Hintergrund
Zentrale Notaufnahmen (ZNA) in Deutschland versorgen jährlich mehr als 10 Mio. ambulante Patient:innen [
1‐
3]. Hiervon suchen 45–76 % aus eigenem Antrieb und ohne ärztliche Überweisung bzw. vorherige kassenärztliche Vorstellung die ZNA auf [
2,
4]. Diese sogenannten „Selbstvorsteller:innen“ tragen zur latenten Überlastung (Crowding) der Notaufnahmen bei [
5] und sind daher seit vielen Jahren Gegenstand kontroverser gesundheitspolitischer Diskussionen [
6]. Crowding wiederum führt zu Einbußen bei der Versorgungsqualität sowie der Patient:innensicherheit und erhöht die Mortalität der stationär zu behandelnden Notfallpatient:innen [
7‐
10]. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) hat daher am 6. Juli 2023 eine „Richtlinie … zur Ersteinschätzung des Versorgungsbedarfs in der Notfallversorgung gemäß § 120 Abs. 3b SGB V (Ersteinschätzungs-Richtlinie)“ veröffentlicht, die „Hilfesuchende“ mit niedriger Behandlungspriorität in den vertragsärztlichen Bereich lenken soll [
11]. Obwohl der Beschluss vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) beanstandet wurde, ist davon auszugehen, dass der G‑BA an verschiedenen Kernpunkten des dort beschriebenen „Ersteinschätzungsverfahrens“ festhält. Dazu gehört der Einsatz eines „digitalen Assistenzsystems“, das die Ersteinschätzer:innen im Krankenhaus bei der Festlegung der Dringlichkeit und der angemessenen Versorgungsstufe aller Hilfesuchenden mit niedriger Fallschwere entsprechend der Triagekategorien 3, 4 und 5 (gelb/grün/blau) gemäß Manchester Triage System (MTS) bzw. Emergency Severity Index (ESI) unterstützen soll [
11].
Als potenzielle Kandidat:innen hierfür gelten sowohl das vom Innovationsfonds des G‑BA geförderte Assistenzsystem OPTINOFA (Optimierung der Notfallversorgung durch strukturierte Ersteinschätzung mittels intelligenter Assistenzdienste) als auch das von den Kassenärztlichen Bundesvereinigungen bereits eingesetzte System SmED (Strukturierte medizinische Ersteinschätzung in Deutschland; [
12,
13]). Ein konkretes Assistenzsystem wurde bisher jedoch weder vom BMG noch vom G‑BA benannt. Ziel dieser Studie war es, den potenziellen Einsatz von SmED bei der Bestimmung der Dringlichkeit und der Versorgungsstufe von Hilfesuchenden in einer universitären Notaufnahme erstmals zu evaluieren. Zusätzlich sollten die Ergebnisse im Kontext der Ersteinschätzungs-Richtlinie des G‑BA analysiert werden.
Material und Methoden
Setting
Im Zentrum für Akut- und Notfallmedizin des Universitätsklinikums werden jährlich ca. 35.000 Patient:innen aller Fachrichtungen behandelt. Alle Patient:innen werden beim Eintreffen von geschulten Pflegekräften oder medizinischen Fachangestellten mithilfe des MTS im Krankenhausinformationssystem ORBIS® (Dedalus HealthCare GmbH, Bonn) erfasst und EDV-gestützt ersteingeschätzt. Abhängig von der Auswahl eines der 53 Präsentationsdiagramme sowie den zugehörigen Indikatoren wird ein:e Patient:in dabei einer von fünf Dringlichkeitsstufen (Kategorien) zugeordnet (rot, orange, gelb, grün, blau; [
14,
15]).
Am Standort existiert keine Notfall- oder Portalpraxis. Die nächstgelegenen Notfallpraxen sind ca. 5 km entfernt und grundsätzlich mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar.
Patient:innen und Studiendesign
Die Studie wurde vom 11.09.2023 bis 08.12.2023 an insgesamt 43 Tagen zu verschiedenen Tageszeiten durchgeführt. Einschlusskriterium war die Zuordnung zu einer der MTS-Kategorien 3 bis 5 (entsprechend § 5 des G‑BA-Beschlusses), unabhängig davon, ob die Patient:innen selbstständig oder durch den Rettungsdienst vorgestellt wurden (entsprechend § 2 Absatz 1). Abweichend vom G‑BA-Beschluss wurden nicht nur gesetzlich Versicherte, sondern auch privat Versicherte und Selbstzahler sowie Patient:innen mit einer ärztlichen Verordnung zur Krankenhausbehandlung (Einweisung) zwecks explorativer Subgruppenanalysen eingeschlossen [
11]. Ausgeschlossen wurden alle Patient:innen der dringlichen MTS-Kategorien 1 und 2 sowie Kinder und Jugendliche < 18 Jahren. Alle Patient:innen gaben bei Einschluss in die Studie ihr schriftliches Einverständnis („informed consent“). Die Studie erfolgte im Einklang mit der Deklaration von Helsinki und mit Zustimmung der lokalen Ethikkommission (Aktenzeichen 2017-598-f-S).
Durchführung SmED
Zur Vermeidung von Interrater-Variabilität wurden sämtliche Patient:innen von einem einzigen Untersucher (Medizinstudent/Notfallsanitäter) evaluiert. Hierfür wurde die frei zugängliche Version von SmED (in4medicine AG, Bern, CH) der Kassenärztlichen Bundesvereinigung genutzt. Sämtliche Fragen von SmED wurden den Patient:innen vom Untersucher vorgelesen und ggf. erläutert. Die browserbasierte Dateneingabe auf einem Apple iPad Pro erfolgte ausschließlich durch den Untersucher. Die am Ende des Eingabedialogs von SmED ausgegebenen Empfehlungen hinsichtlich der geeigneten Versorgungsebene (Notaufnahme, Rettungsdienst, Vertragsarzt, Telekonsultation) und der Dringlichkeit des Behandlungsbedarfs (Notfall, schnellstmöglich, < 24 h, ≥ 24 h) wurden vom Untersucher in eine Datenbank übertragen. Im Rahmen der Auswertung wurde die Versorgungsebene „Rettungsdienst“ (n = 19) unter Notaufnahme sowie „Telekonsultation“ (n = 6) unter Vertragsarzt subsumiert. Die SmED-Ergebnisse wurden nicht an das Team der Notaufnahme kommuniziert und hatten keinen Einfluss auf die tatsächliche Disposition oder den Behandlungsverlauf.
Gemäß dem G‑BA-Beschluss (§ 5 Absatz 3) wurden alle Patient:innen, die sofort, schnellstmöglich oder in < 24 h behandelt werden sollten, in der Dringlichkeitsgruppe 1 zusammengefasst. Patient:innen mit einer Empfehlung zum Behandlungsbeginn nach ≥ 24 h wurden der Dringlichkeitsgruppe 2 zugeordnet [
11].
Befragung
Anschließend wurden alle Patient:innen mittels eines Fragebogens zu den Umständen des Aufsuchens der Notaufnahme, der individuellen Dringlichkeitseinschätzung, der hausärztlichen Versorgungssituation und der generellen Akzeptanz einer fiktiven Weiterleitung in den vertragsärztlichen Bereich befragt.
Outcome und Endpunkte
Die Beurteilung der Diskriminationsfähigkeit von SmED erfolgte anhand des primären Endpunkts „Notwendigkeit zur stationären Aufnahme“ (Aufnahmequote). Als sekundäre Endpunkte wurden unter anderem die Verweildauer im Krankenhaus sowie der Ressourcenverbrauch (radiologische Leistungen, Interventionen, Ultraschalldiagnostik etc.) definiert. Die Grundlage hierfür bildete die Leistungserfassung und Dokumentation in der digitalen Patient:innenakte des Krankenhausinformationssystems.
Statistische Analyse
Die Daten wurden als absolute Zahlen, Prozentsätze und Mediane mit dem entsprechenden 25. und 75. Perzentil (Interquartilsbereich [IQR]) dargestellt. Die Analyse der Unterschiede zwischen den Gruppen erfolgte mittels zweiseitigen Mann-Whitney-U-Tests bzw. Kruskal-Wallis-Tests für kontinuierliche Variablen. Für den Vergleich kategorialer Variablen wurde die Chi-Quadrat-Analyse verwendet. Die Genauigkeit der Ergebnisse in Bezug auf den primären Endpunkt wurde mithilfe von Kontingenztabellen bestimmt. Zweiseitige p-Werte < 0,05 wurden als statistisch signifikant betrachtet. Für die statistische Analyse und die Erstellung von Abbildungen wurden die Software SPSS Version 29 (IBM Corporation, Armonk, NY, USA) und das Programm GraphPad Prism Version 9.0.0 (GraphPad Prism Software Inc., San Diego, CA, USA) verwendet.
Diskussion
Diese prospektive Beobachtungsstudie liefert erstmals Real-world-Daten zum perspektivischen Einsatz von SmED im Kontext der Ersteinschätzungs-Richtlinie des G‑BA in einem universitären Notfallzentrum. Die wichtigste Schlussfolgerung ist, dass die Diskriminationsfähigkeit von SmED nicht ausreicht, um die angemessene Versorgungsebene zu bestimmen. Insbesondere die hohe Falsch-negativ-Rate (27 %) ist für ein digitales Assistenzsystem am gemeinsamen Tresen nicht akzeptabel. Der Einsatz von SmED im Rahmen der Ersteinschätzungs-Richtlinie des G‑BA würde in unserer Notaufnahme zu keiner relevanten Entlastung, aber potenziell zu einer Patient:innengefährdung führen.
Auf den ersten Blick stehen unsere Daten in deutlichem Kontrast zur bislang einzigen offiziellen Publikation zum Einsatz von SmED in der Notaufnahme: Koech et al. untersuchten ebenfalls in einer Notaufnahme der umfassenden Notfallversorgung die Pfade von Selbstvorsteller:innen der MTS-Kategorien 3 bis 5. Der wesentliche Unterschied im Studiendesign bestand jedoch darin, dass fast 40 % dieser Fälle aufgrund eines vorab antizipierten Bedarfs an Notfallressourcen gar nicht erst mittels SmED evaluiert, sondern direkt in die Notaufnahme weitergeleitet wurden. Laut Einschätzung der VertragsärztInnen hätten trotzdem noch 14 % aller verbleibenden, von SmED in die Notfallpraxis geleiteten Patient:innen eigentlich in der Notaufnahme behandelt werden müssen [
13]. Diese Quote passt sehr gut zu den ca. 17 % der Fälle (
n = 13/77), die mit Einweisung in die Notaufnahme kamen und von SmED eigentlich zum Vertragsarzt gelenkt worden wären. Auch wenn diese Ergebnisse nicht direkt mit unseren vergleichbar sind, verstärken sie die Zweifel an der Eignung von SmED für die erweiterte Ersteinschätzung in der Notaufnahme.
Eine weitere Studie an insgesamt 1840 Selbstvorsteller:innen („walking emergencies“) in den Notaufnahmen der Berliner Charité und des Universitätsklinikums Leipzig kommt ebenfalls zu dem Ergebnis, dass SmED (in der Notaufnahmeversion SmED Kontakt +) im Vergleich zu den gegenüber SmED verblindeten Notaufnahmeärzt:innen die Versorgungsebene in 66,4 % über- und in 14,5 % der Fälle unterschätzt („potenzielle Untertriage“). Die Patient:innensicherheit wurde durch Experten allerdings nur in 2,7 % (95 %-KI 2,0–3,5 %) der Fälle als potenziell gefährdet eingeschätzt [
16]. Die Diskrepanz zwischen Untertriage und Gefährdung weist darauf hin, dass auch in unserer Studie sicher nicht alle von SmED fälschlicherweise zum Vertragsarzt geleiteten Patient:innen durch dieses Vorgehen zu Schaden gekommen wären. Umgekehrt lässt die hohe Aufnahmequote in dieser Gruppe darauf schließen, dass eine abschließende Versorgung durch Vertragsärzt:innen in vielen Fällen nicht möglich gewesen wäre.
In den kritischen Stellungnahmen mehrere Fachgesellschaften wurde die G‑BA-Ersteinschätzung-Richtlinie insbesondere für die darin enthaltene Verpflichtung zur fachärztlichen Überprüfung bei Einstufung in die Dringlichkeitsgruppe 2 (Behandlungsbeginn erst nach > 24 h) gemäß § 7 kritisiert. Wir waren überrascht, dass lediglich 2,7 % (7 von 257) unserer Patient:innen auf diese Gruppe entfielen. Extrapoliert auf alle 4695 entsprechenden Fälle im Studienzeitraum wären dies insgesamt 126 Patient:innen bzw. zwei pro Tag gewesen. Der tatsächliche Nutzen von SmED im Sinne der G‑BA-Richtlinie könnte daher deutlich geringer sein als die Kosten und der Aufwand für die Implementierung. Diese Erkenntnis wiegt umso schwerer, als weniger als die Hälfte aller Patient:innen eine fiktive Weiterleitung akzeptiert hätte. Letztlich dient die fachärztliche Überprüfung der Dringlichkeitsgruppe 2 wohl eher der Beruhigung der Gemüter als der Überprüfung des Ergebnisses.
Einige Limitationen unserer Studie sind gesondert zu erwähnen: (1) Die Ergebnisse dieser Single-Center-Studie sind aufgrund des Studiendesigns nur eingeschränkt auf andere Standorte und/oder Versorgungsstufen übertragbar. (2) Die individuellen SmED-Ergebnisse wurden nicht ex ante durch Expert:innen bewertet, sondern ex post über die Einweisungsrate validiert. Diese Art der Validierung ist nicht nur bei Ersteinschätzungs- und Triageinstrumenten üblich [
17], sondern erfasst zudem auch den Ressourcenbedarf, der bei Ankunft in der Notaufnahme oft noch nicht abgeschätzt werden kann. Wir möchten jedoch klarstellen, dass SmED nicht zur Abschätzung der Notwendigkeit einer stationären Aufnahme konzipiert wurde, sondern lediglich zur Bestimmung der Versorgungsebene und der Behandlungsdringlichkeit. (3) Die Stichprobengröße ist klein. Dies ist darauf zurückzuführen, dass der prospektive Einschluss der Patient:innen durch nur einen Untersucher entsprechend zeitintensiv war (ca. 30 min pro Patient:in). Die Ergebnisse sind jedoch eindeutig und es ist zu bezweifeln, dass eine größere Stichprobe zu anderen Ergebnissen geführt hätte. (4) Anders als im G‑BA-Beschluss gefordert, wurden auch einige wenige Patient:innen mit fachärztlicher Einweisung eingeschlossen. Dies erfolgte, um abschätzen zu können, ob fachärztlich vorgefilterte (und eingewiesene) Patient:innen von SmED überwiegend der Notaufnahme zugeordnet würden. Ein Ausschluss dieser Fälle änderte jedoch nichts am Ergebnis. (5) Der primäre Endpunkt „Notwendigkeit eines Krankenhausaufenthalts“ wurde medizinisch nicht näher analysiert. Insofern kann nicht ausgeschlossen werden, dass auch nichtmedizinische Gründe zu einer Aufnahme geführt haben. (6) Aus lizenzrechtlichen Gründen wurde in dieser Studie die frei zugängliche Version von SmED verwendet und nicht die auf die Notaufnahme spezialisierte Version SmED Kontakt +. Letztere stellt u. a. die Red Flags an den Anfang der Abfrage, sodass die Versorgungsstufe „Notaufnahme“ oft deutlich schneller festgestellt werden kann. Nach Rücksprache mit dem Softwareprovider in Deutschland (Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung) sollten die Versionsunterschiede jedoch keinen Einfluss auf die Ergebnisse haben.
Ausblick
Nach Schätzungen der Deutschen Gesellschaft für Interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin e.V. (DGINA) könnte etwa ein Drittel der ambulanten Akutbehandlungen in Notaufnahmen auch im vertragsärztlichen Bereich erbracht werden [
18]. Derzeit steht den Notaufnahmen jedoch (immer noch) kein entsprechend evaluiertes Assistenzsystem zur sicheren Identifikation dieser Fälle zur Verfügung. Der Einsatz von SmED zur Festlegung der Versorgungsebene erscheint auf Basis unserer Daten obsolet. Es bleibt abzuwarten, ob digitale Assistenzsysteme diesen Anspruch in Zukunft erfüllen können – und ob die Patient:innen einer möglichen Empfehlung zur ambulanten Vorstellung im KV-Bereich dann auch folgen würden.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Alle beschriebenen Untersuchungen am Menschen oder an menschlichem Gewebe wurden mit Zustimmung der zuständigen Ethikkommission, im Einklang mit nationalem Recht sowie gemäß der Deklaration von Helsinki von 1975 (in der aktuellen, überarbeiteten Fassung) durchgeführt. Von allen beteiligten Patient:innen liegt eine Einverständniserklärung vor.
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