Neue Seuche: Pseudo-Tourette durch Social Media

Typen mit Tics – auf Social-Media-Plattformen sieht das oft ganz cool aus und veranlasst andere zur Nachahmung. Mit Tourette hat das in der Regel jedoch nichts zu tun, Neurologen sprechen vielmehr von einem „pandemischen Tic-ähnlichen Verhalten“. Hinweis: Das Wichtigste in Kürze zu dieser Studie finden Sie am Ende des Artikels. Das Tourette-Syndrom geht viral: Der Youtube-Kanal „Gewitter im Kopf – Leben mit Tourette“ hat bereits über zwei Millionen Follower. In meist sehr lustig gemachten Videos beschreiben Jan Zimmermann und Tim Lehmann Alltagssituationen wie einen Zoobesuch oder Pizzabacken, wobei Zimmermann immer wieder mit slapstickartigen Tic-Einwürfen glänzt. Dass sich Millionen junger Menschen allein in Deutschland solche Videos ansehen, bleibt offenbar nicht ohne Konsequenzen. So kommen zunehmend Patienten in die Praxen von Neurologen und Psychiatern, die ebenfalls ein Tic-ähnliches Verhalten zeigen, nachdem sie solche Videos gesehen haben, berichten Wissenschaftler um Dr. Theresa Paulus vom Institut für Systemische Motorikforschung in Lübeck. Dabei würden die Videos, wie sie auf Youtube oder TikTok zu sehen sind, häufig keine typischen Tourette-Symptome zeigen. Die angeblich an Tourette erkrankten Darsteller präsentierten oft sehr komplexe und variable Bewegungen mit ebenfalls sehr variablen Vokalisationen – meist Flüche oder beleidigende Phrasen, so die Forscher um Paulus. Der Verdacht: Hier geht es mehr um Comedy als um Tourette. Entsprechend übten viele Patientenorganisationen Kritik an den Videos. Das Problem dabei: Vielen, die nach dem Konsum solcher Videos ein Tourette-Syndrom bewusst oder unbewusst nachahmen, wird dann leichtfertig ein Tourette-Syndrom attestiert. Die Forscher um Paulus haben daher bei einer kleinen Gruppe von Patienten geschaut, wie sich das Social-Media-induzierte Tic-ähnliche Verhalten (TLB-SM, tic-like behavior – social media) von einem Tourette-Syndrom unterscheidet. Dies soll Ärzten helfen, ein Pseudo-Tourette rasch zu erkennen. Abrupter Beginn, komplexe und variable Tics Den Ärzten um Paulus ist zunächst aufgefallen, dass nach dem Erfolg von „Gewitter im Kopf“ zunehmend Patienten mit Tic-ähnlichem Verhalten in der Tourette-Ambulanz des Instituts auftauchten. Diese hatten in der Regel Videos mit angeblich an Tourette erkrankten Darstellern gesehen und zeigten wie diese eine ähnlich komplexe und für Tourette untypische Tic-Symptomatik. Das Team um Paulus wählte 13 solcher Patienten aus, bei denen die Tics erst nach dem Betrachten der Videos begonnen hatten, und verglichen die Symptomatik mit jeweils 13 ähnlich alten Personen, die eine Tourette-Diagnose basierend auf dem DSM-5 aufwiesen. Die Patienten mit Video-induzierten Tics waren im Mittel 15 Jahre alt (12–24 Jahre) und alle so schwer betroffen, dass sie von sich aus oder auf Empfehlung von Angehörigen medizinische Hilfe suchten. Wie die Forscher berichten, gab es mehrere Punkte, die sich zwischen Patienten mit TLB-SM und Tourette deutlich unterschieden. So traten die Symptome bei allen TLB-SM-Patienten abrupt auf – sie entwickelten oft innerhalb eines Tages eine schwere klinische Ausprägung, das war bei keinem der den Tourette-Patienten der Fall, hier entwickelte sich die Symptomatik viel langsamer. Praktisch alle Patienten mit TLB-SM präsentierten vorwiegend komplexe Tic-Bewegungen, aber keiner der Tourettekranken. Die Bewegungen bei TLB-SM waren fast immer langsam und tonisch, zudem meist zielgerichtet – etwa auf andere Personen hin – und kontextabhängig, dies war bei keinem der Betroffenen mit Tourette zu beobachten. Zudem bewegten Patienten mit TLB-SM meist Arme und Oberköper, hierfür hatte aber keiner der Tourette-Patienten eine Präferenz. Tics vor allem im Beisein anderer Tourette-Patienten versuchen zudem, die Tics in Präsenz anderer Menschen zu unterdrücken – die Symptomatik ist am schlimmsten, wenn sie alleine sind. Bei TLB-SM ist es genau umgekehrt: Die Tics treten bevorzugt im Beisein anderer Personen auf, deutlich weniger, wenn die Betroffenen alleine sind. Zudem variieren Patienten mit TLB-SM ihr Tic-Repertoire sehr stark, nicht so Tourette-Betroffene, umgekehrt variiert die Schwere der Symptomatik bei Tourette erheblich, nicht bei TLB-SM. Überlappungen gibt es bei den Vokalisationen: So zeigen TLB-SM-Patienten auch hier ein stark variables Repertoire mit Betonung auf Koprolalie und Echolalie, dies ist bei den Tourette-Patienten seltener der Fall, die Abgrenzung ist hier aber nicht ganz so deutlich. Da offenbar viele jungen Menschen von Videos mit Pseudo-Tourette „infiziert“ werden und ihre eigenen Tics auf entsprechenden Plattformen online stellen, sehen die Forscher um Paulus hier ein neues Phänomen, das man als „pandemisches Tic-ähnliches Verhalten“ bezeichnen könne. Das Wichtigste in Kürze Frage: Wie lässt sich ein durch soziale Medien induziertes Pseudo-Tourette von einem echten Tourette-Syndrom unterscheiden? Antwort: Patienten mit Pseudo-Tourette verschlimmern ihre Symptome in Gegenwart anderer, zeigen oft komplexe und variable Tics sowie einen abrupten Beginn der Symptomatik. Bedeutung: Ein durch soziale Medien induziertes Pseudo-Tourette lässt sich recht einfach von einem echten Tourette-Syndrom abgrenzen. Einschränkung: Untersuchung mit wenigen Patienten.

Springer Medizin

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