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Erschienen in: Die Nephrologie 3/2023

Open Access 13.03.2023 | Typ-2-Diabetes | Leitthema

Präzision der Prognose von Nierenerkrankungen bei Diabetes mellitus Typ 2

Ist das Limit erreicht?

verfasst von: Dr. Sara Denicolò, Prof. Dr. Gert Mayer

Erschienen in: Die Nephrologie | Ausgabe 3/2023

Zusammenfassung

Bis zu 40 % der Patient:innen mit Diabetes mellitus Typ 2 entwickeln eine chronische Nierenerkrankung, aber nur ein relativ kleinen Teil eine terminale Niereninsuffizienz. Eine Einschätzung der individuellen renalen Prognose ist daher insbesondere in Anbetracht der neuen primär- und sekundärprophylaktischen Möglichkeiten von großer Bedeutung. In der klinischen Praxis werden nach KDIGO (Kidney Disease: Improving Global Outcomes) v. a. die geschätzte glomeruläre Filtrationsrate (eGFR) und die Albuminurie für die Diagnosestellung und die Prognosestratifizierung herangezogen. In Kombination mit neuen Biomarkern kann damit das relative Risiko für Gruppen von Patient:innen zunehmend gut abgeschätzt werden, auf individueller Ebene sind die Vorhersagen aber noch immer ungenau. Eine Ursache für diese mangelhafte Präzision ist die neben der interindividuellen Heterogenität bestehende ausgeprägte longitudinale intraindividuelle Variabilität der Progression. Lösungsansätze sind eine wiederholte Evaluation des Risikos in kürzeren Abständen und/oder neue, aus der Mathematik übernommene Methoden, die a priori auf Einzelverläufe Rücksicht nehmen und es erlauben, das longitudinale Verhalten komplexer Systeme zu beschreiben.
Hinweise

Redaktion

Danilo Fliser, Homburg/Saar
Gert Mayer, Innsbruck
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Einleitung

Zwischen 25 und 40 % aller Patient:innen mit Diabetes mellitus Typ 2 (T2DM) entwickeln eine chronische Nierenerkrankung („diabetic kidney disease“, DKD). Mit deren Auftreten und Progression nehmen die kardiovaskuläre Morbidität und Mortalität deutlich zu, nur ein relativ kleiner Anteil der Betroffenen entwickelt eine terminale Niereninsuffizienz („end-stage kidney disease“, ESKD). Aufgrund der hohen Prävalenz des T2DM ist die DKD dennoch die derzeit häufigste Ursache der ESKD [13]. Erfreulicherweise haben sich die Möglichkeiten der Primär- und Sekundärprävention enorm weiterentwickelt. Viele Jahre standen „nur“ Maßnahmen zur Verfügung, die bei T2DM unabhängig von einer Nierenerkrankung empfohlen werden (Optimierung des Lebensstils und der Blutdruckeinstellung unter Einschluss von Medikamenten, die die Aktivität des Renin-Angiotensin-Systems unterdrücken; Verbesserung der Stoffwechselkontrolle). Nun gibt es viele neue medikamentöse Optionen mit teilweise spezifisch renal positiven Effekten, und deren Zahl wird weiter steigen. Diese erfreuliche Entwicklung bringt auch neue Herausforderungen mit sich. Man kann, solange keine absoluten Kontraindikationen bestehen, immer alle zur Verfügung stehenden Substanzen gleichzeitig einsetzen. Die Konsequenz ist eine (weiter) wachsende Polypharmazie mit negativen ökonomischen Folgen, Interaktionen, Nebenwirkungen und einer Gefährdung der Adhärenz. Problematisch ist der All-fit-all-at-all-time-Zugang auch, weil nicht alle Patient:innen mit T2DM eine DKD entwickeln und diese interindividuell sehr unterschiedlich rasch fortschreitet. Dies lässt auf eine heterogene Pathophysiologie schließen, was für eine individuell angepasste Therapie spricht.
Man muss allerdings zugeben, dass wir, obwohl in den letzten Jahren viel Zeit und Geld investiert wurde, nach wie vor nicht in der Lage sind, auf individuelle Eigenheiten bei DKD ausreichend einzugehen. Eine ideale Phänotypisierung nimmt auf prognostische Charakteristika genauso Rücksicht wie auf die (individuell zumindest dominierende) Pathophysiologie. Sind auch die Wirkmechanismen von Medikamenten bekannt, könnte man Informationen zu Prognose, Pathophysiologie und „drug mode of action“ kombinieren und eine wirklich zielgerichtete Therapie anbieten.
Die Grundlage vieler Therapieentscheidungen ist eine möglichst genaue Kenntnis des zu erwartenden Verlaufs, von dem wir wissen, dass er nicht bei allen Patient:innen gleich ist. Studien, die das Ziel haben, die Präzision der Vorhersage der renalen Prognose zu verbessern, teilen üblicherweise größere Kohorten von Patient:innen mithilfe von Biomarkern in Gruppen (Strata) mit unterschiedlichem Verhalten. Das Ergebnis sind Wahrscheinlichkeiten (wie z. B. Hazard-Ratio [HR]) und damit probabilistische Aussagen für ein Individuum. Diese können am Krankenbett zwar sehr hilfreich sein, eine möglichst genaue, deterministische Aussage für einen bestimmten Patienten wäre aber besser. Wenn man mit den vorliegenden Vorhersagemodellen aber den Schritt von der (durchaus erfolgreichen) stratifizierten zur personalisierten Medizin macht, ist man oft überrascht, wie ungenau die Einschätzung wird.
In den folgenden Abschnitten wird an einigen Beispielen der Frage nachgegangen, wie präzise klinisch, oder zumindest experimentell etablierte Biomarker auf Kohortenebene und gleichzeitig für ein Individuum die Prognose einer DKD vorhersagen und welche Konsequenzen gezogen werden können.

Vorhersage der Prognose bei DKD: „state of the art“

Albuminurie und eGFR als prognostische Biomarker

In der klinischen Praxis werden nach KDIGO (Kidney Disease: Improving Global Outcomes) bei DKD v. a. die geschätzte glomeruläre Filtrationsrate (eGFR) und die Albuminurie für die Diagnosestellung und die Risikostratifizierung herangezogen [4]. Sogar Therapieentscheidungen werden auf dieser Basis getroffen, weil die Zulassung von Medikamenten an die KDIGO-Stadien-basierten Ein- und Ausschlusskriterien der Phase-III-Studien gebunden ist (und leider weniger an die Pathophysiologie, da diese durch Albuminurie und/oder eGFR kaum erfasst wird).
Nach den Leitlinien haben z. B. Patient:innen im Stadium G3a/A2 im Vergleich zu einer Referenzpopulation (G1-2/A1) ein 40fach erhöhtes relatives Risiko für eine ESKD (Abb. 1, links; [5]).
Bei einer Inzidenz in der Referenzpopulation von 0,04 pro 1000 Patientenjahre bedeutet dies einen deutlichen Anstieg auf 1,6 [3, 5]. Wenn man von einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 20 Jahren nach der Diagnosestellung eines Stadiums G3/A2 ausgeht, bedeutet dies, dass 1,6 von 50 Patient:innen, also ungefähr 3,2 % der „positiv getesteten“ Personen tatsächlich eine ESKD entwickeln. Die KDIGO-Tabellen eignen sich also gut für die Beschreibung eines relativen Risikos von Gruppen (also für eine Angabe von Wahrscheinlichkeiten), auf individueller Ebene sind sie aber ungenau.
Neben der Variabilität der Parameter (v. a. der Albuminurie) sind eine weitere Ursache für die mangelhafte Präzision die selbst ohne Änderung der Therapie interindividuell sehr unterschiedlichen Progressionsgeschwindigkeiten (Abb. 1, rechts). Diese können von den KDIGO-Risikotafeln, die ja auf einem Querschnittbefund beruhen, nicht ausreichend berücksichtigt werden. Wenn man den Verlauf der Patient:innen einbezieht, wirkt sich dies positiv auf die Genauigkeit der Vorhersage aus. Coresh et al. [8] haben bei über 1,7 Mio. Studienteilnehmer:innen die Wahrscheinlichkeit für eine ESKD in Abhängigkeit vom Abfall der eGFR während einer vorangehenden 2‑jährigen Beobachtungsperiode ermittelt. Wenn bei einer eGFR von 50 ml/min/1,73 m2 diese innerhalb von 24 Monaten um 57 % abnimmt (also auf ca. 23 ml/min/1,73 m2 abfällt), was bei etwa 0,79 % der Population der Fall war, beträgt das absolute Risiko für eine ESKD innerhalb der nächsten 5 Jahre 32 %, bei einer Abnahme von 30 % nur 8,1 %. Die Sensitivität der Abnahme um 57 % liegt ungefähr bei 43 %, die Spezifität bei 94 %. In Anbetracht der sehr kleinen Gruppe, auf die dieses strenge Kriterium zutrifft, entwickeln, absolut gesehen, trotz der guten Spezifität mehr Patient:innen mit einem negativen Test eine ESKD. 54 % der Teilnehmer hatten eine stabile eGFR während der 2‑jährigen Beobachtungsphase, sogar in dieser Gruppe war die absolute Zahl an Fällen mit einer ESKD in den nächsten 5 Jahren ungefähr 4‑mal höher.
Trotzdem sind die Daten ermutigend, allerdings werfen sie die Frage auf, warum nicht alle Patient:innen mit einer eGFR von 23 ml/min/1,73 m2, die in den vorangehenden 2 Jahren 27 ml/min/1,73 m2 verloren haben, nach 5 Jahren dialysepflichtig werden, sondern „nur“ 32 % (das „competing risk of death“ wurde von den Autoren mit berücksichtigt). Die Ursachen für dieses Phänomen und deren massive generelle Auswirkungen auf die Präzision von prognostischen Biomarkern wird später ausführlich diskutiert.

Verbessern alternative, akademisch bereits etablierte Biomarker die Präzision der Vorhersage der Prognose bei DKD?

Zu den am besten untersuchten prognostischen Biomarkern bei DKD zählen die löslichen Formen des Tumornekrosefaktorrezeptors 1 (TNFR1) und von TNFR2 [912]. Beide sind in Prozesse wie Inflammation und Fibrose involviert und haben damit auch eine Verbindung zur Pathophysiologie. In mehreren Analysen konnten hohe und v. a. über die Zeit konstant erhöhte Spiegel Gruppen von Personen mit erhöhtem Risiko für eine Progression der DKD identifizieren. Rezent haben Chen et al. [9] bei 754 Patient:innen mit T2DM die Assoziation zwischen dem Verhalten der TNFR1-Konzentrationen im ersten Jahr der VA-NEPHRON-D-Studie (insgesamt 1448 Teilnehmer mit T2DM) und dem Risiko für einen renalen Endpunkt (absolute Abnahme der eGFR um ≥ 30 ml/min/1,73 m2 bei einer Ausgangs-eGFR ≥ 60, ein Abfall von ≥ 50 % bei einer eGFR von < 60 oder ESKD) untersucht. Bei 454 Proband:innen waren die Plasmakonzentrationen konstant niedrig und bei 143 immer erhöht. In diesen beiden extremen Gruppen (79 % der Gesamtpopulation) traten 36 bzw. 44 Endpunkte auf, entsprechend einer HR der Gruppe mit hohen Werten im Vergleich zu jener mit konstant tiefen Werten von 4,43 (95 %-Konfidenzintervall [KI]: 2,84–6,93). Im Vergleich zu Modellen mit konventionellen Markern verbesserte sich die C‑Statistik signifikant, wenn man die TNFR1-Spiegel zusätzlich mit einbezog. Auf Gruppenebene ist der Marker also erfolgreich. In der Publikation finden sich auch Informationen, die es erlauben, die Sensitivität und die Spezifität (also Maßzahlen für die Präzision der Vorhersage bei einzelnen Personen) zu berechnen.
Zu den bestuntersuchten prognostischen Biomarkern bei DKD zählen die löslichen Formen von TNFR1 und TNFR2
Tab. 1 zeigt die Charakteristika des Tests, je nachdem ob man „nur“ Extremwerte heranzieht oder die Gruppe mit dem höchsten vorhergesagten Risiko mit allen anderen Personen vergleicht (ein binäres Szenario, welches man im klinischen Alltag bevorzugt). Auf den ersten Blick zeigt sich v. a. eine Sensitivität, die zumindest verbesserungsfähig ist. Aus der mit 13 bzw. 16 % relativ geringen Ereignisrate ergibt sich aber auch, dass falsch-positive Befunde trotz der hohen Spezifität, absolut gesehen, sogar ungefähr doppelt so häufig waren wie falsch-negative (insgesamt 23 % falsche Klassifizierungen bei einer „accuracy“ von 77 %). Ob in der klinischen Routine falsch-positive oder falsch-negative Befunde mehr oder weniger gefürchtet werden müssen, hängt von der Fragestellung ab. Wenn die Prognosevorhersage mit einer Therapieänderung einhergeht und diese sicher und effektiv ist (wie z. B. SGLT2[„sodium-glucose linked transporter 2“]-Inhibitoren) würde man v. a. eine hohe Sensitivität fordern, bei Therapien mit höherem Risiko (z. B. Hyperkaliämie bei Mineralokortikoidrezeptorantagonisten) eher eine hohe Spezifität.
Tab. 1
Charakteristika von Tests zur Vorhersage des Risikos einer Progression der DKD („diabetic kidney disease“)
 
Vorhersageziel
% der Population mit Endpunkt
Sensitivität (%)
Spezifität (%)
Accuracy (%)
Dynamischer TNFR1a
Hohes versus niedriges Risiko
13
55
81
77
Dynamischer TNFR1a
Hohes Risiko versus alle anderen
16
37
84
77
Kidney IntelX Scoreb
Hohes versus niedriges Risiko
9
75
79
79
Kidney IntelX Scoreb
Hohes Risiko versus alle anderen
10
39
88
83
KDIGOb
Sehr hohes versus moderates Risiko
8
23
91
85
KDIGOb
Sehr hohes Risiko versus alle anderen
10
15
93
84
CKD273 Albuminuriec
Hohes versus niedriges Risiko
11
31
90
83
CKD273 eGFR-Abfalld
Hohes versus niedriges Risiko
10
29
91
84
TNFR1 Tumornekrosefaktorrezeptor 1, KDIGO Kidney Disease: Improving Global Outcomes, CKD273 CKD273-Score (multidimensionaler Biomarker)
a Endpunkt: absolute Abnahme der geschätzten glomerulären Filtrationsrate (eGFR) um ≥ 30 ml/min/1,73 m2 bei einer Ausgangs-eGFR ≥ 60, ein Abfall von ≥ 50 % bei einer eGFR von < 60 oder ESKD („end-stage kidney disease“); Kohorte: VA-Nephron-D-Studie
b Endpunkt: eGFR-Abfall ≥ 5 ml/min/Jahr, anhaltender eGFR-Abfall > 40 % oder ESKD; Kohorte: CANVAS-Studie
c Endpunkt: inzidente Mikroalbuminurie; Kohorte: PRIORITY-Studie
d Endpunkt: Abfall der eGFR auf < 60 ml/min/1,73 m2; Kohorte: PRIORITY-Studie
Der Verlauf einer DKD ist interindividuell variabel, und damit muss auch die Pathophysiologie heterogen sein. Es ist aber unwahrscheinlich, dass es nur einen Prozess gibt, der zu einem raschen Verlauf führt (und den man mit einem Biomarker erfassen kann), und einen anderen, der dies nicht tut. Wahrscheinlicher ist, dass auf molekularer Ebene viele Vorgänge relevant sind, die zudem interagieren und sich teilweise antagonisieren. Konsequenterweise sollten mehrere, gut gewählte Marker präzisere Aussagen zur Prognose ermöglichen. Der KidneyIntelX Risk Score kombiniert TNFR1 und TNFR2 mit KIM(„kidney injury molecule“)-1 (ein Marker für tubuläre Schädigung) und 7 klinischen Parametern (eGFR, UACR, Hämoglobin A1c [HbA1c], systolischer Blutdruck, Aspartataminotransferase, Thrombozytenzahl, Serumkalzium), um ein niedriges, intermediäres oder hohes Risiko für eine rapide Verschlechterung der Nierenfunktion (eGFR-Abfall ≥ 5 ml/min/Jahr, anhaltender eGFR-Abfall > 40 % oder ESKD) zu ermitteln [13]. Gemäß Score hatten 42 % von 1325 Teilnehmer:innen der CANVAS-Studie ein niedriges, 44 % ein intermediäres und 14 % ein hohes Risiko, die entsprechenden Ereignisraten betrugen jeweils 3,1 %, 10,9 % und 26,4 %. Das relative Risiko der Hochrisikogruppe war 8,4fach höher (95 %-KI: 5,0–14,2) als jenes der Teilnehmer mit niedrigem Risiko [13]. In der Studie wurde die Präzision der Vorhersage auch mit jener verglichen, die sich über die KDIGO-Risikostratifizierung erzielen lässt. Tab. 1 zeigt die Ergebnisse in Bezug auf Sensitivität und Spezifität. Tatsächlich gelang es, die korrekte Zuordnung zu Risikokategorien durch das Panel bei insgesamt niedriger Sensitivität etwas zu erhöhen, allerdings ohne wesentliche Vorteile im Vergleich zu den KDIGO-basierten Vorhersagen. Ein binärer Ansatz (der bei ansonsten 44 % unklarer Zuordnung nötig scheint) war noch weniger sensitiv, aber dafür etwas spezifischer.
Auf individueller Patientenebene lässt sich noch nicht die erhoffte Sensitivität oder Spezifität erreichen
Der ebenfalls gut etablierte CKD273-Score wurde vor Kurzem in einer prospektiven Studie weiter validiert. Es handelt es sich um einen multidimensionalen Biomarker, welcher aus 273 Harnpeptiden besteht und vermutlich v. a. profibrotische renale Prozesse noch vor Auftreten einer Albuminurie erkennen kann [14]. In der PRIORITY-Studie wurden 1775 Patient:innen mit einer eGFR von mehr als 45 ml/min/1,73 m2 ohne Albuminurie (< 30 mg/g) über den CKD273-Score in eine Hoch- (12 %) und eine Niedrigrisikogruppe (88 %) für eine Progression der Albuminurie (> 30 % auf > 30 mg/g) eingeteilt. Während einer medianen Beobachtungszeit von 2,51 Jahren (Interquartilsabstand [„interquartile range“, IQR]: 2,0–3,0) trat eine Mikroalbuminurie in der Hochrisikogruppe signifikant häufiger auf (HR: 3,92; 95 %-KI: 2,90–5,30), und die eGFR fiel öfter unter 60 ml/min/1,73 m2 (HR adjustiert: 3,5; 95 %-KI: 2,50–4,90; [14]). Auch hier zeigt Tab. 1, dass die Rate an falsch-positiven und v. a. falsch-negativen Befunden hoch ist.
Der Einschluss „neuer“ Biomarker verbessert also im Vergleich zu „konventionellen“ Parametern die Charakterisierung von Gruppen mit einem unterschiedlichen relativen Risiko für eine Progression einer DKD. Leider lässt sich aber auf der Ebene einzelner Patient:innen nach wie vor nicht jene Sensitivität und/oder Spezifität erreichen, die man gerne sehen würde.
Warum gab es bisher trotz aller Anstrengungen keinen signifikanten Durchbruch? Vielleicht sind die bislang untersuchten Biomarker einfach nicht optimal; wie schon erwähnt, ist die Pathophysiologie der DKD ja sehr komplex. Ein Problem kann aber selbst ein idealer Biomarker nicht lösen: Die Grundlage jeder Vorhersage ist, dass sich die Prozesse, die zu einem Ereignis führen, ab dem Zeitpunkt der Prognoseerstellung nicht mehr ändern. Und hier kommen wir auf die oben gestellte Frage zur Arbeit von Coresh et al. [8] zurück: Warum werden nicht alle Patient:innen mit einer eGFR von 23 ml/min/1,73 m2, die in den vorangehenden 2 Jahren 27 ml/min/1,73 m2 verloren haben, nach 5 Jahren dialysepflichtig, sondern „nur“ 32 %? Offensichtlich ist der Verlauf der Progression bei einzelnen Patient:innen longitudinal nicht stabil (siehe auch Abb. 1, rechts; [7]). Dies hat natürlich massive Auswirkungen auf Sensitivität und Spezifität aller Vorhersagen. Abb. 2 zeigt am Beispiel der Vorhersage des Abfalls der eGFR günstige und weniger optimale Voraussetzungen für die Entwicklung und Verwendung von prognostischen Biomarkern, die durch eine intraindividuelle longitudinale Variabilität entstehen.
Gibt es Auswege aus diesem Dilemma? Die Entwicklung immer neuerer Biomarker ist offensichtlich keiner. Naheliegend sind eine Verkürzung der Vorhersagezeit und ein wiederholtes Testen. Das allein kann aber nur ein Teil der Lösung sein und bringt neue Herausforderungen mit sich. Als kurzfristige Zielgröße bietet sich natürlich die Änderung der eGFR an. Das wäre durchaus im Sinne der KDIGO-Leitlinien, die eine jährliche Kontrolle bei CKD zur Bestimmung der Prognose und zur Adaptierung der Therapie vorschlagen [6]. Allerdings wird das Ausmaß der Änderung, welches interpretiert werden muss, bei kürzeren Beobachtungsabständen kleiner, und „spontane“ Variationen ohne pathophysiologische Ursache erschweren vielleicht die Interpretation. Diesbezüglich gibt es inzwischen zumindest Lösungsansätze [15]. Unabhängig davon müssen wir aber auch konzeptionell neue Wege gehen, wenn wir primär individuelle Prognosen erstellen wollen. In der Mathematik hat man Methoden entwickelt, wie man komplexe Systeme analysieren und deren Verhalten beschreiben kann. Die Medizin kann von diesen Disziplinen lernen, so wie es unter anderem derzeit im EU(Europäische Union)-Projekt DC-ren [16] versucht wird.

Fazit für die Praxis

  • Die Pathophysiologie der diabetischen Nierenerkrankung ist komplex mit interindividuell sehr heterogenen Verläufen, aber auch intraindividuell massiver longitudinaler Variabilität.
  • Eine individuelle Einschätzung des Progressionsrisikos ist insbesondere in Anbetracht neuer, progressionshemmender Medikamente relevant.
  • Geschätzte glomeruläre Filtrationsrate (eGFR) und Albuminurie sind derzeit die einzigen in der Praxis etablierten Biomarker. In Kombination mit neuen Biomarkern gelingt es, das relative Risiko auf der Ebene von Kohorten zunehmend besser abzuschätzen, die individuelle Präzision ist aber, v. a. wegen der intraindividuellen Variabilität, nach wie vor mangelhaft.
  • Lösungsansätze sind eine wiederholte Evaluation des Risikos innerhalb kürzerer Intervalle und der Einsatz von Methoden in der Entwicklung der Marker, die a priori auf Einzelverläufe Rücksicht nehmen und komplexe Systeme beschreiben können.

Förderung

Diese Arbeit wurde durch das Projekt DC-ren unterstützt, welches von der Europäischen Union im Rahmen des Forschungs- und Innovationsprogramms Horizont 2020 unter der Grant Agreement Nr. 848011 (European Union’s Horizon 2020 research and innovation programme under grant agreement No 848011) gefördert wird.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

S. Denicolò und G. Mayer geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
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3.
6.
Zurück zum Zitat Reprinted from KDIGO 2012 Clinical Practice Guideline for the Evaluation and Management of Chronic Kidney Disease, Chapter 1: Definition and Classification of CKD. Kidney Int Suppl. 2013;3(1):19–62, Pages No. 30, with Permission from Elsevier. Reprinted from KDIGO 2012 Clinical Practice Guideline for the Evaluation and Management of Chronic Kidney Disease, Chapter 1: Definition and Classification of CKD. Kidney Int Suppl. 2013;3(1):19–62, Pages No. 30, with Permission from Elsevier.
11.
Zurück zum Zitat Schrauben SJ, Shou H, Zhang X, Anderson AH, Bonventre JV, Chen J, Coca S, Furth SL, Greenberg JH, Gutierrez OM et al (2021) Association of multiple plasma biomarker concentrations with progression of prevalent diabetic kidney disease: findings from the chronic renal insufficiency cohort (CRIC) study. J Am Soc Nephrol 32:115–126. https://doi.org/10.1681/ASN.2020040487CrossRefPubMed Schrauben SJ, Shou H, Zhang X, Anderson AH, Bonventre JV, Chen J, Coca S, Furth SL, Greenberg JH, Gutierrez OM et al (2021) Association of multiple plasma biomarker concentrations with progression of prevalent diabetic kidney disease: findings from the chronic renal insufficiency cohort (CRIC) study. J Am Soc Nephrol 32:115–126. https://​doi.​org/​10.​1681/​ASN.​2020040487CrossRefPubMed
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Zurück zum Zitat Lam D, Nadkarni GN, Mosoyan G, Neal B, Mahaffey KW, Rosenthal N, Hansen MK, Heerspink HJL, Fleming F, Coca SG (2022) Clinical utility of kidneyintelX in early stages of diabetic kidney disease in the CANVAS trial. Am J Nephrol. https://doi.org/10.1159/000519920CrossRefPubMed Lam D, Nadkarni GN, Mosoyan G, Neal B, Mahaffey KW, Rosenthal N, Hansen MK, Heerspink HJL, Fleming F, Coca SG (2022) Clinical utility of kidneyintelX in early stages of diabetic kidney disease in the CANVAS trial. Am J Nephrol. https://​doi.​org/​10.​1159/​000519920CrossRefPubMed
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Zurück zum Zitat Tofte N, Lindhardt M, Adamova K, Sjl B, Beige J, Jwj B, Early Detection of Diabetic Kidney Disease by Urinary Proteomics and Subsequent Intervention with Spironolactone to Delay Progression (PRIORITY) (2020) A prospective observational study and embedded randomised placebo-controlled trial. Lancet Diabetes Endocrinol 8:301–312CrossRefPubMed Tofte N, Lindhardt M, Adamova K, Sjl B, Beige J, Jwj B, Early Detection of Diabetic Kidney Disease by Urinary Proteomics and Subsequent Intervention with Spironolactone to Delay Progression (PRIORITY) (2020) A prospective observational study and embedded randomised placebo-controlled trial. Lancet Diabetes Endocrinol 8:301–312CrossRefPubMed
Metadaten
Titel
Präzision der Prognose von Nierenerkrankungen bei Diabetes mellitus Typ 2
Ist das Limit erreicht?
verfasst von
Dr. Sara Denicolò
Prof. Dr. Gert Mayer
Publikationsdatum
13.03.2023
Verlag
Springer Medizin
Erschienen in
Die Nephrologie / Ausgabe 3/2023
Print ISSN: 2731-7463
Elektronische ISSN: 2731-7471
DOI
https://doi.org/10.1007/s11560-023-00645-7

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