04.11.2020 | Suizid | Originalien | Ausgabe 6/2020 Open Access

Der Doppelsuizid – Teil 1: juristische Aspekte und historische/zeitgeschichtliche Fälle
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Doppelsuizid vs. Homizid-Suizid – eine Abgrenzung
Historische und zeitgeschichtliche Fälle
Strafrechtliche Bewertung des Suizids
Garantenstellung beim Suizid
Ältere Rechtsprechung und Lehre
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Jüngere Rechtsprechung und Lehre
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Garantenstellung
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Beispiel
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Garantenstellung
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Beispiel
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Aus Gesetz
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Eltern gegenüber ihren Kindern und Kinder gegenüber ihren Eltern (§ 1618 a BGB)
a, Eheleute aus § 1353 Abs. 1 S. 2 BGB
b
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Beschützer: Schutzpflichten für bestimmte Rechtsgüter aufgrund tatsächlicher oder rechtlicher Bindung
c
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Familiäre Verbundenheit: Ehegatten
d, Eltern und Kinder
e, Verwandte gerader Linie (aber Differenzierung notwendig)
f
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Enge Gemeinschaftsbeziehung: Lebensgemeinschaft
g, Gefahrgemeinschaft (Bergsteiger)
h
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Übernahme von Schutzpflichten z. B. bei ärztlicher Behandlung
i
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Amtsträger z. B. Aufsichtspflicht bei einem Schulausflug
j
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Aus Vertrag
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Träger und Personal von Krankenhäusern
k sowie Ärzte im Rahmen ihrer Behandlung
l
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Überwacher: Verantwortlichkeit für Gefahrenquellen und damit einhergehende Sicherungspflichten
m
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Ingerenz, z. B. Kraftfahrer, der durch verkehrswidriges Verhalten einen Unfall verursacht hat und nun zur Rettung verpflichtet ist
n, oder Inverkehrbringen gefährlicher Produkte
o
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Überwachung von Gefahrenquelle
p (Suchtmittel
q)
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Beaufsichtigungspflichten: Eltern für ihre Kinder
r, in psychiatrischer Klinik
s
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Aus enger Lebensgemeinschaft
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Nichteheliche Lebensgemeinschaft
t,
Verwandte gerader Linie (aber Differenzierung notwendig)
u,
Gefahrgemeinschaft
z. B. bei Expeditionen/Bergsteigern
v
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Aus Ingerenz und Schaffung einer Gefahrenquelle
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Kraftfahrer, der durch verkehrswidriges Verhalten einen Unfall verursacht hat und nun zur Rettung verpflichtet ist
w, oder freie Zugänglichkeit zu einem Suchtmittel in der Wohnung des Garanten
x
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Die Garantenstellung des Arztes
Die Garantenstellung innerhalb der Familie (Eltern, Kinder, Ehe‑/Lebenspartner)
Erwägungen zum Doppelsuizid in der Ehe
Fallkonstellationen
Fall 1
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Fall 2
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Fall 3
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Fall 4
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Fall 5
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Fallkonstellation
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Ein Ehepaar, das seit 40 Jahren miteinander verheiratet ist, beschließt aufgrund von schweren Tumorerkrankungen bei beiden, einvernehmlich und freiverantwortlich gemeinsam aus dem Leben zu scheiden. Die nachfolgenden suizidalen Handlungen entsprechen einem gemeinsamen Suizidplan, mittels eines Medikamentencocktails aus dem Leben zu scheiden, aufgrund einer wohlüberlegten und gemeinsamen Entscheidung. Der Suizidentschluss der Eheleute ist bei beiden frei von Willensmängeln und von einer inneren Festigkeit geprägt, das Leben gemeinsam beenden zu wollen.
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Die Ehefrau beschließt, sich ihres Mannes zu entledigen, und spielt ihm den Entschluss eines Doppelsuizides mittels der gemeinsamen Einnahme eines Medikamentencocktails vor. Der Ehemann erklärt sich mit dem vermeintlichen gemeinsamen Suizidplan einverstanden.
a
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Doppelsuizidhandlung
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Das Ehepaar hat sich gemeinsam einen tödlichen Medikamentencocktail besorgt, der von jedem Ehepartner eigenständig eingenommen wird. Beide versterben infolge der beabsichtigten Intoxikation.
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Das Ehepaar hat sich gemeinsam einen tödlichen Medikamentencocktail besorgt, der von jedem Ehepartner eigenständig eingenommen wird. Während die Ehefrau verstirbt, überlebt der Ehemann, wobei er erst nach dem Tod seiner Ehefrau wieder das Bewusstsein erlangt.
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Das Ehepaar hat sich gemeinsam einen tödlichen Medikamentencocktail besorgt, der von jedem Ehepartner eigenständig eingenommen wird.
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Das Ehepaar hat sich gemeinsam einen tödlichen Medikamentencocktail besorgt. Der Ehemann flößt ihn der Ehefrau auf deren Bitten ein, bevor dieser selbst die Substanzen einnimmt.
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Die Ehefrau hat den tödlichen Medikamentencocktail besorgt, der von dem Ehemann eigenständig eingenommen wird. Als er die Flasche seiner Ehefrau reicht, lehnt diese ab.
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Nachtatverhalten
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Keines
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Keines (der Ehemann war bis zum Tod der Ehefrau handlungsunfähig)
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Nach der Durchführung der Selbsttötungs- bzw. Tötungshandlung (entsprechend dem Verlangen der Ehefrau) überleben zunächst beide, wobei nur der Ehemann wieder das Bewusstsein erlangt, die Situation „handlungsfähig“ überblickt und seine Ehefrau deren Wunsch entsprechend versterben lässt. Ihm selbst fehlt die Kraft, einen erneuten Suizidversuch zu unternehmen, und er gibt den geplanten Doppelsuizid einseitig auf. Die Frau verstirbt nach einer halben Stunde in den Armen ihres Ehemannes.
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Der Ehemann verstirbt kurze Zeit später, die Ehefrau überlebt, wie von ihr beabsichtigt.
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Mögliche Garantenstellung des Ehepartners aus § 13 StGB
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Nicht relevant, da keine Befugnis zu lebensrettendem Zwang unter Missachtung des Selbstbestimmungsrechts des jeweils Anderen
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Beschützer
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Beschützer
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Beschützer
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Garantenstellung irrelevant
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Mögliche Strafbarkeit
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Keine Strafbarkeit
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Keine Strafbarkeit
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Theoretische Strafbarkeit nach §§ 212, 13 StGB aufgrund des BGH-Urteils im Fall Wittig
b.
Mit Blick auf die aktuelle Rechtsprechung des BGH
c und des BVerfG
d aber wohl eher keine Strafbarkeit.
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Streitig: mögliche Strafbarkeit nach § 216 StGB
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Strafbarkeit nach §§ 212, 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB; evtl. §§ 211, 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB
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