Erschienen in:
01.10.2022 | Originalien
Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung deutschsprachiger Neurologinnen und Neurologen während der NS-Zeit: Versuch einer Bewertung
verfasst von:
Prof. Dr. med. Axel Karenberg, Michael Martin, Heiner Fangerau
Erschienen in:
Der Nervenarzt
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Sonderheft 1/2022
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Zusammenfassung
Im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) sollte 90 Jahre nach Beginn der Herrschaft des Nationalsozialismus (NS) ermittelt werden, in welchem Ausmaß Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung während des „Dritten Reichs“ auch Neurologinnen und Neurologen betroffen haben. Insgesamt konnten die Lebensläufe von 61 meist jüdischen Ärzten und Wissenschaftlern analysiert werden, von denen mehr als 70 % Mitglieder der damaligen Neurologenvereinigung waren: Die meisten emigrierten, wenige blieben trotz Verfolgung in Deutschland oder Österreich, 9 starben im Holocaust oder durch Suizid. Die rassistisch motivierte Vertreibung erfasste alle Altersgruppen, vorzugsweise die 30- bis 60-Jährigen in „mittlerer“ Stellung. In engem Zusammenhang mit der NS-Gesetzgebung lassen sich drei Auswanderungswellen unterscheiden (1933–34, 1935–37, 1938–39), eindeutig bevorzugtes Zielland stellten die USA (64,7 %) dar. Jüngeres Lebensalter, die Kenntnis einer Weltsprache, belastbare familiäre und wissenschaftliche Beziehungen sowie international wahrnehmbare Publikationsleistungen konnten den Karriereneustart im Exilland erleichtern. Nicht selten wandten sich vor der Emigration neurologisch Tätige danach den Grundlagenwissenschaften oder der Psychiatrie zu. Die pauschale „Brain-drain“/„Brain-gain“-Hypothese ist durch Analysen auf der biografischen Mikroebene zu erweitern, die einen oft schwierigen Wiedereinstieg in den Beruf und manchmal ein Misslingen der Akkulturation offenbaren. Kein einziger Neurologe kehrte nach Deutschland zurück, Entschädigungsleistungen fielen soweit beurteilbar eher schmal aus. Die kritische Reflexion der rassistisch begründeten Verfolgung zwischen 1933 und 1945 kann heute für die DGN und ihre Mitglieder Anlass sein, über Kollegialität als Wert zu reflektieren sowie strukturell bedingte Diskriminierungen und Ungerechtigkeiten verstärkt wahrzunehmen und ihnen frühzeitig entgegenzuwirken.