Einführung
In der aktuell noch geltenden ICD-10-Klassifikation der WHO werden die verschiedenen Formen des Autismusspektrums als Subtyp der tiefgreifenden Entwicklungsstörungen gezählt [
2]. Dabei umfasst das Autismusspektrum 3 Formen: frühkindlicher Autismus (F84.0), atypischer Autismus (F84.1) und Asperger-Syndrom (F84.5). Diese werden seit 2013 im Rahmen des in den USA dominierenden psychiatrischen Klassifikationssystems DSM‑5 der American Psychiatric Association (APA) als Autismus-Spektrum-Störung (ASS) zusammengefasst, um einen fließenden Übergang zwischen den verschiedenen Autismusformen zu verdeutlichen [
1]. In der ICD-11 soll der Begriff ASS bzw. ASD ggf. ebenfalls übernommen werden (6A02) [
3]. Die Prävalenz der ASS ist mit über 0,5–1 % in der Allgemeinbevölkerung beschrieben und wird in dem Patientenkollektiv von Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen weit höher geschätzt. Einerseits bilden die Personen mit einer „autistischen Basisstruktur“, welche zumeist keinen sichtbaren Krankheitswert darstellt, einen Grenzbereich des Spektrums ab [
28]. Andererseits müssen Menschen mit einer Intelligenzminderung stärker für ein Auftreten von autistischen Wesenszügen in Betracht gezogen werden. Teilweise ist die Intelligenzminderung sogar Bestandteil der Diagnose (z. B. frühkindlicher Autismus) [
8,
18,
21]. In dieser Gruppe wird deshalb von einer Prävalenz des Auftretens einer ASS von 7,5–15 % gesprochen [
30]. Benannt nach dem Erstbeschreiber und Kinder- und Jugendpsychiater Leo Kanner (1943) ist der frühkindliche Autismus auch unter den Begriffen Kanner-Autismus oder klassischer Autismus bekannt [
11]. Allen Autismusformen gemein ist die Charakterisierung durch das Auftreten der nachfolgend genannten 3 Kernsymptome: 1.) die qualitative Beeinträchtigung der sozialen Interaktion, 2.) die qualitative Beeinträchtigung der Kommunikation und 3.) die repetitiven, stereotypen Verhaltensweisen sowie eingeengten Interessen [
19]. Diese Sonderinteressen und Stereotypen können mit allen Lebensbereichen, aber auch Körperregionen der Person assoziiert sein. Ob sich diese spezifischen Verhaltensauffälligkeiten auch im Mundraum darstellen bzw. darauf Auswirkungen haben, wurde bislang selten an konkreten klinischen Fallbeispielen beschrieben.
Die vorliegende Beitrag zielt darauf ab, mit einer Auswahl an dentalen und oralen Befunden bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit einer ASS aufzuzeigen und zu beschreiben, welche Auswirkungen stereotype, repetitive Verhaltensweisen und Interessen in der Mundhöhle und an den Zähnen haben können. Dabei beziehen sich die Darstellungen vorrangig auf Menschen mit ASS, die in ihrer Kommunikation und ihrem selbstwirksamen Verhalten für regelmäßige Mundhygienemaßnahmen stark eingeschränkt sind. Der Artikel beschreibt somit in Bezug auf bestimmte Aspekte auch Verhaltensweisen, die in Subgruppen des ASS beobachtet wurden. Folglich möchten die Autoren hiermit betonen, dass ihnen bewusst ist, dass aufgrund der hohen Diversität in der Ausprägung dieser psychoemotionalen Störung einige Aussagen zur Mundgesundheit von Menschen mit ASS nur eine bedingte Allgemeingültigkeit auf alle Personen mit ASS besitzen. Die exemplarischen Patientenbeschreibungen dienen dazu, eine Bandbreite der Variationen aufzuzeigen, die z. T. regelmäßig und z. T. seltener im klinischen Alltag auftreten.
Diskussion
Der vorliegende Artikel beschreibt eine ausgewählte Übersicht unterschiedlicher Verhaltensmuster von Kindern und Jugendlichen mit ASS, die einen Bezug zum Mundraum oder zu den Zähnen haben. In der internationalen Literatur wurde nur eine geringe Anzahl von zahnmedizinischen Fallberichten von Patienten mit ASS veröffentlicht [
4,
6,
7,
9,
10,
12,
20,
22,
23,
25,
27,
29,
31]. Diese beschäftigen sich primär mit den zahnmedizinischen Aspekten im Sinne der Anamnese, Diagnose und Therapie. Dem Autorenteam ist daher bislang keine Publikation bekannt, welche grundlegend orientierend an der Kernsymptomatik von ASS verschiedene Verhaltensweisen beschreibt, die eine dentale bzw. orale Auswirkung aufzeigen. Mehrfach wurden jedoch Fallberichte veröffentlicht, welche den Aspekt des selbstverletzenden Verhaltens mit dentalem Bezug berichtet haben [
4,
29,
31]. Die dort beschriebenen 3 Patienten im Alter von 7 Jahren, 12 Jahren sowie 21 Jahren hatten sich selbstständig ein oder mehrere bleibende Zähne entfernt. Dies lässt erkennen, dass derartige repetitive, abnorme Verhaltensweisen altersunabhängig sind und bereits im Kindesalter ihren Beginn haben können.
Eine Therapie von Kindern und Jugendlichen mit einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung wird besonders dadurch erschwert, dass diese in der Regel erhebliche Schwierigkeiten haben, ihr Verhalten an die spezifischen Anforderungen in Untersuchungs- und Behandlungssituationen im medizinischen System anzupassen. Häufig ist es somit schwierig, die z. B. zahnärztlichen Behandlungen im Wachzustand durchzuführen, weil aufgrund der speziellen Verhaltensmuster oft eine unzureichende Kooperationsfähigkeit vorhanden ist. Ursächlich ist die Entwicklungsstörung im Bereich der Theory of Mind. Diese besagt, dass die Perspektivenübernahme im Kontakt mit dem Untersuchenden erschwert ist. Folglich wird der Behandler bzw. die Behandlerin oder sogar die gesamte Behandlungssituation als unverständlich und bedrohlich wahrgenommen. Daher ist es nicht unüblich, dass zahnärztliche Behandlungen bei Menschen mit ASS unter einer pharmakologischen Sedierung oder sogar in Allgemeinanästhesie erfolgen und eine hohe Prävalenz dieses Behandlungsweges beschrieben wird [
5]. In diesem Zusammenhang sei auf bisher noch nicht publizierte Daten aus der zahnmedizinischen Abteilung, in welcher ein Teil der Autoren tätig sind, hingewiesen. Danach haben 44 % der Personen mit ASS (mittleres Alter: 24,4 Jahre; min./max. Alter: 7 bis 60 Jahre) mindestens einmal im Rahmen der zahnmedizinischen Versorgung in dieser Abteilung eine Therapie in Allgemeinanästhesie erhalten. Dies deckt sich mit Angaben der Literatur [
5]. Möglicherweise werden aus diesem Grund in der Medizin und Zahnmedizin die Untersuchungen von Menschen mit ASS, insbesondere mit invasivem Charakter, häufig auf ein noch zu vertretendes Minimum beschränkt. Dadurch wird die hohe Bedeutung und Notwendigkeit der Prävention und Prophylaxe deutlich. Erkrankungen wie Karies und Gingivitis sind grundsätzlich durch die Umsetzung der verschiedenen Präventionsansätze und Prophylaxeangebote vermeidbar. Die Autoren plädieren dafür, dass alle Akteure des sozial-medizinischen Umfelds jenes vermitteln und weitertragen. Insbesondere die Aspekte der zahngesunden Ernährung durch den bestmöglichen Verzicht auf kariogene und erosive Getränke bzw. Lebensmittel, ein unterstütztes tägliches Zähneputzen bzw. Nachputzen und regelmäßige zahnärztliche Kontrollen einschließlich der Inanspruchnahme der Individualprophylaxe, sollten etabliert sein.
Dennoch ist den Autoren bewusst, dass die individuellen Verhaltensweisen der Menschen mit ASS die Möglichkeiten für ein erfolgreiches Management der täglichen, häuslichen Mundhygiene durch das soziale Umfeld sehr einschränken. Aufgrund dieser oft erschwerten Bedingungen in der Umsetzung einer sorgfältigen Mundhygiene können Karies, Gingivitis und Parodontitis bei Personen mit ASS möglicherweise prävalenter auftreten als in der Allgemeinbevölkerung. Dies muss nicht unbedingt der Fall sein und wird auch daran ersichtlich, dass in der Literatur der Aspekt einer erhöhter Prävalenz von Karies und Parodontitiden bei Personen mit ASS im Vergleich zu gleichaltrigen Personen der Allgemeinbevölkerung kontrovers diskutiert wird [
18]. Während einige Studien bei Kindern mit ASS eine erhöhte Karies- und/oder Gingivitisprävalenz darstellen, zeigen andere Arbeiten, dass Patientenkohorten mit ASS weniger (bis keine) Karieserfahrung und weniger Erkrankungen des Parodonts haben. Die klinische Erfahrung der Autoren zeigt, dass der Blick stärker auf die parodontalen Erkrankungen gerichtet werden muss. Für jeden Mediziner und Zahnmediziner sichtbare Anzeichen sind eine stark gerötete und geschwollene Gingiva sowie eine Blutung auf Berührung, z. B. mit der Zahnbürste (Abb.
2). Die Autoren vermuten, dass sich bei stärkerer Betrachtung der Subtypen des ASS Unterschiede in der Häufigkeit dentaler bzw. oraler Erkrankungen zwischen den ASS-Formen herausstellen könnten und führen diesbezüglich wissenschaftliche Untersuchungen durch. Möglicherwiese könnten Kinder und Jugendliche mit einem frühkindlichen Autismus aufgrund der Intelligenzminderung eine höhere Prävalenz für Karies und Zahnfleischerkrankungen aufweisen als jene mit Asperger-Autismus.
Eine kritische Lebensphase für die Mundgesundheit scheint die Jugend und Adoleszenz darzustellen. Den Autoren sind mehrere junge Erwachsene mit ASS bekannt, welche in diesem Alter eine umfangreiche zahnmedizinische Behandlungsbedürftigkeit aufgrund von multiplen kariösen Läsionen entwickelten. Die Ursachen sind vielfältig. Einerseits möchten die Jugendlichen mehr persönlichen Freiraum, anderseits können sie aber vereinzelt die Folgen einer bestimmten Handlung nicht überblicken. Zahnmedizinisch schwierig wird es zusehends, wenn ein Einwirken der Eltern auf eine zahngesunde, ausgewogene Ernährung sowie die unterstützende Mundhygiene nicht mehr möglich ist, obgleich die Familien jenes gern möchten (Abb.
2). Bei den betroffenen Eltern und Familien entstehen Ratlosigkeit, Resignation, Erschöpfung. Allerdings muss betont werden, dass es dem sozialen Umfeld im Regelfall gelingt, den eigenständigen hochfrequenten Konsum zuckerhaltiger Getränke und Lebensmittel bzw. allgemein kariogener Produkte bei ihren Kindern und Jugendlichen gut zu unterbinden, was sich bei jenen Personen mit ASS klinisch mit weniger kariösen Defekten äußert. Die Jugendlichen mit ASS, wo dies nicht gelingt, stellen eine Ausnahme der Regel und folglich eine entsprechende Subgruppe dar. Dennoch muss das Wissen um diese Subgruppe auch bei Pädiatern und (Kinder‑)Zahnärzten wachsen, damit frühzeitiger präventiv-prophylaktisch eingewirkt werden kann. Denn, falls die Zähne großflächige Defekte aufweisen und folglich an jenen Zähnen Schmerzen entstehen, fördert dies zusätzlich ein Unterlassen des Zähneputzens. Diesen Circulus vitiosus zu durchbrechen, kann sehr schwierig sein. Somit sollten Kinder- und Jugendärzte auch bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit darauf achten, dass diese regelmäßig und engmaschig Kontrollen beim Zahnarzt wahrnehmen.
Durch einen stark ausgeprägten Hang zur Ritualisierung und zum Auftreten stereotypen und sich wiederholenden Verhaltens mit oralem Bezug (z. B. Daumenlutschen) können sich als Folge auch Zahnstellungsanomalien, wie eine protrudierte Fehlstellung der Frontzähne, entwickeln. Dadurch wird folglich das Risiko für dentale Traumata erhöht. Ein entsprechender Zusammenhang zwischen ASS und einer erhöhten Prävalenz von Zahntraumata wird diskutiert. Es lässt sich zwar festhalten, dass Menschen mit Behinderungen diesbezüglich eine höhere Wahrscheinlichkeit haben können, diese ist jedoch laut der Übersichtsarbeit und Metaanalyse von Nogueira de Miranda et al. 2019 nur mit sehr geringer Evidenz belegt. Darüber hinaus wurde berichtet, dass keine Assoziationen zwischen erhöhter Wahrscheinlichkeit für Zahntraumata und ASS festgestellt werden können [
26]. Aus Sicht der Autoren sollten in diesem Zusammenhang die Kausalität zwischen der ASS-Kernsymptomatik „individuelles Verhaltensmuster mit oralem Bezug führt zu Zahnfehlstellung mit potenziell erhöhtem Traumarisiko“ bedacht werden. Hinzu kommt, dass bei bis zu 50 % der Patienten mit einem Asperger-Syndrom komorbid Aufmerksamkeitsstörungen im Rahmen einer hyperkinetischen Störung bzw. einer Aufmerksamkeitsdefizit‑/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) auftreten. Hingegen ist beim frühkindlichen Kanner-Autismus bekannt, dass in Abhängigkeit von der Schwere der Intelligenzminderung die Entwicklung von Epilepsien zu beobachten ist. Beide Komorbiditäten können eine Sturzgefahr mit der Folge von orofazialen Verletzungen erhöhen und sind bei Menschen mit einer Epilepsie sogar beschrieben [
24].
Entstandene dentale und orale Erkrankungen oder Fehlstellungen sind zumeist nur durch zahnärztliche und/oder kieferorthopädisch invasive Behandlungen therapierbar. Für die Durchführung derartiger Therapien ist eine Kooperationsfähigkeit im Wachzustand für z. B. intraorale Abformungen oder eine Füllungslegung unabdingbar. Häufig wird bei Kindern mit Behinderungen oder ASS mehr Zeit benötigt, bis diese Voraussetzungen gegeben sind. Derartige Besonderheiten des zeitlichen und logistischen Mehraufwands werden durch die gesetzliche Krankenversicherung für diese Personengruppen abrechnungstechnisch bislang nicht berücksichtigt. Das lässt sich schon allein daran feststellen, dass die Kosten für individualprophylaktische oder kieferorthopädische Maßnahmen für jeden gesetzlich Krankenversicherten unabhängig vom Entwicklungsstand und von der Behandlungsfähigkeit nur bis zum 18. Lebensjahr übernommen werden. Es wird erwartet, dass ein Mensch selbstständig in der Lage sein muss, seine individuelle Zahnpflege motorisch und kognitiv ausreichend gut durchzuführen. Leider werden in diesem Kontext etwaige Behinderungen oder Störungen im Verhalten nicht berücksichtigt. Die negativen Folgen werden entsprechend in der kritischen Lebensphase der Adoleszenz deutlich. Somit können ein frühzeitiges Erkennen sich anbahnender Fehlentwicklungen z. B. während der U‑Untersuchungen und eine beratende Weiterleitung an einen Zahnarzt oder Kieferorthopäden für die Möglichkeiten der Therapien entscheidend sein.
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