Einleitung
Während in der ICD-10 [
22] schädlicher Gebrauch und Abhängigkeit von Alkohol unterschieden werden, folgte das DSM‑5 ([
8], Übersicht in [
53]) einem dimensionalen Ansatz und definiert Alkoholkonsumstörungen anhand von 11 Kriterien, von denen mindestens 2 bis 3 für eine leichte Störung definiert sein müssen. Die 2022 in Kraft tretende ICD-11 wird an der Unterscheidung schädlicher Gebrauch und Abhängigkeit festhalten. Alkoholgebrauchsstörungen sind häufig. In vielen epidemiologischen Untersuchungen werden Prävalenzraten von 6 bis 7 % mitgeteilt [
34,
53]. Etwa 2 bis 3 % der Erwachsenenbevölkerung sind alkoholabhängig. Zu den zahlreichen körperlichen und neurologischen Folgeschäden gehören Lebererkrankungen, eine erhöhte Krebsrate, ein signifikantes Unfall- und Suizidrisiko, aber auch das Risiko für Gewalttaten, zahlreiche psychiatrische Folgestörungen sowie soziale Probleme [
81]. Die Prognose ist bei hoher Mortalität/Morbidität in vielen Fällen immer noch ungünstig [
24,
61]. Die verfügbaren Ansätze zur Therapie von Alkoholkonsumstörungen umfassen ein breites und umfangreiches Spektrum [
59,
63,
64,
71]. Trotz erwiesener Effizienz etablierter Therapien sind Konsum- und Rückfallereignisse häufig.
Die 2016 publizierte S3-Leitlinie zu Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen [
59] befindet sich derzeit in Revision. Als übergeordnete Therapieziele wurden in der S3-Leitlinie aus 2016 neben abstinenzorientierten Therapien auch Harm-reduction-Strategien (Verminderung der Trinkmenge) als mögliche Behandlungsziele definiert.
Als wirksame psychosoziale und psychotherapeutische Behandlungsansätze in der Entwöhnungsbehandlung der Alkoholabhängigkeit sind Interventionskomponenten wie z. B. motivationale Interventionsformen, Verhaltenstherapie und kognitive Verhaltenstherapie wie Kontingenzmanagement, Angehörigenarbeit und Paartherapie mit hohem Empfehlungsgrad genannt. Mitunter wird bei insgesamt moderaten Effekten eine leichte Überlegenheit der kognitiven Verhaltenstherapien gegenüber anderen spezifischen Therapien vermutet, die jedoch in einer aktuellen Metaanalyse [
58] nicht bestätigt wurde. Darüber hinaus finden in der S3-Leitlinie die psychotherapeutische Kurzzeittherapie, kognitives Training sowie andere Psychotherapieformen Erwähnung.
Als Medikamente sind Acamprosat, Naltrexon und Disulfiram empfohlen. Für Acamprosat und Naltrexon war bei einer sehr guten Evidenzbasierung (Level 1a) allerdings nur der Empfehlungsgrad B („sollte gegeben werden“) ausgesprochen worden. Disulfiram erhielt bei Evidenzbasierung 1b den Empfehlungsgrad 0. Die Datenlage zur Empfehlung von Nalmefen war bei Erstellung der Leitlinien noch nicht ausreichend. Tab.
1 gibt einen Überblick über die zur Pharmakotherapie der Alkoholabhängigkeit eingesetzten Substanzen.
Tab. 1
Übersicht über Medikamente zur Pharmakotherapie der Alkoholabhängigkeit
Acamprosat | 1998 mg/Tag | Unklar, NMDA-Rezeptor-Agonist, Modulator hyperaktiver glutamaterger Neurone? Rolle von Kalzium? | – |
Disulfiram | 250–500 mg/Tag | Inhibition der Acetaldehyddehydrogenase | – |
Naltrexon | 50 mg/Tag | µ‑Opioid-Rezeptor-Antagonist | Opioidabhängigkeit |
Nalmefen | 18 mg/Tag | µ- und δ‑Opioid-Rezeptor-Antagonist, partieller Agonist am κ‑Opioid-Rezeptor | – |
Baclofen | 3–80 mg/Tag (bis 270 mg) | GABAB-Rezeptor-Agonist (metabotrop) | Spastik |
Gabapentin | 900–1800 mg/Tag | Unklar, blockiert spannungsabhängige Kanäle. Keine Wirkung über GABA-Rezeptoren | Epilepsie, neuropathischer Schmerz |
Ondansetron | 0,5 mg/Tag | 5‑HT3-Antagonist | Antiemetikum bei Krebs (Chemotherapie) |
Prazosin/Doxazosin | Bis zu 16 mg/Tag | α1-Rezeptor-Agonist | – |
Topiramat | Bis 300 mg/Tag | Nicht völlig klar, antikonvulsives Medikament, erhöht die GABAA-vermittelte neuronale Aktivität und antagonisiert AMPA- und Kainat-Glutamat-Rezeptoren, außerdem spannungsabhängige Kanäle, schwacher Inhibitor verschiedener anderer Enzyme | Epilepsie, Migräne, Lennox-Gastaut-Syndrom |
Vareniclin | 2 mg/Tag | Partieller Agonist am nikotinischen α4β2-Acetylcholinrezeptorsubtyp | Rauchen |
γ‑Hydroxy-Buttersäure, GHB | – | Präkursor von GABA (schwacher Agonist am GABAB-Rezeptor) Glutamat, Glycin | Narkolepsie |
Die neurobiologischen und neurochemischen Grundlagen der Alkoholabhängigkeit sind komplex, werden aber mittlerweile gut verstanden (Übersicht in [
95]). Zentrale Strukturen bei der Wirkung von Rauschdrogen sind dopaminerge Neurone im mesolimbischen Bereich (ventrales Tegmentum, Nucleus accumbens) und ihre Projektion in den präfrontalen Kortex, der für Kontrollfunktionen und die Inhibition dysfunktionalen Verhaltens verantwortlich ist. Für Belohnung und Belohnungsantizipation spielt die Ausschüttung von Dopamin im mesolimbischen Bereich eine entscheidende Rolle. Ein abhängiger Konsum von Alkohol entwickelt sich aus einem Zusammenspiel von positiven (z. B. alkoholinduzierte Entspannung, Euphorie) und negativen Konsequenzen (z. B. Entzugssyndrome). Kurz zusammengefasst werden neurochemisch für die positiv verstärkenden Wirkungen vor allem Effekte auf Dopamin, das endogene Opioidsystem, das serotonerge und GABAerge sowie das endogene Cannabinoidsystem verantwortlich gemacht, für die negative Verstärkung vor allem die vermehrte Freisetzung von Kortikotropin-Releasing-Faktor, die GABAerge Down-Regulierung sowie Veränderungen im glutamatergen System (Übersicht in [
105]). Aber auch appetitregulierende Hormone wie Ghrelin scheinen von Bedeutung zu sein [
27]. Chronischer Alkoholkonsum führt zu erheblichen adaptiven Veränderungen und Anpassungen, vor allem der Rezeptorfunktionen im Gehirn, wobei es beim Alkoholentzug zu einer vermehrten Freisetzung exzitatorischer Neurotransmitter bei erhöhter Rezeptorempfindlichkeit und einer Übererregbarkeit des Gehirns kommt.
Bislang sind nur wenige Medikamente zur Alkoholentwöhnung zugelassen, obwohl mittlerweile eine ganze Reihe von Substanzen untersucht wurde (Übersicht in [
23,
33,
53,
57]). Es gibt etablierte methodische Standards für die Durchführung von Pharmakotherapiestudien bei Alkoholabhängigkeit, wobei primäre Outcome- oder Responderkriterien entweder eine Verbesserung der Abstinenzrate, eine Erhöhung der Zeit bis zum ersten Konsum, eine Verminderung der Rückfallraten oder eine Trinkmengenreduktion sind (siehe [
48,
88]). In verschiedenen Therapiestudien werden dabei sehr unterschiedliche Outcomekriterien verwendet [
6,
25,
40,
76]. Sekundäre Outcomekriterien sind biologische Marker (Transaminasen, Carbohydrate-defizientes Transferrin [CDT], Ethylglukuronid), sozioökonomische Faktoren („health care utilization“) oder Wiederaufnahmen in Kliniken (Übersicht in [
99]). Zuletzt wurde von einer Expertengruppe die WHO-Klassifikation unterschiedlicher Risikoniveaus („drinking risk levels“) als Outcomekriterium für Pharmakotherapiestudien empfohlen [
26].
Voraussetzung für einen positiven Wirksamkeitsnachweis in klinischen Studien ist unter anderem, dass die pharmakologischen Interventionen auch ausreichend implementiert werden. Hohe Missing- und Drop-out-Raten, wie sie für den Bereich der Alkoholentwöhnung typisch sind, verhindern eine ausreichende Treatment-Implementierung und damit auch die Chancen, in Studien einen tatsächlich vorhandenen Effekt nachweisen zu können [
88]. Wichtig ist zudem, dass die Auswahl der Outcomekriterien dem Wirkmechanismus der Substanz angepasst ist.
Pharmakogenetik
Hier liegen bislang nur relativ wenig neue Befunde vor (Übersicht in [
38,
39,
79,
83]), was angesichts der bislang begrenzten Auswahl pharmakotherapeutischer Optionen nicht überrascht. Am ehesten auch von klinischem Interesse waren bislang funktionelle Polymorphismen im OPRM1- und OPRK1-Gen, die wahrscheinlich die Effekte von Opiatantagonisten wie Naltrexon modifizieren. Dazu liegt inzwischen eine Reihe experimenteller und klinischer Befunde vor [
79,
83]. Eine aktuelle Metaanalyse mit 7 randomisierten, kontrollierten Studien fand einen moderaten Effekt des Asn40Asp-SNP für das Outcome „drinks per day“, ansonsten keine weiteren Hinweise, dass das rs1799971-G-Allel im OPRM1-Gen einen Einfluss auf das Ansprechen auf eine Therapie mit Naltrexon hat [
39]. Für Acamprosat könnten Variationen in den glutamatergen Rezeptoren (GATA4, GREN2b) von Bedeutung sein, für Topiramat Polymorphismen in den glutamatergen AMPA- und Kainatrezeptoren (GRIK1 und 2).
Eine Übersichtsarbeit über den Einfluss serotonerger Genvariationen auf das Ansprechen pharmakotherapeutischer Methoden der Rückfallprophylaxe bei Abhängigkeitserkrankungen weist auf die Bedeutung von Genen für das Enzym Tryptophanhydroxylase 2 (
TPH2) und den Serotonintransporter (
SLC6A4) hin, welche die Wirkung von Ondansetron und Disulfiram modulieren [
10].
In der BacALD-Studie wurde für Baclofen die Relevanz des RS29220-SNP im GABA
B-Rezeptor für den Therapieerfolg und möglicherweise auch für Unverträglichkeitsreaktionen für Baclofen gezeigt [
68].
Schlussfolgerung
Bislang sind nur wenige Medikamente zur Pharmakotherapie der Alkoholabhängigkeit zugelassen, einige andere Substanzen, die überwiegend aus anderen medizinischen Indikationsbereichen stammen, wie Baclofen, Topiramat, Vareniclin oder Gabapentin, könnten künftig eine größere Rolle spielen. Die neurochemischen Effekte und Grundlagen der einzelnen Substanzen unterscheiden sich erheblich. Lückenhaft sind die klinischen Daten insbesondere auch bezüglich der Wirksamkeit von Anti-Craving-Substanzen bei komorbider psychischer Störung.
Klinisch von Bedeutung ist aber, dass bereits die bislang verfügbaren Substanzen kaum eingesetzt werden, stattdessen werden häufig konventionelle Psychopharmaka (ohne Wirkungsnachweis in diesem Bereich) eingesetzt, namentlich Antidepressiva, obwohl sie zur Trinkmengenreduktion unwirksam sind [
4]. Somit wird eine bereits verfügbare pharmakotherapeutische Option zur Rückfallprophylaxe bei Alkoholabhängigen nicht genützt, man könnte auch sagen „verschenkt“. Stellt man die Verordnungszahlen in Relation zu der hohen Zahl der von Alkoholabhängigkeit betroffenen Personen, kann hier von einer deutlichen Unterversorgung abhängiger Patienten mit pharmakologischen Interventionen gesprochen werden [
97]. Diese sind natürlich stets als adjuvante Strategie zur Begleitung und Ergänzung psychotherapeutischer Methoden zu verstehen.
Die immer noch zögerliche Verordnung von Anti-Craving-Substanzen ist durch die Datenlage kaum begründbar. So werden mit Anti-Craving-Substanzen Effekte erzielt, die in ihrer Ausprägung durchaus mit etablierten Therapien anderer psychiatrischer und somatischer Behandlungsbereiche vergleichbar sind (vgl. z. B. [
55]). Hinzu kommt, dass die tatsächlichen Effekte der Anti-Craving-Behandlung aufgrund methodischer Besonderheiten im Bereich der Abhängigkeitstherapie durch klinische Studien eher unterschätzt als überschätzt werden dürften [
88].
An der zurückhaltenden therapeutischen Nutzung von Anti-Craving-Substanzen dürften vermutlich auch psychologische Faktoren wie eine geringe Erfolgserwartung oder die Befürchtung einer eventuellen „Suchtverlagerung“ beteiligt sein. Die Prüfung eigener Vorbehalte, das offene Ansprechen etwaiger Bedenken des Patienten und dessen Beteiligung an einer gemeinsamen Entscheidungsfindung sind im Bereich der Anti-Craving-Behandlung von besonderer Bedeutung.
Auch wenn sich die Basis der klinisch wirksamen Substanzen nur zaghaft zu verbreitern scheint, kann eine zunehmende Anpassung der Strategien an die individuellen Bedürfnisse und Präferenzen des Patienten eine Zunahme der Compliance erzielen. Damit sollte auch das klinische und wissenschaftliche Interesse an den Substanzen wieder stärker in den Fokus rücken.
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