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Open Access 06.01.2025 | Suizid | Journal Club

Psychiatrischer Beitrag

Strafrechtliche Sanktionen und erhöhte Mortalität bei psychotischer Symptomatik

verfasst von: Isabella Krupp, Dr. Alexander Voulgaris

Erschienen in: Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie

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Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Eine erhöhte Mortalität bei Menschen mit psychotischen Störungen im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung wurde mehrfach beschrieben (Hjorthøj et al. 2017). Dabei tragen Faktoren wie soziale Isolation, Armut, komorbide Substanzgebrauchsstörungen und eingeschränkter Zugang zu Gesundheitsdiensten zur Erhöhung der Mortalität bei. Gleichzeitig wurde international wiederholt beschrieben, dass Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen im Strafvollzug überrepräsentiert sind, was auch auf die Kriminalisierung aufgrund von Symptomen psychischer Erkrankungen zurückzuführen ist (Fazel et al. 2016).
Bundesweite Zahlen hierzu sind zwar meist älteren Datums, bestätigen aber im Großen und Ganzen diesen Befund (Konrad 2024). Frühere Studien konnten zeigen, dass Inhaftierung und strafrechtliche Sanktionen i. Allg. mit einer erhöhten Mortalität einhergehen (Kinner et al. 2013). In diesem Zusammenhang stellen gerichtliche Maßnahmen, die Menschen mit psychischen Störungen alternative Angebote wie z. B. eine Therapie anstelle einer Inhaftierung ermöglichen, eine potenziell schützende und sinnvolle Option dar. Inwieweit sich frühere und aktuelle Kontakte mit dem Strafsystem auf die Gesamtmortalität von Menschen mit psychotischen Störungen auswirken, ist bislang jedoch nur unzureichend erforscht. Entsprechende Erkenntnisse könnten jedoch die Relevanz einer ausreichenden extra- und intramuralen psychiatrischen Versorgung dieser wichtigen Patientengruppe unterstreichen. Ein Thema, das auch die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) zunehmend beschäftigt, die vor knapp 2 Jahren eine Task Force „Gefängnispsychiatrie“ gegründet hat, um die allgemeine psychiatrische Versorgungssituation von Menschen in Haft zu untersuchen.
Die Autoren um Spike et al. (2024) greifen diese Thematik in ihrem kürzlich in JAMA Network Open veröffentlichten Artikel „Mortality, Criminal Sanctions, and Court Diversion in People with Psychosis“ auf. Sie befassen sich mit dem wichtigen, aber oft vernachlässigten Thema der gesundheitlichen Auswirkungen strafrechtlicher Sanktionen auf Menschen mit psychotischen Störungen. Die Studie untersucht den Zusammenhang zwischen verschiedenen strafrechtlichen Maßnahmen, einschließlich Diversionsmaßnahmen mit Therapieweisung („mental health court diversion“) und alternativer Sanktionsformen, und der Mortalität in dieser Gruppe. Besonderes Augenmerk wird dabei auf externe Todesursachen wie Suizid und Überdosierung gelegt.
Die Autoren verfolgten einen bevölkerungsbasierten, retrospektiven Kohortenansatz, bei welchem Daten aus 6 verschiedenen Quellen berücksichtigt wurden, darunter Krankenhaus- und Gesundheitsdaten, Strafrechtsdaten (z. B. Zentralregisterauszüge) und Sterberegisterdaten. Mit einer umfangreichen Stichprobe von 83.071 Patienten (35.791 weiblich [43,1 %]; 21.208 im Alter von 25–34 [25,5 %]) aus New South Wales, Australien, bietet die Studie wertvolle Einblicke in die Schnittstellen zwischen Strafjustiz- und Gesundheitssystem.
Die Studienkohorte umfasste Personen ab 18 Jahren, die zwischen 2001 und 2017 nach einer stationären Krankenhausbehandlung aufgrund einer psychotischen Störung entlassen wurden. Als psychotische Störungen wurden organische, substanzinduzierte, schizophrene und affektive Psychosen gemäß der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 10. Revision (ICD-10) zusammengefasst und im Folgenden in den Ergebnissen nicht weiter spezifiziert. Die Patienten wurden bis Mai 2019 mit einer mittleren Beobachtungszeit von 9,5 Jahren nachbeobachtet. Die Hauptvariable war die Art der strafrechtlichen Sanktion innerhalb der letzten 2 Jahre, wobei folgende Kategorien gewählt wurden: keine Sanktion, gemeindenahe oder alternative Sanktion (z. B. Sozialarbeit, Geldstrafe), gerichtliche Therapieweisung oder aktuelle Inhaftierung bzw. kürzliche Haftentlassung.
Für die Hauptergebnisse wurde die Mortalität in „all-cause mortality“ (alle Todesursachen) und „external-cause mortality“ (externe Todesursachen wie Suizid und Überdosis) unterteilt. Die statistischen Modelle wurden angepasst, um potenzielle Störfaktoren wie Alter, Geschlecht, Substanzkonsum und sozioökonomischen Status zu berücksichtigen. Die Studie zeigt, dass strafrechtliche Sanktionen unabhängig von ihrer Art mit einer erhöhten Mortalität bei Personen mit psychotischen Störungen assoziiert sind. Die Mortalitätsraten unterschieden sich je nach Art der Sanktion. Personen ohne strafrechtliche Sanktion wiesen die niedrigste Mortalitätsrate auf, während Personen, die kürzlich aus dem Strafvollzug entlassen wurden, die höchste Mortalitätsrate aufwiesen (adjustierte Hazard Ratio, aHR, für alle Todesursachen: 1,69; aHR für externe Todesursachen: 2,64). Personen mit psychotischen Störungen, die in den vorangegangenen 2 Jahren eine gerichtliche Therapieweisung (aHR: 2,08) oder eine gemeindenahe Sanktion (aHR: 1,81) erhalten hatten, wiesen ebenfalls eine erhöhte Mortalitätsrate auf. Interessanterweise wurden Unterschiede bei den Todesursachen festgestellt. Bei Personen ohne strafrechtliche Sanktionen waren die meisten Todesfälle auf Krankheiten zurückzuführen (58,3 %), während in der Gruppe der Personen mit vorheriger gerichtlicher Therapieweisung oder alternativen Sanktionen externe Todesursachen wie Suizid oder Drogenüberdosierung eine zentrale Rolle spielten und bis zu 76 % der Todesfälle ausmachten.
Ein bemerkenswertes Ergebnis war die vergleichsweise niedrige Mortalitätsrate unter den aktuell inhaftierten Personen (aHR: 0,25). Dies könnte auf die stark kontrollierte Umgebung innerhalb der Haftanstalt und den Zugang zu medizinischer Grundversorgung im Gefängnis zurückzuführen sein, was mit der klinischen Erfahrung korrespondiert, dass eine bestimmte Patientengruppe fast ausschließlich im intramuralen Setting behandelt werden kann bzw. nur dort therapeutisch erreichbar ist. Dennoch wirft dieser Befund Fragen nach den langfristigen individuellen Auswirkungen der Inhaftierung nach der Entlassung auf, die in dieser Arbeit nicht weiter vertieft werden.
Von hoher Relevanz ist auch das Ergebnis, dass Alkohol- und Drogenprobleme bei Personen mit strafrechtlichen Sanktionen etwa doppelt so häufig auftreten wie bei unbestraften Personen. Wirksame Interventionen sollten daher sowohl bei der psychotischen Symptomatik als auch bei Substanzkonsumstörungen ansetzen.
Die Studie wirft wichtige Fragen zur Rolle und zur Verantwortung des Strafrechtssystems in der psychosozialen Versorgung auf. Strafrechtliche Sanktionen scheinen psychischen und sozialen Stress zu verursachen und zu verstärken, was wiederum zu einer erhöhten Mortalität beitragen kann. Soziale Stigmatisierung und Schwierigkeiten bei der Wiedereingliederung in die Gesellschaft nach der Verhängung einer Sanktion können die Vulnerabilität dieser spezifischen Population noch verstärken. Die Autoren diskutieren in diesem Zusammenhang insbesondere gerichtliche Therapieweisungsprogramme. Obwohl diese grundsätzlich auf Rehabilitation abzielen, scheinen sie den komplexen Bedürfnissen von Menschen mit psychotischen Störungen nicht ausreichend gerecht zu werden. Möglicherweise reichen die ambulanten Möglichkeiten nicht aus, um den erhöhten Betreuungsbedarf, den forensische Patienten mit psychotischen Symptomen aufweisen, zu decken. Dies unterstreicht die Notwendigkeit, diese Programme zu überprüfen und sie möglicherweise zielgerichteter und nachhaltiger mit Gesundheits- und Sozialdiensten zu integrieren.
Das relativ häufige Auftreten externer Todesursachen wie Suizid und Überdosierungen in der Gruppe der Patienten mit Sanktionserfahrungen verdeutlicht die Notwendigkeit gezielter Präventionsmaßnahmen, insbesondere in Übergangsphasen wie nach der Haftentlassung. Programme, die sowohl die notwendige psychosoziale Unterstützung als auch einen unkomplizierten Zugang zu Gesundheitsdiensten bieten, könnten hier von großem Nutzen sein.
Die Studie von Spike et al. gibt wichtige Impulse für die Weiterentwicklung des Strafrechtssystems und des Gesundheitssystems. Ein grundlegender Wandel im Umgang mit psychisch kranken Menschen im Strafvollzug ist notwendig. Die angebotenen Programme sollten stärker auf rehabilitative und integrative Ansätze als auf primär strafende Maßnahmen ausgerichtet sein. Eine Anpassung des ambulanten Versorgungssystems an die besonderen Herausforderungen im Umgang mit psychotischen Menschen, die straffällig wurden, erscheint notwendig. Von besonderer Bedeutung sind in diesem Zusammenhang Übergangsprogramme, die Menschen nach der Haftentlassung unterstützen. Diese sollten gezielte psychosoziale Betreuung, medizinische Versorgung und berufliche Integration anbieten, insbesondere im Hinblick auf Prävention und Nachsorge. Aufsuchende Behandlungsstrukturen, wie z. B. Assertive Community Treatment oder andere mobile Krisendienste, könnten in diesem Zusammenhang hilfreich sein.
Zusammenfassend weisen die Autoren auf Zusammenhänge zwischen verschiedenen strafrechtlichen Sanktionsformen und der Mortalität von Menschen mit psychotischen Störungen hin. Allerdings lässt das Studiendesign keine kausalen Schlussfolgerungen zu, und der individuelle sozioökonomische Status oder die pharmakotherapeutischen Maßnahmen wurde/wurden nicht berücksichtigt. Diese Schwächen werden von den Autoren diskutiert. Dennoch unterstreichen die Ergebnisse die Notwendigkeit systemischer Reformen, um diese vulnerable Personengruppe besser zu schützen und zu unterstützen. Es wird deutlich, dass interdisziplinäre Ansätze erforderlich sind, die Gesundheit, soziale Unterstützung und rechtliche Betreuung miteinander verbinden, um die Lebensqualität dieser Menschen nachhaltig zu verbessern.

Interessenkonflikt

I. Krupp und A. Voulgaris geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden. Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen. Weitere Details zur Lizenz entnehmen Sie bitte der Lizenzinformation auf http://​creativecommons.​org/​licenses/​by/​4.​0/​deed.​de.

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Literatur
Metadaten
Titel
Psychiatrischer Beitrag
Strafrechtliche Sanktionen und erhöhte Mortalität bei psychotischer Symptomatik
verfasst von
Isabella Krupp
Dr. Alexander Voulgaris
Publikationsdatum
06.01.2025
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
Erschienen in
Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie
Print ISSN: 1862-7072
Elektronische ISSN: 1862-7080
DOI
https://doi.org/10.1007/s11757-024-00873-0

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