risiko einer erneuten Inhaftierung hatten. Unter denjenigen, die nach der Entlassung nicht auf Bewährung waren, betrug die AHR für Wiederinhaftierung im Zusammenhang mit dem Kontakt mit dem Angebot für substanzgebundene Störungen 3,16. Bei den Personen, die auf Bewährung entlassen wurden, fanden sich keine Unterschiede zwischen Personen, die das Gesundheits- bzw. Suchthilfesystem konsultieren oder keinen Kontakt zu diesem hatten (AHR = 1,07).
In der sekundären Analyse, in der untersucht wurde, inwiefern es einen Unterschied macht, ob Entlassene innerhalb von 30 Tagen oder später einen der Dienste aufsuchten, zeigte sich, dass diejenigen, die später ein Angebot für psychische Störungen aufsuchten (AHR = 3,19), deutlich höhere Raten erneuter Inhaftierung hatten, als diejenigen mit frühen Kontakten zu diesem Behandlungsangebot (AHR = 1,76). Bei Personen, ohne Bewährungsstrafe, machte der Zeitpunkt des Kontakts zum Suchtbehandlungsangebot jedoch keinen Unterschied. Ebenso ergab sich kein Unterschied abhängig von der Frequenz der Nutzung der Behandlungsangebote für psychische oder substanzbezogene Störungen.
Zusammenfassend wurde in dieser prospektiven Studie mit aus der Haft entlassenen Erwachsenen gezeigt, dass der Kontakt zum Behandlungsangebot für psychische und substanzbezogene Störungen mit einem erhöhten Risiko für eine erneute Haft verbunden war, selbst nachdem vorbestehende Morbidität, bekannte Risikofaktoren für Reinhaftierung, Indikatoren für Bedürfnisse im Bereich der psychischen Gesundheit, insbesondere für Substanzmissbrauch, kontrolliert wurden.
Die Autor:innen räumen ein, dass ein „residuales Confounding“ nicht ausgeschlossen werden kann. Das bedeutet, dass es eine gemeinsame, nichterkannte Ursache für sowohl die Nutzung des Behandlungsangebots als auch für die spätere Reinhaftierung geben könnte. Es wäre denkbar, dass Personen mit einem erhöhtem Behandlungsbedarf unzureichend über die gemessenen Kovariaten erfasst wurden.
Wer ohne eine Bewährungsstrafe das Suchthilfesystem in Anspruch nimmt, hatte ein 4fach erhöhtes Risiko erneuter Inhaftierung. Eine Erklärung wäre, dass Bewährungsstellen einen frühen, effektiven Zugang zum Suchthilfesystem in einem vulnerablen Fenster ermöglichen. Personen, die das Suchthilfesystem sehr häufig aufsuchten, zeigten kaum einen Unterschied bezüglich der Reinhaftierungsrate im Vergleich zu Personen, die dieses selten in Anspruch nahmen.
Die Studie klärt nicht auf, welche Art von Behandlung sich im Vergleich zu anderen bewährt haben könnte. Die Autor:innen haben auch nicht unterschieden zwischen Reinhaftierung wegen Bewährungswiderrufs oder erneuter Delinquenz, sodass es einen Unterschied zwischen diesen beiden Gruppen geben könnte.
Die Autor:innen haben nur nach Indikatoren einer vergangenen Sucht oder Belastung durch psychiatrische Erkrankungen gescreent, nicht jedoch nach akuten Hinweisen auf Suchtprobleme zum Baseline-Zeitpunkt. Die Daten sind ein Jahrzehnt alt, was eine Übertragbarkeit auf die heutige Situation ebenfalls limitiert. Eine Übertragbarkeit der Schlussfolgerungen auf den deutschsprachigen Raum ist aufgrund der Unterschiede im Gesundheitssystem nicht ohne Replikation möglich.
Die Studie deutet darauf hin, dass eine verzögerte und niedrigfrequente Einbindung in psychosoziale Behandlungsangebote möglicherweise nicht nur unzureichend sein könnte, um eine erneute Inhaftierung zu verhindern, sondern sogar eine Reinhaftierung begünstigen könnte. Ein zeitnahes Behandlungsangebot für aus der Haft entlassene Personen mit psychischen Störungen, welches auch Risikofaktoren zukünftiger Delinquenz erfasst und behandelt, könnte nicht nur helfen, gesundheitliche Risiken zu minimieren, sondern auch das Reinhaftierungsrisiko und die damit verbundenen negativen Gesundheitsfolgen zu verringern.

Interessenkonflikt

S. Curic gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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Metadaten
Titel
Psychiatrischer Beitrag
Behandlungsangebote für psychische und substanzgebundene Störungen können das Reinhaftierungsrisiko erhöhen
verfasst von
Dr. med. Stjepan Curic
Publikationsdatum
18.10.2022
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
Erschienen in
Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie / Ausgabe 4/2022
Print ISSN: 1862-7072
Elektronische ISSN: 1862-7080
DOI
https://doi.org/10.1007/s11757-022-00739-3

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