Lange Zeit wurde sich mit den psychischen Folgen früher Traumatisierung beschäftigt und dabei vernachlässigt, dass Traumatisierung, und insbesondere traumatische Erlebnisse in den frühen Lebensjahren auch langfristig körperliche Folgen nach sich ziehen können. Frühe Traumatisierung bedarf daher einer psychosomatischen Betrachtung, wenn es um die Identifikation späterer gesundheitlicher Folgen geht. Diese Übersicht beschäftigt sich mit dem kardiovaskulären System als „Ausdrucksorgansystem“ der biopsychosozialen Effekte früher Traumatisierung. Die bis heute wichtigste Studie zu diesem Zusammenhang stellt die Adverse Childhood Experiences (ACE) Study dar, die zwischen 1995 und 1997 Versicherte des Kaiser Permanente Medical Care Program medizinisch untersuchte und gleichzeitig mithilfe des Adverse Childhood Experiences Questionnaire nach Kindheitsbelastungen befragte (Felitti et al.
1998). Vierundsechzig Prozent aller teilnehmenden Versicherten im mittleren Alter von 57 Jahren berichteten von mindestens einem belastenden oder traumatischen Kindheitserlebnis, wobei in dieser Studie v. a. die dosisabhängige Beziehung zwischen der Zahl an ACE (eines bis 4 oder mehr Ereignisse) und einem erhöhten kardiovaskulären Risiko bemerkenswert war. Dieser dosisabhängige Zusammenhang fand sich sowohl für die koronare Herzkrankheit (KHK) und für Schlaganfall als auch für die KHK-Risikofaktoren Diabetes, Alkohol, Rauchen, körperliche Inaktivität, Adipositas und Depression. Seither haben zahlreiche Studien die Ergebnisse von Felitti et al. bestätigen können (Spitzer et al.
2016; Su et al.
2015). Dieser dosisabhängige Zusammenhang zwischen ACE und dem kardiovaskulären Gesundheitsstatus konnte ebenso bereits für Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 11 und 14 Jahren nachgewiesen werden (Pretty et al.
2013). Interessanterweise zeigen die Autoren, dass zwar mehr als 4 ACE zu einem signifikanten Anstieg kardiovaskulärer Risikofaktoren wie Adipositas, Bluthochdruck und Tachykardie führen, jedoch Herzfrequenz und Blutdruck bei einer Zahl von 3 ACE niedriger waren als die Werte ohne erlebte ACE. Die Autoren diskutieren diesen Befund in ihrer Veröffentlichung nicht, jedoch wird deutlich, dass es sich nicht zwangsläufig um einen dosisabhängigen Zusammenhang zwischen der Zahl an ACE und kardiovaskulärem Risikoprofil handelt, sondern dass es eine ACE-Dosis-Beziehung geben könnte, die sich bei mittlerer Belastung eher günstig, d. h. senkend auf Blutdruck und Herzfrequenz, auswirkt. In tierexperimentellen Studien, in denen kontrolliert ACE-Erfahrungen durch Störung der Aufzucht von Jungtieren von Geburt an untersucht werden können, wurde bereits mehrfach dieser nichtlineare Zusammenhang zwischen der Länge und der Dosis von ACE und späteren gesundheitlichen Folgen beschrieben. Während übermäßiger neonataler Stress mit negativen Verhaltensweisen wie gesteigertem depressionsähnlichem Verhalten oder vermehrter Ängstlichkeit sowie verschlechterter neuroendokriner Stressreaktivität einhergeht, zeigen sich für moderaten neonatalen Stress i. Allg. verbesserte behaviorale und biologische Antworten auf exogenen Stress im Erwachsenenalter (Macri et al.
2011). Klinisch ist uns dieser Zusammenhang sehr vertraut, denn lange nicht jeder Patient/jede Patientin mit positiver Anamnese für ACE zeigt dosisabhängig gesundheitliche Auffälligkeiten, sondern es gibt eine Vielzahl von Patienten, die belastende ACE gut bewältigt haben. Bisher gilt die Vorstellung, dass es trotz der belastenden frühen Traumatisierungen im Leben eines jungen Menschen stützende Faktoren gegeben haben muss, die schützend gegen die negativen Folgen von ACE wirksam gewesen sein müssen, wie z. B. die Erfahrung von guten zwischenmenschlichen Beziehungen in der Familie des Freundes oder der Freundin trotz früher Traumatisierung in der eigenen Familie (Liebertz et al.
2010). Wenig ist jedoch bisher dazu bekannt, ob eine bestimmte Dosis an ACE an sich und unabhängig von anderen Wirkfaktoren einen günstigen Einfluss auf die gesundheitliche Entwicklung im Erwachsenenalter haben kann. Laut translationaler Studien und der Ergebnisse von z. B. Pretty et al. (
2013) sollte sowohl klinisch als auch bei der Interpretation wissenschaftlicher Ergebnisse in Betracht gezogen werden, dass es sich nicht zwangsläufig um einen linearen, sondern eher um einem U‑förmigen oder exponentiellen Zusammenhang zwischen ACE und sowohl psychischem als auch somatischem Erkrankungsrisiko handeln könnte. Das bedeutet, dass eine gewisse, vielleicht als moderat zu bezeichnende Stresserfahrung im frühen Lebensalter langfristig auch protektive Effekte bei der Ausprägung des kardiovaskulären Risikoprofils vermitteln könnte.