Hintergrund
Diabetes beeinträchtigt nicht nur das körperliche, sondern auch das psychische Wohlbefinden betroffener Personen [
13,
18]. Die Berücksichtigung psychischer, einschließlich kognitiver, emotionaler und verhaltensbezogener Aspekte, rückt vermehrt in den Fokus aktueller Forschung, da sie von entscheidender Bedeutung für das Patientenwohl sind [
3,
6,
9,
13,
15,
18,
19,
39].
Autoren wie Kalra et al. argumentieren, dass die Vernachlässigung psychischer Aspekte eines Diabetes vorwiegend auf den Mangel an geschultem Personal, Zeit und Ressourcen zurückzuführen sei [
18]. Mit Blick auf die mögliche Vermeidung psychischer Folgeerkrankungen [
7,
9,
10,
24] und die – durch psychische Faktoren vermittelte [
6,
7,
9,
24] – Verbesserung der Therapieadhärenz erscheinen Investitionen in diese Bereiche jedoch ausgesprochen sinnvoll.
Konstrukte wie die sog. diabetesbedingte Belastung wurden eigens zum Zweck der Operationalisierung der Gesamtheit diabetesbedingter psychischer krankheits- und therapiebedingter Faktoren entwickelt. Sie umfassen die Besorgnis des Patienten hinsichtlich des Krankheitsmanagements, sozialer Unterstützung, emotionaler Belastung sowie bezüglich des Zugangs zu medizinischer Versorgung [
32]. Mit Fragebögen wie der Problem Areas in Diabetes Scale (PAID-Skala) wurde Praxis und Forschung ein einfaches Instrument an die Hand gegeben, das eben jene subjektiven Herausforderungen der Patientinnen/Patienten erfasst. Diabetesbedingte Belastung ist dabei mit entscheidenden Patientenvariablen wie Adhärenz von Bewegungsvorgaben und Medikamenten [
1,
30], HbA1c-Wert und glykämischer Kontrolle [
14,
30] assoziiert.
Selbst im subklinischen Bereich sind die Zusammenhänge zwischen Variablen des glukoregulativen Systems und psychischen Aspekten evident. So gehen beispielsweise bei gesunden Personen höhere Blutzuckerspiegel im Normalbereich mit geringeren Volumina der grauen/weißen Substanz in den frontalen Kortizes einher, was sich auf behavioraler Ebene wiederum in schlechteren Ergebnissen in psychologischen Leistungstests äußert [
26,
34]. Das Ausmaß dieser Effekte ist dabei z. T. gravierend – Personen mit einem Blutzuckerspiegel im Prädiabetesbereich unterliefen in einer Inhibitionsaufgabe fast doppelt so viele Fehler wie Personen mit normalem Blutzuckerspiegel [
12].
Mit dem Konstrukt der kognitiven Glukosesensitivität (kGS) wurde ein weiteres Instrument geschaffen, welches eine genauere Betrachtung des Wechselspiels von psychischen Prozessen und Glukosehaushalt ermöglichen soll. Es handelt sich dabei um die individuelle Responsivität mentaler Vorgänge auf die externe Zufuhr von Glukose [
28]. Diese wurde bisher experimentell gemessen, indem entsprechende Leistungsparameter individuell, jeweils mit und ohne externe Glukosezufuhr, erhoben wurden. Während eine niedrige kGS für eine geringe Veränderung psychischer Parameter infolge der Glukosezufuhr steht, ist eine hohe kGS als eine starke, glukosebedingte Verbesserung dieser Parameter zu verstehen. Die im Experiment festgestellten Effekte der kGS sind dabei erheblich – Personen mit den schlechtesten Leistungen im Fastenzustand konnten ihre Leistung unter Glukosezufuhr teilweise mehr als verdoppeln [
28]. Bei den Personen mit den besten Leistungen im Fastenzustand konnte in derselben Studie hingegen keine große kGS nachgewiesen werden. Die kGS stellt also ein individuelles und situatives Leistungsdefizit dar, welches durch eine Glukosezufuhr kurzfristig teilkompensiert werden kann. Neuheitswert besitzen dabei v. a. zwei Aspekte. Erstens, die starke Vorhersagekraft der Leistung in Abwesenheit einer Glukosezufuhr auf die zu erwartende Leistungssteigerung durch eine Glukosezufuhr. Wenn eine Person ohne kurzfristig vorangegangene Glukosezufuhr schlechte kognitive Leistung erbringt, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass eine Glukosezufuhr die Leistung verbessern wird. Ein solcher Effekt, insbesondere dieser Größenordnung, ist alles andere als intuitiv, wenn man die Vielzahl an – oftmals dispositionalen und zeitlich stabilen – Determinanten interindividueller Unterschiede kognitiver Leistungen berücksichtigt. Der zweite Aspekt mit Neuheitswert liegt darin, dass es sich infolge einer Glukosegabe lediglich auf intraindividueller Ebene um eine Leistungszunahme handelte. Interindividuell betrachtet blieb in derselben Studie das Leistungsniveau von Personen mit hoher kGS stets unter dem von Personen mit niedriger kGS, die sowohl fastend als auch unter Glukosezufuhr die besten Leistungen erbrachten.
Die Größe des beschriebenen Effekts spricht für eine deutliche praktische Signifikanz der kGS. Eine Leistungsveränderung, die > 50 % entsprach, fand sich in einem Drittel aller gesunden Versuchspersonen – dasselbe Drittel, dass auch das letzte Drittel der Ränge der kognitiven Leistungstests belegte [
28]. Beachtet man, dass die Stichprobe verhältnismäßig jung war (M = 23,17; SD = 6,75), so ist eine praktische Relevanz eines solches Effekts im klinischen als auch im pädagogischen Kontext sowie im größeren Rahmen der Gesundheitsförderung denkbar.
Die durch die kGS quantifizierten individuellen Unterschiede in der kognitiven Sensitivität für die Einflüsse von Glukose stehen im Einklang mit Ergebnissen hinsichtlich der unter kognitiver Last verstoffwechselten Glukosemenge (gemessen über die Atemluft; [
29]), weshalb der individuelle Glukosehaushalt als mediierende Größe sehr plausibel erscheint.
Angesichts der Tatsache, dass die kGS bereits bei klinisch unauffälligen Personen erhebliche interindividuelle Varianz aufweist [
28], ist die Untersuchung der kGS bei Personen mit pathologisch verändertem Glukosehaushalt besonders interessant. Sowohl der Anwendung als auch der Forschung kommt dabei zugute, dass das Konstrukt der kGS nicht zwangsläufig mit dem relativ aufwendigen Verfahren – bestehend aus zwei Laborsitzungen mit und ohne externe Glukosezufuhr – erfasst werden muss. Ersten Erkenntnissen zufolge sind die Auswirkungen der kGS profund genug, um von den Betroffenen wahrgenommen und bewusst beschrieben werden zu können [
27]. Grundsätzlich sind durch den Glukosehaushalt bedingte psychische Effekte durchaus introspektiv zugänglich, wie es sowohl in der Praxis durch etablierte Fragebögen zur diabetesbedingten Belastung oder auch durch zahlreiche Publikationen belegt ist [
5,
42]. Auch unter Berücksichtigung der zuvor beschriebenen individuellen glukosebedingten Leistungsunterschiede von bis zu > 200 % ist es nicht sonderlich überraschend, dass Betroffene die kGS selbst an sich wahrnehmen können.
Somit liegt es nahe, dass Einschränkungen des psychischen Funktionsniveaus, wenn kürzlich keine Glukosequellen konsumiert wurden, introspektiv operationalisierbar sind. Diesen Umstand macht sich der Fragebogen Indicators of Glucose-Dependency (IGlu) zu Nutze, der das Ausmaß oben beschriebener Effekte erfasst und somit die subjektive kGS misst. Mit der subjektiven kGS wird also der Grad der selbst wahrgenommenen Einschränkungen des psychischen Erlebens – insbesondere der kognitiven Verarbeitung – beschrieben, welche mit zunehmender Nahrungsdeprivation auftritt.
Diese Größe kovariiert mit ihrem experimentell gemessenen Gegenstück und beide lassen sich durch Interventionen, welche mit Gewichtsreduktionen einhergingen, positiv beeinflussen [
27]. Diese Erkenntnis stimmt insofern optimistisch, als dass die kGS insbesondere bei Männern mit dem Körpergewicht assoziiert ist [
28]. Angesichts des etablierten Zusammenhangs zwischen Körpergewicht und Insulinsensitivität sowie der Evidenz hinsichtlich der moderierenden Rolle des Geschlechts [
25,
37,
41] gelten Insulinsensitivität und Glukosehaushalt als die wahrscheinlichsten Mechanismen hinter der kGS [
28]. Die Erforschung der kGS bei Personen mit pathologischen Auffälligkeiten des Glukosehaushalts ist somit ein naheliegender nächster Schritt, welcher im Rahmen der hier vorgestellten Studie begangen wurde. Dabei bot sich zunächst die nähere Betrachtung der subjektiven kGS an, welche die kontaktfreie, online-gestützte Untersuchung von Menschen mit Diabetes – einer Risikogruppe für COVID-19 („coronavirus disease 2019“; [
38]) – während der Pandemie ermöglichte.
Das erste wesentliche Ziel der Studie ist die Untersuchung eines möglichen Zusammenhangs zwischen subjektiver kGS und einem etablierten Indikator des Langzeitblutzuckerspiegels, dem HbA1c-Wert. Ein solcher Zusammenhang wäre insofern bedeutsam, als dass er einen weiteren Hinweis für die enge Beziehung zwischen Blutglukoseregulation und psychischen Prozessen darstellen würde, welche ultimativ das Wohlbefinden des Patienten beeinflussen. Wenn das Patientenwohl priorisiert werden soll, müssen es ebenso jene Mechanismen, welche den Einfluss zwischen Soma und Psyche vermitteln. Der Grund dafür ist, dass eine hohe kGS per Definition ein situatives Leistungsdefizit darstellt, deren physiologischen Mechanismen wir im Glukosestoffwechsel und den mit ihm relatierten Faktoren vermuten. Beim Langzeitblutzuckerwert und der diabetesbedingten Belastung handelt es sich um eben solche. Daher erwarten wir jeweils positive, korrelative Zusammenhänge zwischen subjektiver kGS und den beiden unmittelbar diabetesrelatierten Konstrukten (diabetesbedingter Belastung und HbA1c-Wert). Die Annahme ist dabei, dass je schlechter die Glukoregulation ist (hoher HbA1c), desto störanfälliger ist das psychische Funktionsniveau, wenn keine externen Glukosequellen zugeführt werden. Ein solches Ergebnis stünde im Einklang mit etablierten Befunden hinsichtlich zerebraler Insulinsensitivität, individueller Anpassung an die Verwertung von Ketonkörpern sowie dem Zusammenhang zwischen Leistungsdefiziten und erhöhtem Glukoseumsatz unter kognitiver Belastung [
17,
20,
29,
31].
Zweitens sollte untersucht werden, inwiefern eine Beziehung zwischen subjektiver kGS und diabetesbedingter Belastung besteht. Da die subjektive kGS nach dem aktuellen Forschungsstand beeinflussbar ist, würde ein Zusammenhang zwischen den beiden Konstrukten einen Ansatz zur Reduktion der diabetesbedingten Belastung durch Senkung der kGS darstellen. Im Gegensatz zur diabetesbedingten Belastung ist die kGS ein psychologisches Konstrukt, welches sich auch bei Personen ohne Diabetes einsetzen lässt. Die Erforschung der Beziehung zwischen beiden Konstrukten birgt somit langfristig auch das Potenzial, diabetesspezifische von diabetesunspezifischen Einflüssen auf das Erleben und Verhalten zu differenzieren oder auch psychische Effekte des Glukosehaushalts über das gesamte Kontinuum der Insulinresistenz [
23] zu erforschen.