Neue Leitlinien zur Alkohol-, Tabak- und Medikamentensucht

Was tun bei Suchterkrankungen? Drei neue Leitlinien geben Empfehlungen zu Diagnose und Therapie. Erstmals dabei: eine S3-Leitlinie zur Abhängigkeit von Arzneien. Seit dem Jahresbeginn gibt es für Psychiater, Psychotherapeuten und Suchtmediziner gleich drei neue Leitlinien zur Suchterkrankungen: Die DGPPN* sowie die Deutsche Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie (DG-SUCHT) haben die Leitlinien zur Alkohol- und Tabaksucht aktualisiert sowie eine komplett neue S3-Leitlinie zur Medikamentenabhängigkeit erstellt. Der Missbrauch von Alkohol, Tabak und Medikamenten werde noch immer verharmlost, ist mit großen Gesundheitsrisiken und mit einer signifikant verminderten Lebenserwartung verbunden, so DGPPN-Präsident Professor Thomas Pollmächer auf einer virtuellen Pressekonferenz zur Vorstellung der Leitlinien [1]. „Studien zeigen, dass der erste Lockdown überdies zu einem Anstieg des Alkohol- und Tabakkonsums geführt hat“, erläuterte der Experte. Er nannte eine Erhebung aus Süddeutschland, nach der für den ersten Lockdown im Frühjahr 2020 ein erhöhter Alkohol- und Tabakkonsum bei etwa 40% der befragten Personen festgestellt wurde. „Eine alarmierende Zahl, die auf ein Problemfeld hindeutet, dessen Ausmaß wir erst nach dem Ende der Pandemie wirklich kennen werden.“ Der DGPPN-Präsident verwies auf die vielen Therapie- und Präventionsangebote, die viel zu wenig in Anspruch genommen werden. „Corona hat die Situation zusätzlich verschärft.“ Ferner mangele es an Wissen darüber, was moderne Suchttherapien und Rehabilitation leisten könnten. Die Leitlinien richten sich nicht nur an Ärzte und Therapeuten, sie sollen auch die Gefahren, die vom Alkohol-, Tabak- und Medikamentenkonsum ausgehen, in der Gesellschaft bekannter machen und für ein frühes Screening sowie rechtzeitige Interventionen werben, sagte Pollmächer. Frühdiagnostik im Fokus Ein Fokus der S3-Leitlinie „Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen“ ist die Frühdiagnostik und Frühintervention, erläuterte Professor Falk Kiefer, Ärztlicher Direktor der Klinik Abhängiges Verhalten und Suchtmedizin in Mannheim [2]. „95% der Patienten werden beim Arzt nicht nach ihrem Alkoholkonsum gefragt“, sagte Kiefer. Wichtig sei es, Patienten auf alkoholbezogene Störungen zu screenen, vor allem solche mit Komorbiditäten, die häufig mit einem erhöhten Alkoholkonsum einhergehen. Dazu zählt der Suchtmediziner etwa Depressionen und Angststörungen. Er plädierte auf der Pressekonferenz für einen integrierten Ansatz: Ärzte sollten keine antidepressive Therapie einleiten, ohne den Alkoholkonsum zu erfassen, auf der anderen Seite nütze es auch wenig, nur die Sucht anzugehen und die Depression zu vernachlässigen. Kiefer wies darauf hin, dass derzeit nur etwa 10% der Alkoholabhängigen eine Therapie erhalten, obwohl es hochwirksame Behandlungen gebe. Ein Grund sei die starke Stigmatisierung Alkoholkranker. Aus dieser Stigmatisierungsfalle müsse man herauskommen. Opioidkonsum steigt In der ersten S3-Leitlinie „Medikamentenbezogene Störungen“ geht es vor allem um problematische Substanzen wie Benzodiazepine und Opioide [3]. Schätzungen gehen in Deutschland von 1,2–1,5 Millionen Benzodiazepin- und etwa einer halben Million Opioidabhängigen aus, erläuterte Professorin Ursula Havemann-Reinecke von der Deutschen Gesellschaft für Pharmakologie und Toxikologie. „Aktuelle Daten weisen auf eine Zunahme des Konsums hochpotenter Opioide hin, der Konsum von Benzodiazepinen hat dagegen abgenommen“, sagte die Expertin. Als weitere relevante Stoffgruppen nannte sie Gabapentinoide, Cannabinoide und Stimulanzien. Professor Anil Batra, Leiter der Sektion Suchtmedizin und Suchtforschung an der Universität Tübingen, verwies darauf, dass rund 60% aller Nichtraucher das 80. Lebensjahr erreichen, aber nur 26% der Raucher. „Diese Zahlen rechtfertigen stärkere Bemühungen zur Prävention und Behandlung der Tabakabhängigkeit“, sagte der Experte. Niederschwellige Angeboten nützen Rauchern wenig Die neue Leitlinie „Rauchen und Tabakabhängigkeit: Screening, Diagnostik und Behandlung“ beschreibt etwa den Nutzen von Psychotherapien und medikamentösen Interventionen [4]. Sie gibt zudem Empfehlungen für besondere Gruppen wie Schwangere und psychisch Kranke. Anzustreben sei eine absolute Abstinenz, und das gelinge oft nur mit intensiven therapeutischen Ansätzen, weniger gut mit Kurzinterventionen oder niederschwelligen Angeboten. Batra kritisierte, dass die Krankenkassen derzeit meist nur verhaltenstherapeutisch orientierte Raucherentwöhnungsgruppen bezuschussen, aber nicht die medikamentöse Unterstützung und die in Einzelfällen notwendige verhaltenstherapeutische Behandlung finanzieren. Die neue Leitlinie zur Tabaksucht stößt aber nicht nur auf Zustimmung. Professor Heino Stöver vom Institut für Suchtforschung in Frankfurt am Main (ISFF) bedauert, dass E-Zigaretten zur Unterstützung der Tabakabstinenz nicht wie von der Deutschen Gesellschaft für Suchtmedizin angeregt in die Leitlinie aufgenommen wurden [5]. „Raucher scheitern regelmäßig daran, von jetzt auf gleich aufzuhören. Die Abhängigkeit ist zu stark. Ihnen wäre aber zunächst sehr geholfen, wenn Ärztinnen und Ärzte ihnen zum Umstieg auf weniger schädliche Produkte, wie zum Beispiel E-Zigaretten, Tabakerhitzer oder tabakfreie Nikotinprodukte, raten würden. Diese Empfehlung der DGS zu ignorieren, ist für mich einer der zentralen Schwachpunkte in der Leitlinie“, so Stöver in einer Pressemitteilung. *DGPPN: Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde

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