Der rasante Spätstart der Fernbehandlung

Neben Projekten innovativer KVen drängen aber auch immer mehr kommerzielle Anbieter in den Telemedizin-Markt. Ein Problem? Muss es nicht sein, kann es aber, wie eine US-Studie zeigt. DocDirekt, das Telemedizinangebot der KV im Südwesten, meldet immer mehr Nutzer. Die britische Online-Arztpraxis DrEd will eine Niederlassung in Deutschland gründen. Und von München aus will der Schweizer Anbieter Medi24 mit seiner Telesprechstunde den deutschen Markt erobern. In der Bundesrepublik bahnt sich ein rasanter Spätstart in der Fernbehandlung an. Für die Apologeten der Digitalisierung müssen das entzückende Zeiten sein. Doch was wir jahrelang erst verschlafen haben und jetzt überhastet nachzuholen scheinen, könnte unangenehme Nebenwirkungen zeitigen. Ein Blick in die USA jedenfalls dürfte lehrreich sein. Seit dem Deutschen Ärztetag 2018 ist die ausschließliche Fernbehandlung in der Musterberufsordnung erlaubt. Eine Revolution? Nein, die Ärzteschaft hat hingenommen, was für immer mehr Patienten zur Normalität wird. Zu groß ist auch der Druck von den Technologiegiganten aus dem Silicon Valley, wie Apple, die mit immer neuen „Gadgets“ in die Telemedizin vorpreschen. Immerhin scheint nun das Prinzip Hoffnung zu überwiegen. Smartphones oder Computer könnten Ärzte – digital zumindest – dort erreichbar machen, wo heute oder spätestens in naher Zukunft leibhaftige Mediziner fehlen. Mit Telekonsilen können Landärzte rasch Rat von Spezialisten einholen, die heute schon außerhalb von Ballungszentren fehlen. Vor allem aber: Patienten mit Bagatellen müssten nicht mehr Praxen und Notaufnahmen verstopfen, wenn sie ein Rezept oder auch eine AU per Smartphone vom Doktor bekämen. Unerwünschte Wirkung der Telemedizin Doch werden Handy, „Smart Watch“ und die Webcam am PC wirklich zum Allheilmittel gegen ärztliche Fehlallokation und Selbstzuweisung der Patienten werden können? Eine neue Studie jedenfalls kippt der Fernbehandlung Wasser in den Wein: Denn trotz ihrer Vorteile kann sie zu äußerst unerwünschten Wirkungen führen – zumindest, wenn sie bei den falschen Patienten und Indikationen eingesetzt wird. Das US-Institut für Kindergesundheit (NICHD) hat ermittelt, dass Telekonsultationen kommerzieller Anbieter zu deutlich mehr Antibiosen führen (Pediatrics 2019; 143(5): e20182491). Kinder bis zum 17. Lebensjahr mit Verdacht auf einen akuten respiratorischen Infekt (Sinusitis, Pneumonie, Pharyngitis, akute oder seröse Otitis media, virale respiratorische Infekte, Bronchiolitis) erhalten demnach telemedizinisch absolut 21 Prozent häufiger Antibiotika als solche, die direkt in eine Hausarztpraxis gegangen sind (52 versus 31 Prozent). Selbst in Notaufnahmen wurden seltener Antibiosen verordnet (42 Prozent). Auffällig: Bei viralen Infekten haben Teleärzte deutlich seltener – leitliniengerecht – auf Antibiotika verzichtet als Hausärzte in der Praxis (54 versus 80 Prozent). Die Befunde sind eklatant, denn sie bestätigen Zweifel, die selbst die amerikanische Vereinigung für Telemedizin (ATA) vor einigen Jahren geäußert hatte, dass Kinder nämlich wenig geeignete Patienten für die Telemedizin sind. Die ATA hatte damals empfohlen, wenigstens Kinder unter zwei Jahren nicht über die Ferne zu behandeln (Telemed J E Health 2017; 23(9): 699-706). Die Studie liefert zwar keine Beweise für Ursache und Wirkung. Die möglichen Gründe aber liegen auf der Hand: Mit kleinen Patienten hinter einer kleinen Smartphone-Kamera findet eine saubere Differenzialdiagnose rasch Grenzen. Fieber, eitriges Nasensekret und eitriger Auswurf sind nur schwer zu erkennen, ebenso wenig wie das Fehlen dieser drei typischen Anzeichen für einen bakteriellen Infekt. Diagnostische Probleme zu Hause Welcher Patient hat schon ein Otoskop fürs Smartphone? Selbst wenn: Sind die Lichtverhältnisse immer genügend? Ihre Praxis können Ärzte adäquat beleuchten, aber kann das auch die Mutter im häuslichen Kinderzimmer, selbst per telefonischer Anleitung? Oder die Streptokokken-Pharyngitis: Ein Rachenabstrich ist mit Handy, „Smart Watch“ oder Webcam schlicht nicht möglich. Hinzu kommen weitere Probleme: Wenn Patienten mal diesen und mal jenen Anbieter wählen, können die Ärzte weder auf gut geführte Patientenakten zugreifen, noch gibt es einen kontinuierlichen Arzt-Patienten-Kontakt – gemeinhin zwei der Vorteile von Hausärzten. Und gerade bei kommerziellen Telemedizin-Anbietern könnte der Renditedruck dazu führen, eben doch etwas rascher zu einer Diagnose zu kommen, statt den Patienten noch einmal „einzubestellen“. Dann wird auf Nummer sicher eben ein Antibiotikum verordnet wie in alten, längst überwunden geglaubten Zeiten. Auf diesem Holzweg würde die Telemedizin die Lösung eines der größten weltweiten Gesundheitsprobleme konterkarieren, den Kampf gegen Antibiotikaresistenzen. Muss all das nur Wasser auf die Mühlen der Fundamentalkritiker sein? Im Gegenteil: Fehler sind Freunde, und so könnte Deutschland – dank seines Spätstarts – von den Erfahrungen anderer Länder lernen. Gerade in Baden-Württemberg dürfte man sich die Befunde aus den USA genau anschauen. Denn in dem dortigen KV-Projekt DocDirekt suchen offenbar viele Eltern für ihre Kinder ärztlichen Rat. Und das heißt? Die Ärzteschaft hierzulande ist gut beraten, wenn sie Schlüsse aus den Erkenntnissen zieht. Dazu gehört auch, Telemedizin nicht pauschal abzulehnen, sondern sie zu gestalten. Will heißen: telemedizinische Projekte selbst anzubieten, wie es die Baden-Württemberger tun, statt sie nur Konzernen zu überlassen. Dann kann die Ärzteschaft die Qualität selbst bestimmen, dann kann daraus ein echter Gewinn werden, der nicht nur Kosten in der Versorgung drückt, sondern bestenfalls Morbidität senken hilft. Und auch Gesundheitsminister Jens Spahn täte gut daran, diese Evidenz ernst zu nehmen. Immerhin will er ja ein Digitalisierungsgesetz. Eine Evaluation digitaler Innovationen sollte darin unser Schaden nicht sein – im Gegenteil. Quelle: Ärzte Zeitung

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