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Erschienen in: Die Psychotherapie 4/2021

Open Access 28.06.2021 | Psychotherapie | Originalien

Vergangenheit und Zukunft der Qualifizierung von Psychotherapeut*innen

Befragung von psychologischen Psychotherapeut*innen in Ausbildung und Ärzt*innen in Weiterbildung bezüglich ihrer bisherigen Qualifizierungswege

verfasst von: Gaby Bleichhardt, Ulrich Voderholzer, Winfried Rief

Erschienen in: Die Psychotherapie | Ausgabe 4/2021

Zusammenfassung

Hintergrund

Durch das Gesetz über den Beruf der Psychotherapeutin und des Psychotherapeuten des Jahres 2019 wird die Weiterbildung von angehenden psychologischen Psychotherapeut*innen strukturell stärker an die der entsprechenden Facharztweiterbildungen angeglichen.

Ziel der Studie

Angehende ärztliche und psychologische Psychotherapeut*innen wurden online zu ihrem Kompetenzerleben und der Einschätzung der Qualität verschiedener Strukturmerkmale ihrer Weiterbildung befragt.

Material und Methoden

Es konnten 225 Psycholog*innen in Ausbildung (PiA) sowie 34 Ärzt*innen in Weiterbildung (ÄiW) in die Studie eingeschlossen werden.

Ergebnisse

Das Alter bei geplantem Abschluss der Weiter- bzw. Ausbildung beträgt 40 Jahre für die ÄiW sowie 33 Jahre für die PiA. Das Ausmaß der durch das Studium erhaltenen psychotherapeutischen Vorkenntnisse fiel für die PiA deutlich höher aus, insbesondere bzgl. der Kenntnisse von Methoden und Ergebnissen der Therapieforschung war der Gruppenunterschied beträchtlich.. Zum Befragungszeitpunkt erlebten sich beide Gruppen mit 75 %iger (ÄiW) bzw. 73 %iger (PiA) maximal vorstellbarer Kompetenz als vergleichbar fähig. In der Rückschau beschrieben ÄiW ein geringeres Kompetenzerleben für die ersten beiden Weiterbildungsjahre. Die Qualität der Weiterbildung wird von den PiA in vielen Merkmalen als höher eingeschätzt als von den ÄiW.

Schlussfolgerung

Für die Ausgestaltung der Weiterbildung von Psycholog*innen ist wünschenswert, dass die hohe Strukturqualität erhalten bleibt. Das durch die neue Weiterbildung noch weiter ansteigende Lebensalter zum Abschluss stellt Herausforderungen an die zukünftigen Teilnehmer*innen bezüglich Themen wie Familienplanung und wissenschaftlicher Weiterqualifizierung.
Psychotherapie dürfen in deutschsprachigen Ländern sowohl Ärzt*innen als auch Psycholog*innen praktizieren. Aber selbst wenn Ärzt*innen und Psycholog*innen am Ende eine vergleichbare Dienstleistung erbringen, unterscheiden sich ihre langen Aus- und Weiterbildungswege in Deutschland erheblich. Inwieweit sich die Verschiedenheit der bisherigen Bildungswege auch in Art und Qualität des Lernens abbildet, wurde in der vorliegenden Studie untersucht.

Einleitung

Gegenwärtig ist der Untersuchungsgegenstand von hoher Brisanz. Die Ausbildung von Psycholog*innen zu psychologischen Psychotherapeut*innen wird spätestens ab Herbst 2023 in eine Psychotherapieausbildung im Rahmen eines Master-Studiums sowie eine nachfolgende Weiterbildung im Rahmen einer sozial abgesicherten psychotherapeutischen Berufstätigkeit umgewandelt. Damit wird die gegenwärtige Psychotherapieausbildung in strukturellen Merkmalen erheblich an die ärztliche Weiterbildung angeglichen. Unter dem Dach der Bundespsychotherapeutenkammer saß in den letzten Jahren ein großes Team von Expert*innen an der Arbeit, um die neue Weiterbildung zu gestalten. Für diese in vielen Fällen vermutlich ab Herbst 2023 startende Weiterbildung ist es wünschenswert, „Gutes“ aus der bestehenden Psychotherapieausbildung zu bewahren und Verbesserungspotenzial, auch angeregt durch die ärztliche Weiterbildung, zu identifizieren.
Zum Status quo: Die gegenwärtige Ausbildung zu*r psychologischen Psychotherapeut*in wird in der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für Psychologische Psychotherapeuten (Bundesjustizministerium/juris GmbH 1989) genau festgelegt. Voraussetzung für diese Ausbildung ist ein Diplom in Psychologie oder ein Master of Science in Psychologie, der eine Prüfung in klinischer Psychologie einschließt. Beides setzt eine Gesamtstudiendauer von mindestens 5 Jahren voraus. Die nachfolgende Ausbildung erstreckt sich über mindestens 4200 h und über mindestens 3 Jahre in Vollzeit oder mindestens 5 Jahre in Teilzeit. Die Ausbildung teilt sich in die folgenden Bausteine auf:
1.
praktische Tätigkeit: 1200 Stunden an einer im Sinne des ärztlichen Weiterbildungsrechts zugelassenen psychiatrischen klinischen Einrichtung sowie 600 Stunden an einer vom Sozialversicherungsträger anerkannten Einrichtung der psychotherapeutischen oder -somatischen Versorgung,
 
2.
theoretische Ausbildung: 600 Stunden Lehre in Form von Vorlesungen, Seminaren und praktischen Übungen,
 
3.
600 Behandlungsstunden mit Patient*innen mit Störungen vom Krankheitswert unter 150 Stunden Supervision, dabei mindestens 6 dokumentierte Behandlungsfälle,
 
4.
120 Stunden Selbsterfahrung.
 
Zuständig für die gesamte Ausbildung sind staatlich zugelassene Ausbildungsstätten. Die Psychotherapeut*innen in Ausbildung (PiA) absolvieren im Regelfall ihre gesamte Ausbildung an einem Ausbildungsinstitut. Gemäß dem Psychotherapeutengesetz des Jahres 2019 (Bundesjustizministerium 2019) müssen diese Ausbildungen spätestens zum 01.09.2032 abgeschlossen werden.
Dem steht die ärztliche Weiterbildung in Deutschland gegenüber, die über die Landesärztekammern geregelt wird. Voraussetzung ist ein abgeschlossenes Medizinstudium, für das eine Gesamtstudiendauer von mindestens 6 Jahren festgelegt ist, und das (u. a.) mit der Erteilung der Approbation (uneingeschränkt für alle Gesundheitsbereiche) endet. Umfassende Abrechnungsgenehmigungen für Psychotherapie können nachfolgend als Fachärzt*in für „Psychiatrie und Psychotherapie“ oder für „psychosomatische Medizin und Psychotherapie“ erlangt werden. Um einen Rahmen zu geben, werden im Folgenden die Grundzüge aus der Musterweiterbildungsordnung (MWBO) 2018 der Bundesärztekammer (BÄK 2018) für beide Berufe vorgestellt. Für beide Weiterbildungen gilt eine Weiterbildungszeit von 60 Monaten an Weiterbildungsstätten.
Fachärzt*in für Psychiatrie und Psychotherapie:
1.
12 Monate in der Neurologie und 24 Monate in der stationären Patientenversorgung,
 
2.
3 Gutachten,
 
3.
60 Erstuntersuchungen,
 
4.
40 Fälle aus psychiatrischen und psychotherapeutischen Konsiliar‑/Liaisondiensten,
 
5.
300 Fälle aus psychiatrischer und psychotherapeutischer Therapie,
 
6.
5 Therapien von Traumafolgestörungen,
 
7.
100 Stunden Theorie- und Fallseminare,
 
8.
10 dokumentierte Einzelpsychotherapiefälle,
 
9.
120 Stunden Gruppenpsychotherapie,
 
10.
10 Anamneseerhebungen und 3 dokumentierte Fälle aus der Suchtbehandlung,
 
11.
150 Stunden Selbsterfahrung,
 
12.
35 Doppelstunden Balint-Gruppen oder interaktionsbezogene Fallarbeit,
 
13.
50 Testungen und Befunde bei neurologischen Störungen.
 
Fachärzt*in für psychosomatische Medizin:
1.
12 Monate in anderen Gebieten der somatischen Patient*innenversorgung,
 
2.
3 wissenschaftlich begründete Gutachten,
 
3.
240 Stunden Theorieseminare,
 
4.
40 Untersuchungen aus Konsiliar‑/Liaisondiensten,
 
5.
60 dokumentierte psychosomatische und psychotherapeutische Untersuchungen,
 
6.
5 Psychotraumatherapien,
 
7.
100 Behandlungen, aufgeteilt in mindestens 8 Langzeit- und 50 Kurzzeitpsychotherapien,
 
8.
150 Stunden (200 in psychodynamischen Verfahren) Selbsterfahrung,
 
9.
35 Doppelstunden Balint-Gruppen oder interaktionsbezogene Fallarbeit.
 
Die Mediziner*innen erbringen diese Leistungen an verschiedenen Weiterbildungsstätten. Vor allem durch die Verpflichtung zu neurologischer bzw. somatomedizinischer Gebietstätigkeit ist es nicht möglich, die gesamte Weiterbildungszeit an nur einer Weiterbildungsstätte zu absolvieren.
Im Herbst 2019 wurde vom Bundestag das Gesetz über den Beruf der Psychotherapeutin und des Psychotherapeuten verabschiedet (Bundesjustizministerium 2019), das zum 01.09.2020 in Kraft trat. Damit werden seit dem Wintersemester 2020/2021 polyvalente Bachelor-Studiengänge in Psychologie angeboten, die die Belegung der ab spätestens dem Wintersemester 2023/2024 flächendeckend zur Verfügung stehenden Psychotherapie-Master-Studiengänge ermöglichen. Eine Reihe von Universitäten wird die Master-Studiengänge bereits ab 2021 anbieten. Durch die Landespsychotherapeutenkammern sollten somit möglichst ab Herbst 2023 Weiterbildungsordnungen vorliegen. Voraussetzung ist die Grundlage einer bundeseinheitlichen MWBO. Die Bundespsychotherapeutenkammer hat deshalb 2019 die AG Reform der MWBO installiert und eine Vielzahl unterschiedlicher Expert*innen berufen. Zum Zeitpunkt der Manuskripteinreichung bekannt sind die Ziele, die Weiterbildung auf 5 Jahre auszurichten, 3 Weiterbildungsgebiete (Erwachsene, Kinder/Jugendliche, klinische Neuropsychologie) zu trennen sowie die Schwerpunkte zeitlich etwa gleich auf stationäre und ambulante Tätigkeit zu verteilen. Der erste Teil der MWBO wurde auf dem 38. Deutschen Psychotherapeutentag (DPT) im April 2021 verabschiedet, die vollständige MWBO soll auf dem 39. DPT im November 2021 verabschiedet werden. Unstrittig ist, dass die Weiterbildung nur – wie bei den Ärzt*innen auch – im Rahmen einer angemessen vergüteten Tätigkeit stattfinden kann. Der aktuelle Notstand von vielen PiA, insbesondere während ihrer praktischen Tätigkeiten, hat damit in naher Zukunft ein Ende.
Auch wenn sich dieser Beitrag auf ein berufspolitisch relevantes Thema bezieht, soll jedoch bereits an dieser Stelle der ideengenerierende Charakter der Befragung betont werden. Die Ergebnisse sollen zur Diskussion anregen. Ziel war es, das Kompetenzerleben von Ärzt*innen und Psycholog*innen, die Psychotherapie erlernen, zu vergleichen sowie deren Einschätzung zu Qualitätsmerkmalen ihrer Weiter- bzw. Ausbildung zu erheben. Es ist bereits Teil des Problems, dass die Fachärzt*innenweiterbildungen mit Psychotherapiebezug unter erheblichem Nachwuchsmangel leiden. So erwies sich dann auch die Rekrutierung angehender ärztlicher Psychotherapeut*innen als enorm schwierig. Die Erhebung wurde deshalb erheblich länger durchgeführt als geplant, und die Stichprobe blieb dennoch deutlich unter der eingangs erwünschten Zielgröße. Entsprechende Interpretationsgrenzen der vorliegenden Ergebnisse sind die Folge (s. Abschn. „Diskussion“).1

Methoden

Design

Es handelt sich um eine einmalige Online-Befragung, die mithilfe der Software SociSurvey über einen Zeitraum von 15 Monaten (Juli 2017 bis Oktober 2018) über Links zugänglich war. Insgesamt wurden 4 Versionen ausgestaltet: je 2 für die Berufsgruppe Ärzt*innen bzw. Psycholog*innen sowie je 2 für Mitarbeiter*innen der Schön-Kliniken bzw. andere Ab.-/Wb.-Teilnehmer*innen. Grund für die letztere Aufspaltung war die zusätzliche Nutzung der Befragungsdaten zur Qualitätssicherung der Schön-Kliniken. Die Befragung wurde für die Berufsgruppen getrennt, um den unterschiedlichen Strukturen von ärztlicher Weiter- und psychologisch-psychotherapeutischer Ausbildung gerecht zu werden. Alle über die Stichprobenbeschreibung hinausgehenden aufgeführten Variablen waren identisch.

Rekrutierungswege

Die Aufrufe zur Studienteilnahme erfolgten über den Verbund universitärer Ausbildungsgänge für Psychotherapie unith e. V., Verteiler der Schön-Kliniken, Verteiler der Philipps-Universität Marburg. Weiterhin wurden den Autor*innen persönlich bekannte Chefärzte und leitende Psychotherapeut*innen 13 großer Kliniken sowie einzelne Ärzt*innen in psychotherapeutischer Weiterbildung angeschrieben. Auch Interessengruppen innerhalb des sozialen Netzwerks Facebook wurden genutzt. Stets wurde die Bitte um Weiterleitung an andere potenzielle Teilnehmer*innen angefügt. Ursprünglich war für beide Stichproben eine Größe von 100 Personen geplant.

Instrument

Die Items des Fragebogens wurden eigens für diese Befragung konstruiert. In der Formulierung wurde darauf geachtet, ärztlicher Weiterbildung und psychologisch-psychotherapeutischer Ausbildung sowie verhaltenstherapeutischen und psychodynamischen Verfahren gleichermaßen gerecht zu werden. Die Antwortformate waren relativ heterogen auf die jeweilige Frage angepasst, deshalb findet sich in den nachfolgenden Ergebnistabellen eine Präzisierung .
Bezüglich des Präzisionsgrades der personenbezogenen Daten wurde darauf geachtet, dass kein Rückschluss auf Individuen möglich ist. Angaben zum Träger der Klinik, an der die Aus- bzw. Weiterbildung abgeleistet wird (Tab. 1), waren freiwillig.
Tab. 1
Beschreibung der Stichprobe
 
ÄiW
n = 34
PiA
n = 225
Gruppenunterschiede
Weibl. Geschlecht (Anteil, %)
73,5
83,1
χ2(1, 259) = 1,826, n. s.
Alter (Jahre; M ± SD)
38,8 ± 8,8
31,3 ± 5,1
t(36,4) = 4,83, p < 0,001
Bisherige Ab./Wb.-Zeit (Jahre; M ± SD)
4,6 ± 2,0
3,5 ± 1,4
t(257) = 4,08, p < 0,001
Geschätzte Gesamtzeit der Ab./Wb (Jahre; M ± SD)
6,1 ± 1,8
4,9 ± 1,5
t(257) = 4,30, p < 0,001
Bereits beendete Ab./Wb (Anteil, %)
14,7
9,8
χ2(1, 259) = 0,768, n. s.
Therapieverfahren: Anteil VTa (Anteil, %)
73,5
93,3
χ2(1, 259) = 13,778, p < 0,001
Klinikträgerb (Anteil, %)
Schön-Kliniken
23,5
14,7
LWV/Vitos-Kliniken
11,7
3,6
Ausbildungsverbund (Anteil, %)
Unith
62,7
DGVT
21,3
Facharzt
Psychiatrie und Psychotherapie
47,1
Psychosomatische Medizin und Psychotherapie
41,2
Ab. Ausbildung, ÄiW Ärzt*innen in Weiterbildung, DGVT Deutsche Gesellschaft für Verhaltenstherapie, LWV Landeswohlfahrtsverband Hessen, M Mittelwert, PiA Psycholog*innen in Ausbildung, SD Standardabweichung, VT Verhaltenstherapie, Wb. Weiterbildung
aEine Person (3 %; ÄIW) befand sich in der Wb. Psychoanalyse. Acht ÄiW (23,5 %) und 15 PiA (6,7 %) absolvierten eine Wb. in tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie
bSechzehn ÄiW (47 %) und 168 PiA (74,7 %) wählten beim Item „Klinikträger“ die Antworten „anderer“ oder beantworteten die Frage nicht. Die Träger Asklepios, Diakonie, Fresenius/Helios, Landschaftsverband Rheinland (LVR)/Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) und Rhön trafen vereinzelt zu

Ein- und Ausschlusskriterien

Bezüglich der Ärzt*innen wurden Personen in den Facharztweiterbildungen „Psychiatrie und Psychotherapie“ sowie „psychosomatische Medizin und Psychotherapie“ angesprochen. Bezüglich der Psycholog*innen wurden ebendiese in der staatlichen Ausbildung „psychologische Psychotherapie“ adressiert. Angehende PsychotherapeutInnen für Kinder und Jugendliche waren nicht in die Studie eingeschlossen.
Weiterhin sollte die Ab./Wb. vor mindestens 21 Monaten begonnen worden sein, bzw. sollte der Abschluss nicht länger als 15 Monate zurückliegen, sodass die Eindrücke bezüglich der Ab./Wb. einerseits begründet, andererseits nicht zu weit zurückliegend sind.

Plausibilitätsanalysen und Stichprobenumfänge

Im ersten Schritt wurden die 4 Datensätze, die sich aus den unterschiedlichen Fragebogenversionen ergaben, zu einem Datensatz zusammengeführt. Dabei ergab sich zunächst eine Gesamtstichprobengröße von 276. Wenn die Daten explizite Hinweise darauf enthielten, dass die Teilnahme zu Testzwecken erfolgte, wurden die Personen ausgeschlossen (9 Fälle). Anschließend wurde für alle verbleibenden Fälle (n = 267, darunter 230 PiA und 37 ÄiW) überprüft, ob deren Weiterbildungsstart und ggf. deren Weiterbildungsende im zulässigen Zeitraum lag. Deshalb mussten 8 weitere Fälle eliminiert werden. Dadurch ergab sich letztlich eine Gesamtstichprobengröße von 259. Daraufhin wurden die einzelnen Daten auf Plausibilität überprüft. Ein unrealistisch hoher Wert (30.300 bisher behandelte Patient*innen) wurde durch ein „missing“ ersetzt.

Statistik

Die Datenanalysen erfolgten mit IBM SPSS Statistics 25. Die jeweils verwendeten Methoden werden direkt bei den Ergebnissen spezifiziert.

Ergebnisse

Stichproben

Die vollständige Stichprobenbeschreibung findet sich in Tab. 1. Insgesamt konnten 259 Befragungen verwertet werden, die sich zu 87 % auf die Gruppe der PiA und zu 13 % (34 Personen) auf die Gruppe der ÄiW aufteilten. Die beiden Professionsgruppen unterschieden sich signifikant hinsichtlich verschiedener Kriterien. Befragte PiA lernten häufiger das Verfahren Verhaltenstherapie (93 % im Vergleich zu 74 % der ÄiW). Mit durchschnittlich 38,8 Jahren zum Befragungszeitpunkt war das Lebensalter der ÄiW deutlich höher als das der PiA (31,3 Jahre). Wird dies mit den Angaben zur geschätzten Gesamtzeit der Wb kombiniert, ergibt sich ein Abschlussalter von durchschnittlich 40,3 Jahren für ÄiW sowie von durchschnittlich 32,7 Jahren für PiA. Die geplante Dauer der Ab./Wb. beträgt für beide Berufsgruppen rund ein Jahr länger, als diese konzipiert sind (6,1 Jahre für ÄiW, 4,9 Jahre für PiA). Die befragten ÄiW teilen sich etwa gleich auf den angestrebten Facharzttitel Psychiatrie (47,1 %) und Psychosomatik (41,2 %) auf.

Kenntniserwerb im Studium

Eine Übersicht zum Ausmaß der Einschätzung der durch das jeweilige Studium erworbenen Vorkenntnisse gibt Tab. 2. Psycholog*innen in Ausbildung wählten hier deutlich höhere Einschätzungen als ÄiW. Mit einem Gruppenunterschied von rund 2 Standardabweichungen unterscheidet sich die Einschätzung der Vorkenntnisse zu „Methoden und Ergebnissen der Therapieforschung“ erheblich zwischen den Berufsgruppen.
Tab. 2
Kenntniserwerb durch das jeweilige Studium der Medizin bzw. Psychologie: „Durch mein Studium habe ich umfassende Kenntnisse über … erworben.“
Fragebogen-Item
ÄiW
n = 34
d
PiA
n = 225
t-Test für unabhängige Stichproben
M
± SD
M
± SD
t
df
p
Psychische Krankheiten
3,35
± 1,54
< 1,17
5,04
± 1,35
6,64
257
< 0,001***
Psychotherapeutische Basisfertigkeiten
2,21
± 1,68
< 0,76
3,45
± 1,59
4,24
257
< 0,001***
Klassifikation psychischer Störungen
3,00
± 1,63
< 1,29
5,03
± 1,51
7,24
257
< 0,001***
Methoden und Ergebnisse der Therapieforschung
2,09
± 1,68
< 1,92
5,19
± 1,54
10,81
257
< 0,001***
Antwortskala: 1 (trifft überhaupt nicht zu) bis 7 (trifft voll und ganz zu)
ÄiW ÄrztInnen in Weiterbildung, PiA psychologische PsychotherapeutInnen in Ausbildung, d Effektstärke Cohens d mit gepoolter Standardabweichung
***p < 0,001

Theorieseminare

Die Merkmale und Bewertungen zu allen erhobenen Aus‑/Weiterbildungselementen stellt Tab. 3 zusammen. Alle Qualitätsmerkmale für Theorieseminare wurden von PiA signifikant positiver eingeschätzt. Diese seien besser passend für die Psychotherapiepraxis, hätten höhere Praxisanteile für die Therapeut*innenrolle und würden häufiger schriftlich evaluiert.
Tab. 3
Qualitätsmerkmale der Aus‑/Weiterbildung
  
ÄiW
n = 34
M (± SD)
d
PiA
n = 225
M (± SD)
Gruppenunterschiede
Theorieseminare
Passen sehr gut zu meiner psychotherapeutischen Praxis
[1–7]
4,44 (1,52)
< 0,50
5,09 (1,27)
t(40,2) = 2,38, p < 0,05*a
Anteil von Seminaren mit praktischen Übungen zur Therapeutenrolle
%
39,7 (27,4)
< 0,53
53,9 (26,8)
t(257) = 2,86, p < 0,01**
Werden schriftlich evaluiert
Anteil ja
47,1 %2
<
94,7 %
χ2(2) = 66,5, p < 0,001***
Psychotherapie unter Supervision
Hospitation in Therapiesitzungen (in Studium und Wb.)
Anzahl
19,0 (44,2)
23,7 (80,3)
t(254) = 0,334, n. s.
Therapievideos anderer gesehen
Anzahl
7,38 (34,46)
7,96 (11,52)
t(257) = 0,19, n. s.
Psychotherapeutisch behandelte PatientInnen (mind. 5 Sitzungen)
Anzahl
178,2 (341,0)
> 0,88
55,9 (68,98)
t(33,4) = 2,09, p < 0,05*a
Supervision/10 Therapiesitzungen
Minuten
69,3 (88,8)
79,4 (55,5)
t(257) = 0,91, n. s.
Bisherige SupervisorInnen
Anzahl
3,44 (1,89)
4,00 (1,76)
t(257) = 1,71, n. s.
TherapeutIn in Rollenspielen
Anzahl
12,2 (34,2)
13,4 (13,4)
t(255) = 0,37, n. s.
Therapievideos wurden von SupervisorInnen /Vorgesetzen angesehen
Anzahl
7,38 (34,46)
7,96 (11,52)
t(257) = 0,19, n. s.
Gesamtqualität meiner Supervision
[1–6]
3,91 (1,33)
< 0,67
4,53 (0,85)
t(37,2) = 2,64, p < 0,05*
Infrastruktur
Umfassende Auswahl hilfreicher Therapiematerialien zur Verfügung
[1–7]
4,41 (1,94)
< 0,76
5,49 (1,32)
t(37,8) = 3,14, p < 0,01**
Schnell kompetente Hilfe bei ernsthaften PatientInnensorgen
[1–7]
5,74 (1,44)
6,12 (1,03)
t(38,2) = 1,5, n.s.a
Sehr gute Infrastruktur für Psychotherapien
[1–7]
4,94 (1,81)
5,30 (1,64)
t(257) = 1,18, n. s.
Schnell kompetente AnsprechpartnerInnen bei organisatorischen Problemen der Ab./Wb
[1–7]
4,74 (1,80)
< 0,43
5,44 (1,62)
t(257) = 2,31, p < 0,05*
Gesamt-Qualität der Ab./Wb
[1–6]
3,71 (1,17)
< 0,67
4,33 (0,89)
t(39) = 3,00, p < 0,01**a
Es gaben 29 % der Ärzt*innen in Weiterbildung (ÄiW) „weiß nicht“ und 24 % „nein“ an. Von den Psycholog*innen in Ausbildung (PiA) gaben 3 % „weiß nicht“ und 2 % „nein“ an
Ab. Ausbildung, Wb. Weiterbildung, d Effektstärke Cohens d mit gepoolter Standardabweichung. [1–7] 7-stufige Likert-Skala: 1: überhaupt nicht bis 7: voll und ganz, [1–6] 6-stufige Likert-Skala: 1: ungenügend, 2: passabel, 3: ganz gut, 4: gut, 5: sehr gut, 6: ausgezeichnet
p < 0,05*, p < 0,01**, p < 0,001***
aAufgrund von Heteroskedastizität nach Welch korrigierte Ergebnisse des t-Tests

Psychotherapie unter Supervision

Zwischen den meisten strukturellen Merkmalen der im Rahmen der Ab.-/Wb. unter Supervision durchzuführenden Psychotherapien bestanden keine signifikanten Unterschiede (Tab. 3). Gruppenübergreifend wurde angegeben, bei durchschnittlich 23 Therapiesitzungen (Median: 7,5) hospitiert zu haben, 11 Therapievideos (Median: 5) anderer Personen gesehen zu haben, 4 Supervisor*innen (Median: 4) gehabt zu haben und 13-mal (Median: 10) in Rollenspielen die Therapeut*innenrolle übernommen zu haben. Supervisor*innen bzw. Vorgesetzte hätten 8‑mal (Median: 3) eigene Therapievideos angesehen. Erhebliche Unterschiede ergaben sich allerdings in der Anzahl bisher behandelter Patient*innen: Die ÄiW gaben hier durchschnittlich 178 Personen an, die PiA (mit 56 Personen) nur etwa ein Drittel so viele. Trotz vergleichbarer Strukturmerkmale beurteilten PiA die Qualität ihrer Supervision signifikant höher.

Verbreitung aktiver Lernformen

Die großen Unterschiede von arithmetischem Mittel und Median sowie die hohen Standardabweichungen (Tab. 3) veranlassten dazu, die Verbreitung der aktiven Lernformen genauer zu untersuchen. Tatsächlich gab ein substanzieller Anteil der Befragten an, die in Tab. 3 aufgeführten aktiven Lehrformen noch nie erlebt zu haben. So hatte mehr als ein Viertel der Stichprobe (27,3 %) nach Angabe noch nie in einer Therapiesitzung hospitiert (kein Gruppenunterschied). Es teilten 23,5 % der ÄiW und 8,5 % der PiA mit, noch nie Therapeut*in einem Rollenspiel gewesen zu sein; der Gruppenunterschied ist signifikant (χ2(1) = 7,07, p < 0,01). Jede*r fünfte angehende Psychotherapeut*in beschrieb, noch nie ein Therapievideo von anderen gesehen zu haben (20,4 %; kein Gruppenunterschied). Erstaunlicherweise äußerten drei Viertel der ÄiW (73,5 %) sowie ein Drittel der PiA (29,8 %), dass noch nie ein Therapievideo von ihnen durch Supervisor*innen oder Vorgesetzte angeschaut wurde (χ2(1) = 24,69, p < 0,001).

Infrastruktur der Aus‑/Weiterbildungen

Die Fragen zur Organisation der bzw. Unterstützung bei der Ab./Wb. wurden von den PiA durchgehend positiver beurteilt (Tab. 3). Diese stimmten stärker zu, hilfreiche Therapiematerialien zur Verfügung gestellt zu bekommen und schnell kompetente Ansprechpartner*innen bei organisatorischen Problemen zu finden. Die Gesamtqualität ihrer Ab./Wb. beschrieben PiA mit durchschnittlich 4,3 Punkten höher als ÄiW (3,7 Punkte), allerdings lagen beide Mittelwerte eher im mittleren Bereich der von 1 bis 6 gestuften Skala.

Kompetenzerleben

Die Befragten waren aufgefordert, retrospektiv für jedes Ab./Wb.-Jahr ihr Kompetenzerleben auf einer Prozentskala einzuschätzen. In Tab. 4 wurden die Werte für die ersten beiden Jahre sowie das aktuelle Erleben zusammengestellt. (Durchschnittlich befanden sich die Befragten im 4. bis 5. Ab./Wb.-Jahr.) In der Rückschau beschrieben sich die ÄiW als eingangs signifikant weniger kompetent. Das aktuelle Kompetenzerleben der Gesamtgruppe (zu dem Zeitpunkt durchschnittlich seit 3,7 Jahren in Wb.) war mit 73 % für „völlig kompetent“ relativ hoch; Gruppenunterschiede gab es nicht.
Tab. 4
Kompetenzerleben als prozentuale Einschätzung
Kompetenzerleben
ÄiW
n = 34
M (± SD)
d
PiA
n = 225
M (± SD)
Gruppenunterschiede
1. Ab./Wb.-Jahr (Anteil, %)
30,2 (16,9)
< 0,39
36,7 (17,0)
t(257) = 2,07, p < 0,05*
2. Ab‑/Wb.-Jahr (Anteil, %)
46,2 (19,3)
< 0,46
53,9 (16,5)
t(257) = 2,47, p < 0,05*
Aktuell (Anteil, %)
74,8 (19,5)
73,2 (14,8)
t (38,9) = 0,47, n. s.
Es konnte eine Zahl von 0 bis 100 gewählt werden, wobei 0 %: „völlig inkompetent“ und 100 % „völlig kompetent“ entsprach. Mit „Kompetenz“ ist das subjektive Erleben gemeint. Die Einschätzung der ersten beiden Ab./Wb.-Jahre erfolgte retrospektiv
Ab. Ausbildung, Wb. Weiterbildung, d Effektstärke Cohens d mit gepoolter Standardabweichung
Um Determinanten des aktuellen Kompetenzerlebens zu bestimmen, wurden sämtliche in Tab. 3 aufgeführten Qualitätsmerkmale der Ab./Wb. als Prädiktoren in eine multiple Regressionsanalyse (Methode: Vorwärtsselektion) eingeschlossen; als abhängige Variable diente das in Tab. 4 aufgeführte „aktuelle Kompetenzerleben“. Es verblieben 4 Prädiktoren, mit denen insgesamt eine Varianzaufklärung von 26 % erreicht wurde. In absteigender Reihenfolge trugen die Variablen „Bisherige Wb.-Dauer“, „Anzahl bisheriger Supervisionssitzungen“, „Wissenserwerb über psychische Krankheiten im Studium“ und „globale Qualität der Wb.“ zu einem höheren subjektiven Kompetenzerleben bei (Tab. 5).
Tab. 5
Multiple Regression – „Vorhersage“ des aktuellen Kompetenzerlebens anhand der Komponenten der Aus‑/Weiterbildungsqualität
Variable
Aktuelles Kompetenzerleben
B
β
Wissen über psychische Krankheiten
1,76
0.17**
Bisherige Dauer der Aus‑/Weiterbildung
0,24
0,29**
Anzahl bisheriger Sitzungen
0,05
0,23**
Globale Qualitätsbewertung der Aus‑/Weiterbildung
2,25
0,14*
R2
0,262
F
23,07**
(df)
(4, 244)

Diskussion

Die vorliegende Studie ist die einzige den Autor*innen bekannte, in der gezielt angehende ärztliche und psychologische Psychotherapeut*innen bezüglich ihres Kompetenzerlebens sowie bezüglich der Strukturmerkmale ihrer Aus‑/Weiterbildung verglichen wurden. Vor der Einordnung der wesentlichen Ergebnisse sollen die methodischen Grenzen der Befragung aufgeführt werden:
Es handelt sich um eine Punktbefragung von Aus‑/Weiterbildungsteilnehmer*innen. Einige Variablen (z. B. Kompetenzerleben in den ersten Jahren) werden nur retrospektiv erfasst, andere (z. B. die Zahl bisher durchgeführter Behandlungen) konnten vermutlich nur geschätzt werden. Aufgrund dessen sind Verzerrungen gut möglich, über deren systematische Richtung aber bestenfalls spekuliert werden kann.
Die Repräsentativität der PiA-Stichprobe lässt sich relativ gut beurteilen. Gemäß dem Bericht des Instituts für Medizinische und Pharmazeutische Prüfungsfragen (IMPP) waren die Absolvent*innen der Staatsprüfung vom Frühjahr 2020 zu 84 % weiblich (hier: 83 %) und erhielten zu 80 % die Fachkunde Verhaltenstherapie (Institut für medizinische und pharmazeutische Prüfungsfragen [IMPP] 2020; hier: 93 %). Häufigster Ausbildungsbeginn dieser Absolvent*innengruppe war im Jahr 2015, liegt also etwa 5 Jahre zurück (hier: durchschnittlich 4,9 Jahre veranschlagt). Somit ist die Stichprobe der PiA bezüglich Geschlecht und Ausbildungsdauer als repräsentativ einzuschätzen. Das Verfahren Verhaltenstherapie ist in dieser Befragung leicht überrepräsentiert. Zudem nahmen mit 63 % mehr PiA aus universitären Ausbildungsinstituten (unith e. V.) teil, als in der Grundpopulation vorhanden.
Für die ärztliche Stichprobe liegen weniger Vergleichsdaten vor. Die im Vergleich zu den PiA geringeren Anteile von Frauen (74 %) sowie des Verfahrens Verhaltenstherapie (74 %) sind jedoch plausibel. Gemäß Statistik der BÄK betrug 2019 der Frauenanteil der Fachärzt*innen für Psychiatrie und Psychotherapie 52 %. Da mit n = 34 nur etwa ein Drittel der angezielten Stichprobengröße rekrutiert wurde, ist die Allgemeingültigkeit der Ergebnisse für ÄiW in Zweifel zu ziehen.
Da sich die Untersucher*innen erheblich um die Rekrutierung dieser Stichprobe bemühten (s. Abschn. „Methoden“), kann das größte Manko der Studie gleichzeitig als wesentliches gesellschaftliches Grundproblem eingeordnet werden: Deutschland hat zu wenig Ärzt*innen (BÄK 2019b); dies gilt nicht zuletzt für die „P-Fächer“ (gemeint sind hier v. a. die Facharztgebiete Psychiatrie und Psychotherapie sowie psychosomatische Medizin und Psychotherapie). Gemäß Statistik der BÄK sind bundesweit 1,9 % der Psychiater*innen (220 Personen) unter 35 Jahre alt. Unter den Fachärzt*innen für Psychosomatik sind nur 0,3 % so jung (12 Personen; BÄK 2019a). Ob dies an einer mangelnden Attraktivität der Facharztweiterbildungen liegt, lässt sich durch die vorliegende Befragung nicht belegen. Jedoch ergeben sich evtl. Hinweise:
1. Mit den angegebenen 6,1 Jahren (SD ±1,8 Jahre) für die Wb. und einem geschätzten Lebensalter von 40 Jahren zum Abschluss der Weiterbildung könnten sich die ÄiW möglicherweise die Frage stellen, ob sich der lange Weg des Lernens für die „letzten“ ca. 25 Jahre Beschäftigungsdauer überhaupt noch lohnt.
2. Die ÄiW beschrieben, nach durchschnittlich 4,6 Wb.-Jahren bereits 187 Behandlungen durchgeführt zu haben. Dieser sehr großen Zahl stehen die ermittelte subjektiv deutlich schlechtere Vorbildung zu psychotherapeutischen Aspekten durch das Studium (Vergleich zu den PiA) sowie eine leicht schlechtere Qualität verschiedener Weiterbildungsmerkmale entgegen. Die ÄiW können weniger auf Vorwissen und therapeutische Modelle bauen, müssen aber schnell ein hohes Maß an Verantwortung tragen, selbstständig werden und u. U. eigene Wege finden. Auch das mit 30 % relativ geringe Kompetenzerleben, retrospektiv für das erste Jahr ermittelt, lässt vermuten, dass sich eingangs viele junge Kolleg*innen überfordert fühlen können.
3. Eine Konsequenz aus dem oben beschriebenen Ärztemangel ist oft, dass ÄiW dringend gebraucht werden, um in Kliniken z. T. einen erheblichen Anteil medizinischer Aufgaben zu übernehmen. So können weniger Zeit und Energie für die Wb. und die psychotherapeutische Arbeit aufgewendet werden.
Die Gesamtzufriedenheit mit der Ab./Wb. im Bereich „gut“ (Tab. 3) lässt für beide Berufsgruppen noch Verbesserungsspielraum. Da die Gesamtzufriedenheit niedriger ist als die Beurteilung der Strukturmerkmale (z. B. „bekomme schnell kompetente Hilfe“, „sehr gute Infrastruktur“), scheinen eher andere Einflussfaktoren wichtig – die häufig geringe Bezahlung der PiA in den Kliniken ist hinlänglich bekannt und wurde bereits im Forschungsgutachten zur Psychotherapieausbildung (Uniklinikum Jena, Strauß et al. 2009) dokumentiert und seitdem vielfach kritisiert.
Dieses Forschungsgutachten, für das im Jahr 2008 über 3000 PiA befragt wurden, kann auch zur Einordnung der Zufriedenheitswerte herangezogen werden. Die PiA äußerten z. B. eine mittlere Zufriedenheit mit der Ausbildungsorganisation von 3,4 (SD ±1,2; Skala [1–5], zu Details: E 1–5 auf S. 84). Die Ergebnisse der vorliegenden Befragung sind damit etwas höher. Es ist möglich, dass sich die Verhältnisse allgemein in den 10 Jahren, die zwischen beiden Erhebungen liegen, verbessert haben.
Vergleicht man zusammenfassend die Stichproben, fallen die Beurteilungen der PiA durchgehend positiver aus. Signifikante Unterschiede finden sich in Form von besser bewerteten Theorieseminaren, besser bewerteter Supervision, Vorteilen in den zur Verfügung gestellten Therapiematerialien, besserer Hilfe bei organisatorischen Problemen der Ab./Wb. sowie einer insgesamt positiveren Einschätzung der Weiterbildungsqualität. Dies könnte daran liegen, dass PiA gegenwärtig an einer einzigen Ausbildungsstätte lernen, durch die die verschiedenen Bestandteile ggf. besser koordiniert werden können. Vergleicht man die Aus‑/Weiterbildungscurricula für PiA und ÄiW, fällt aber auch auf, dass die Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für psychologische Psychotherapie mit stärkerem Theorie- und Supervisionsanteil eine größere Ausgestaltung des „Lernens“ vornimmt, während die ärztlichen Musterweiterbildungsordnungen mit einer recht hohen Zahl an zu behandelnden „Fällen“ einen größeren Schwerpunkt bei der Patientenversorgung setzen.
Während die bisherige Ausbildung der PiA es ermöglichte, sich voll auf die Ab. zu konzentrieren, werden die zukünftigen Wb.-Teilnehmer*innen in klinischen Einrichtungen angestellt werden und dort die Routinebehandlungen des Betriebs mitsicherstellen. Letztere werden nicht vollständig als Weiterbildungsleistungen zählen können. Für die psychologischen Psychotherapeut*innen bedeutet die neue Regelung eine gravierende Änderung, wozu die vorliegende Erhebung einige Hinweise gibt.
Bei der nun erfolgenden Umwandlung in eine Psychotherapieweiterbildung für die Psycholog*innen ist zu hoffen, dass die zukünftige Weiterbildungsordnung ausreichenden Raum für das Lernen unter Anleitung bietet. So wird es ja nicht nur eine angemessenere Honorierung der Weiterbildungsteilnehmer*innen geben, sondern diese müssen auch eine höhere Eigenverantwortlichkeit übernehmen. An der Ausgestaltung der Tätigkeiten von Psycholog*innen in Weiterbildung könnte somit zukünftig ein höheres wirtschaftliches Interesse eine Rolle spielen.
Die Ergebnisse der Regressionsanalyse zeigen, dass sich die Befragten v.a. umso kompetenter erlebten, je mehr sie über psychische Störungen im Studium gelernt hatten und je besser sie die Qualität ihrer Weiterbildung einschätzten. Dass sich durch das neue Psychotherapie-Masterstudium die Vermittlung von Wissen zu psychischen Störungen, aber auch von praktisch-psychotherapeutischen Kompetenzen noch erhöhen wird, ist somit zu begrüßen. Zudem betont es noch einmal, dass eine Beibehaltung des Qualitätsstandards der PiA-Ausbildung wünschenswert ist.
Die Befragten dieser Untersuchung sind bei geplantem Ende der Ab./Wb. rund 40 Jahre (ÄiW) bzw. 33 Jahre (PiA) alt. Im oben genannten Forschungsgutachten des Jahres 2009 waren die befragten PiA (also vor Abschluss) im Mittel 33 Jahre alt (Strauß et al. 2009). Bei struktureller Angleichung der Psychologen-Wb. an die der Ärzt*innen sowie der auf 5 Jahre Mindestdauer geplanten Weiterbildung ist eine Verlängerung des Bildungsweges auch für Psycholog*innen zu befürchten. Werden die Befragungsdaten zugrunde gelegt, ergibt sich ein durchschnittliches Alter von etwa 35 Jahren, mit dem zukünftige Psycholog*innen die neue Fachpsychotherapeutenqualifikation erreichen. Dies hat zwei wichtige Konsequenzen:
1. Gemäß dem Forschungsgutachten (Strauß et al. 2009) hatten lediglich 24 % der Ausbildungsteilnehmer*innen bereits Kinder. Während die Familienplanung bislang nach dem Abschluss der Ausbildung zu*r psychologischen Psychotherapeut*in beginnt, wird dies in Zukunft im Wesentlichen während der Weiterbildungszeit erfolgen müssen. Es ist zu begrüßen, dass die neue Weiterbildung strukturell auf Erziehungs- und Schwangerschaftszeiten Rücksicht nimmt. Dennoch wird das Gründen einer Familie während der Qualifikationsphase neue Herausforderungen mit sich bringen. Die geplante Weiterbildungsdauer von 5 Jahren wird sich im Regelfall verlängern. Untersuchungen anderer Disziplinen zu erfolgreichen Lebenskonzepten von ÄiW wären hier hilfreich.
2. Eine Doppelqualifikation aus Psychotherapieweiterbildung und wissenschaftlicher Laufbahn wird durch die Umwandlung in eine 5‑jährige Vollzeitweiterbildung und die damit verbundene Verlängerung deutlich erschwert. Rief und Schneider (2020) weisen darauf hin, dass die Zuweisung von Forschungsmitteln für die Psychotherapie, die Beteiligung an großen Versorgungs- und Innovationsprogrammen sowie der Einbezug in politische Prozessen davon abhängen, dass sich ausreichend viele der neuen Psychotherapeut*innen für die Wissenschaft engagieren können. Solche nach einem „Scientist-practicioner“-Modell ausgebildeten Personen sind in vielen Ländern als Expert*innen hoch angesehen und prägen die öffentliche Bewertung des Faches. Es wäre bedauerlich, wenn diese Gruppe in Deutschland nur noch aus sehr wenigen Menschen, die sich durch weit überdurchschnittliche Arbeits- und Lernmotivation auszeichnen, bestünde. Es bleibt zu hoffen, dass die hohe Qualität des wissenschaftlich basierten Heilverfahrens in Deutschland erhalten bleibt.

Fazit für die Praxis

  • Die Psycholog*innen in Ausbildung (PiA) beschrieben insgesamt eine hohe Strukturqualität. Es ist zu hoffen, dass diese auch im Zuge der Umwandlung in eine strukturell erheblich veränderte Weiterbildung erhalten bleiben kann.
  • Unabhängig von Berufsgruppe und Gesetzesreform scheint ein ernst zu nehmender Anteil der Teilnehmer*innen bisher ohne aktive Lernformen wie Rollenspiele oder Supervision eigener Therapievideos durch die Weiterbildung gekommen zu sein. Eine Stärkung dieser Methoden ist wünschenswert. Innovative Ansätze sind z. B. auch Simulationspatientenprogramme.
  • Die ersten Jahre der Ärzt*innen in Weiterbildung (ÄiW) in den P‑Fächern sind mit hoher Belastung und Unsicherheitserleben verbunden – Unterstützungsmöglichkeiten sollten anvisiert werden, um die Attraktivität dieser Weiterbildungen zu steigern und dem Ärztemangel entgegenzuwirken.
  • Voraussichtlich wird sich das Alter bei Abschluss der neuen Weiterbildung erhöhen.
  • Eine Vereinbarkeit mit wissenschaftlicher Qualifizierung während der Weiterbildungsphase für Psycholog*innen wird zukünftig schwerer, sollte aber unbedingt gewährleistet sein.

Danksagung

Die Autor*innen danken Frau M. Sc. Carolin Wittke.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

G. Bleichhardt, U. Voderholzer und W. Rief geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Alle beschriebenen Untersuchungen am Menschen oder an menschlichem Gewebe wurden mit Zustimmung der zuständigen Ethikkommission, im Einklang mit nationalem Recht sowie gemäß der Deklaration von Helsinki von 1975 (in der aktuellen, überarbeiteten Fassung) durchgeführt. Von allen Studienteilnehmenden liegt eine Einverständniserklärung vor.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
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Fußnoten
1
Viele Ergebnisse und Schlussfolgerungen dieses Beitrags betreffen auch die Aus‑/Weiterbildung in Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie. Da die vorliegende Untersuchung Letztere aber nicht einschließen konnte, wird auf diese kein weiterer Bezug genommen. Die Begriffe „Weiterbildung“ und „Ausbildung“ werden mit Wb. bzw. Ab. abgekürzt.
 
Literatur
Zurück zum Zitat Rief W, Schneider S (2020) Plädoyer für eine wissenschaftlich fundierte Psychotherapieweiterbildung. Psychother J 19:256–257 Rief W, Schneider S (2020) Plädoyer für eine wissenschaftlich fundierte Psychotherapieweiterbildung. Psychother J 19:256–257
Metadaten
Titel
Vergangenheit und Zukunft der Qualifizierung von Psychotherapeut*innen
Befragung von psychologischen Psychotherapeut*innen in Ausbildung und Ärzt*innen in Weiterbildung bezüglich ihrer bisherigen Qualifizierungswege
verfasst von
Gaby Bleichhardt
Ulrich Voderholzer
Winfried Rief
Publikationsdatum
28.06.2021
Verlag
Springer Medizin
Schlagwort
Psychotherapie
Erschienen in
Die Psychotherapie / Ausgabe 4/2021
Print ISSN: 2731-7161
Elektronische ISSN: 2731-717X
DOI
https://doi.org/10.1007/s00278-021-00516-3

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