Häusliche und sexualisierte Gewalt stellt eine Bedrohung für die Gesundheit von Frauen dar. Seit die Istanbul-Konvention 2018 in Deutschland in Kraft trat, besteht die Anforderung einer adäquaten Gesundheitsversorgung für gewaltbetroffene Frauen. Bisher gibt es keine systematischen Übersichten zu regional bestehenden Versorgungsangeboten und -situationen im Bereich der gesundheitlichen Versorgung nach Gewalterlebnissen.
Ziel der Arbeit
Es wird ein Überblick über die Versorgungsangebote und -situationen im Gesundheitsbereich sowie deren Rahmenbedingungen in Hessen gegeben sowie identifizierte Versorgungslücken aufgezeigt.
Methode
Es wurden 34 Expert*inneninterviews mit Gesundheitsfachkräften in Kliniken und anderen Gesundheitseinrichtungen, mit Mitarbeiter*innen von Koordinierungsstellen und Beratungsstellen sowie Frauenbeauftragten geführt. Die Interviews wurden mit der Qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet. Ergänzend erfolgte eine Internetrecherche nach Gesundheitsangeboten, die auf Gewalt spezialisiert sind.
Ergebnisse
Die Ergebnisse zeigen, dass in Hessen Angebote zur gesundheitlichen Versorgung nach häuslicher und sexualisierter Gewalt nicht in jedem Landkreis vorhanden sind. Insbesondere im ländlichen Raum ist eine adäquate gesundheitliche Versorgung nicht gesichert, was zu ungleichen Chancen für die Betroffenen führt. Es konnten Unterschiede zwischen Angeboten, die auf Gewalt spezialisiert sind, und anderen Gesundheitseinrichtungen festgestellt werden. Während innerhalb der spezialisierten Angebote Vorgaben zu Inhalten und Abläufen existieren, ist die Versorgung in anderen Einrichtungen vom persönlichen Engagement der jeweiligen Gesundheitsfachkräfte abhängig.
Schlussfolgerung
Im Sinne der Istanbul-Konvention kann in Hessen eine adäquate Gesundheitsversorgung nach häuslicher und sexualisierter Gewalt nicht gewährleistest werden und es besteht weiterer Handlungsbedarf.
Hintergrund
Gewalt ist eine Bedrohung für die Gesundheit von Frauen und eine große Herausforderung für die öffentliche Gesundheitsversorgung. „Gewalt gegen Frauen“ umfasst „alle Handlungen geschlechtsspezifischer Gewalt, die zu körperlichen, sexuellen, psychischen oder wirtschaftlichen Schäden oder Leiden bei Frauen führen oder führen können“ [6]. Sie umfasst neben körperlichen und sexualisierten Misshandlungen auch psychische Gewalt, soziale Kontrolle, die Zerstörung sozialer Netzwerke und ökonomische Ausbeutung [16]. Wenn diese Handlungen innerhalb der Familie, durch den aktuellen oder früheren Partner ausgeübt werden, wird dies als „häusliche Gewalt“ bezeichnet [6]. Eine erste Prävalenzstudie in Deutschland kam 2004 zu dem Ergebnis, dass 40 % der befragten Frauen (n = 10.264) seit ihrem 16. Lebensjahr Erfahrungen mit sexualisierter und/oder körperlicher Gewalt gemacht haben [12]. Dabei erlebten 25 % der Frauen die Gewalt durch den (Ex‑)Partner [12]. Frauen mit einer Behinderung sind 2‑ bis 3‑mal häufiger von sexualisierter Gewalt betroffen als der weibliche Bevölkerungsdurchschnitt [12, 14].
Die physischen und psychischen Folgen von Gewalt umfassen z. B. Verletzungen, Depressionen, Angststörungen, Suchtmittelmissbrauch und Suizidalität [18]. Gewalt kann aber auch zu Einschränkungen in der perinatalen und mütterlichen Gesundheit führen, wie ein erhöhtes Risiko für Frühgeburten, niedriges Geburtsgewicht, Fehlgeburten oder Einschränkungen in der sexuellen und reproduktiven Gesundheit wie ungewollte Schwangerschaften und Schwangerschaftsabbruch oder sexuell übertragbare Erkrankungen [18]. Betroffene benötigen daher einen Zugang zu einer adäquaten Gesundheitsversorgung, damit physische Verletzungen angemessen versorgt, psychische Folgen rechtzeitig erkannt und längerfristige gesundheitliche Beeinträchtigungen verhindert werden können. Das Gesundheitswesen ist ein bedeutender Akteur im Hilfesystem und verfügt über umfassende Möglichkeiten zur Intervention bei und Prävention von häuslicher und sexualisierter Gewalt. Die Bedeutung einer adäquaten Gesundheitsversorgung ist in Artikel 20 der Istanbul-Konvention festgehalten [6]. Die Istanbul-Konvention ist eine Übereinkunft des Europarates vom 11. Mai 2011 zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, welche 2018 in Deutschland in Kraft getreten ist. In Artikel 25 werden besondere Anforderungen an die Versorgung nach sexualisierter Gewalt gestellt, welche medizinische und gerichtsmedizinische Untersuchungen sowie das Angebot von Beratung und Traumahilfe vorsehen [6]. Mit dem Inkrafttreten der Istanbul-Konvention sind somit eindeutige Anforderungen an Prävention und Interventionen im Gesundheitsbereich verbunden, welche rechtsverbindlich umgesetzt werden müssen.
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Betroffene Frauen nehmen Angebote der Gesundheitsversorgung in Anspruch, was aber nicht bedeutet, dass ihre Gewalterfahrungen erkannt bzw. thematisiert werden [1, 4, 9]. Etwa ein Drittel der Frauen gibt an, dass sie medizinische Einrichtungen aufgesucht haben [5]. Dabei stellen Gesundheitsfachkräfte oftmals die einzigen außenstehenden Personen dar, die Gewaltfolgen sehen können [17]. Wenn Gewalterfahrungen nicht als Ursache der Beschwerden erkannt werden, kann dies zu einer Über- und Fehlversorgung führen, indem sich die Behandlung an den Symptomen und nicht der Ursache orientiert [11]. Nach der Leitlinie „Umgang mit Gewalt in Paarbeziehungen und mit sexueller Gewalt gegen Frauen“ der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind wichtige Aufgaben der Gesundheitsversorgung eine adäquate Erstbehandlung, Weitervermittlung, Nachsorge sowie die Dokumentation der Gewaltfolgen [15]. Für eine gerichtsverwertbare Dokumentation wurden für den Gesundheitsbereich verschiedene Dokumentationsbögen entwickelt [2, 3, 10], wodurch die Betroffenen die Möglichkeit haben, ihre Gewalterfahrungen unabhängig vom Zeitpunkt einer polizeilichen Anzeige in einem späteren Prozess zu beweisen [15]. Bei betroffenen Frauen mit geistigen oder körperlichen Behinderungen wird außerdem empfohlen, dass Gesundheitsfachkräfte insbesondere die individuellen Unterstützungsbedarfe berücksichtigen [15]. Behandlungen sollen entsprechend der Behinderung vorab verständlich erklärt werden, was beispielsweise die Verwendung von Leichter Sprache, Bildmaterial oder entsprechend entwickeltem Informationsmaterial bedeuten kann [13]. Gesundheitsfachkräfte sollen sich die Zeit nehmen, direkt mit der Frau zu sprechen und nicht über Begleitpersonen.
Systematische Übersichten zu den bestehenden Angeboten und Situationen im Bereich der gesundheitlichen Versorgung nach häuslicher und sexualisierter Gewalt fehlen. In Deutschland ist bisher nur die Akutversorgung nach sexualisierter Gewalt vom Deutschen Institut für Menschenrechte untersucht worden. Das Ergebnis zeigt, dass die existierenden Versorgungsangebote bezogen auf die zeitliche und örtliche Erreichbarkeit geeigneter Untersuchungsstellen sowie Wartezeiten und Anzahl an Weiterverweisungen unzureichend sind [7]. Demnach findet die Akutversorgung nach sexualisierter Gewalt meistens im Rahmen der Regelversorgung in Krankenhäusern oder in rechtsmedizinischen Einrichtungen statt und nur z. T. im niedergelassenen Bereich. Interdisziplinäre Versorgungszentren, wie sie in der Istanbul-Konvention angeführt werden, existieren in Deutschland nur wenige [7]. Im Rahmen des vom Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst (HMWK) geförderten Forschungsprojekts „FraGiL – Gesundheitsversorgung für Frauen nach häuslicher und sexueller Gewalt im Land Hessen“ fand eine Bestandsaufnahme der bestehenden Angebote und Versorgungssituationen im Gesundheitsbereich in Hessen statt. Anhand der Ergebnisse wird im Folgenden ein Überblick über die Versorgungsangebote im Gesundheitsbereich gegeben, die Versorgungssituation in diesen Angeboten dargestellt sowie identifizierte Versorgungslücken aufgezeigt.
Methode
Im Rahmen des Forschungsprojekts FraGiL erfolgte eine offene Internetrecherche nach Angeboten in Hessen, die auf die gesundheitliche Versorgung nach häuslicher und/oder sexualisierter Gewalt spezialisiert sind. Zur Erfassung der Versorgungssituation sowie weiterer Versorgungsangebote wurde ein qualitatives Design in Form von Experteninterviews gewählt. Dazu wurde ein Leitfaden auf Basis des aktuellen Forschungsstands entwickelt, der eine große Offenheit für die Befragten ermöglichte. Inhalte waren u. a. Abläufe und Inhalte der Versorgung gewaltbetroffener Frauen in den jeweiligen Einrichtungen, Vorgehen der Mitarbeiter*innen bei einem Verdacht auf vorliegende Gewalt, Dokumentation und Beweissicherung, medizinische Nachsorge, Qualitätssicherung und Behandlung gewaltbetroffener Frauen mit Behinderungen. Insgesamt 34 Interviews fanden im Zeitraum von November 2020 bis September 2021 statt und wurden aufgrund der Coronapandemie überwiegend webbasiert oder telefonisch durchgeführt. Die Interviews wurden u. a. mit Gesundheitsfachpersonal in Kliniken und anderen Einrichtungen des Gesundheitswesens, Mitarbeiter*innen in Schutzambulanzen sowie anderen relevanten Akteur*innen der gesundheitlichen Versorgung nach häuslicher und sexualisierter Gewalt geführt (Tab. 1). Die Auswahl der Interviewpersonen erfolgte anhand der recherchierten spezialisierten Versorgungsangebote, nach Fachrichtungen der Gesundheitsfachkräfte, Lage der Einrichtungen und den Ergebnissen bereits geführter Interviews. Die Interviews wurden vollständig transkribiert und in Anlehnung an die Qualitative Inhaltsanalyse nach Gläser und Laudel [8] ausgewertet. Das Kategoriensystem wurde anhand theoretischer Vorüberlegungen auf Basis des Forschungsstands entwickelt und im Verlauf der Auswertung an das Interviewmaterial angepasst [8].
Tab. 1
Zusammensetzung des Samples
Akteur*innen
n
Landeskoordinierungsstelle gegen häusliche Gewalt in Hessen
Gesundheitsfachpersonal im niedergelassenen Bereich
Zahnärzt*innen
3
Hauärzt*innen
2
Gynäkolog*innen
2
Gesamt
34
Ergebnisse
In Hessen konnten anhand der Internetrecherche sowie der Ergebnisse der Expert*inneninterviews sechs Angebote innerhalb der Gesundheitsversorgung identifiziert werden, die auf häusliche und/oder sexualisierte Gewalt spezialisiert sind (Tab. 2). Innerhalb dieser Angebote werden wichtige Aufgaben der Gesundheitsversorgung nach Gewalt systematisch übernommen. Dies sind je nach Angebot eine adäquate Erstbehandlung, Weitervermittlung, medizinische Nachsorge oder die Dokumentation der Gewaltfolgen (vgl. auch [15]). Dabei haben drei Angebote den Fokus auf der Versorgung nach Vergewaltigung, zwei auf der gerichtsverwertbaren Dokumentation und eins auf der Versorgung nach häuslicher Gewalt. Die Angebote sind regional unterschiedlich verbreitet (Abb. 1). Im ländlichen Raum, insbesondere in Nord- und Osthessen, gibt es nur sehr wenige Angebote. Die „Medizinische Soforthilfe nach Vergewaltigung“ des Frauennotrufs Frankfurt ist mit 23 teilnehmenden Kliniken in Hessen am weitesten verbreitet, gefolgt vom Forensischen Konsil Gießen (FoKoGi) mit einer Außenstelle und fünf Partnerkliniken. Die anderen Angebote befinden sich jeweils nur an einem Ort. Im Folgenden werden Ergebnisse der Experteninterviews dargestellt.
Tab. 2
Versorgungsangebote nach häuslicher und/oder sexueller Gewalt in Hessen
Versorgungsangebote nach sexueller Gewalt
Medizinische Soforthilfe nach Vergewaltigung
Initiiert vom Frauennotruf Frankfurt
23 teilnehmende Kliniken in Hessen
Fokus: medizinische Versorgung nach Vergewaltigung
Möglichkeit der vertraulichen Spurensicherung
Aufbewahrung der Beweismittel in einem rechtsmedizinischen Institut: ein Jahr
Hilfe nach Vergewaltigung Region Kassel
Erstversorgung nach Vergewaltigung
Möglichkeit der vertraulichen Spurensicherung
Aufbewahrung der Beweismittel in der RM Gießen: ein Jahr
Schnelle Hilfe nach Vergewaltigung Kreis Bergstraße
Kooperation des Kreis Bergstraße, Kreiskrankenhaus Bergstraße und der Gewaltschutzambulanz des Universitätsklinikums Heidelberg
Erstversorgung nach Vergewaltigung
Möglichkeit der vertraulichen Spurensicherung
Versorgungsangebot nach häuslicher Gewalt
S.I.G.N.A.L. im Klinikum Kassel
Medizinische Versorgung nach häuslicher Gewalt
Möglichkeit der gerichtsverwertbaren Dokumentation
Ausgebildete Multiplikator*innen im pflegerischen Bereich
Angebote für eine gerichtsverwertbare Dokumentation
FoKoGi am Institut für Rechtsmedizin
Außenstelle in Kassel
fünf Partnerkliniken
Aufbewahrung von Beweismitteln: ein Jahr
Angebot eines Online-Formulars zur Dokumentation und einer Online-Sprechstunde
Rechtsmedizinische Hilfe im Praxis- und Klinikalltag
Schutzambulanz Fulda
Aufbewahrung von Beweismitteln: 10 Jahre
Anonyme Beratung möglich (ohne Dokumentation)
Hilfe bei sexualisierter Gewalt: Zusammenarbeit mit örtlichen Kliniken
FoKoGi Forensisches Konsil Gießen; S.I.G.N.A.L. steht für die einzelnen Handlungsschritte der Mitarbeiter*innen bei häuslicher Gewalt
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Versorgungssituation im Klinikbereich
Inhalte und Abläufe der medizinischen Versorgung gewaltbetroffener Frauen sind in den spezialisierten Angeboten geregelt. Im Rahmen der „Medizinischen Soforthilfe nach Vergewaltigung“ wird z. B. den teilnehmenden Kliniken einen Ordner zur Verfügung gestellt, in dem alle wichtigen Informationen u. a. zum Vorgehen bei der Untersuchung, Dokumentation und Spurensicherung sowie Informationen für Betroffene enthalten sind. Der Ablauf der Versorgung umfasst ein Gespräch über Behandlungsmöglichkeiten. Dabei wird versucht, die Bedürfnisse der Frauen herauszufinden, Ängste zu nehmen sowie Sicherheitsaspekte zu klären. Die medizinische Versorgung kann eine körperliche Untersuchung, Abklärung einer Schwangerschaft und Infektionen, Maßnahmen zum Gesundheitsschutz wie z. B. Impfungen sowie Empfehlungen zur Nachsorge umfassen. Außerdem besteht die Möglichkeit, eine vertrauliche Spurensicherung durchführen zu lassen. Dies bedeutet, dass Verletzungen und Spuren unabhängig von einer polizeilichen Anzeige gesichert werden können. Innerhalb der spezialisierten Angebote werden Gewaltfolgen mit den unter der Federführung des Hessischen Sozialministeriums entwickelten Bögen zur sexualisierten bzw. körperlichen Gewalt dokumentiert. Außerhalb dieser Angebote gab nur eine Person an, diese Bögen zu nutzen. Ansonsten werden die Gewaltfolgen im Arztbrief und der Behandlungsakte dokumentiert. Dabei werden Verletzungen infolge von Gewalt genauso erfasst wie bei anderen Ursachen. Dokumentationsbögen waren dabei z. T. bekannt. Als Grund für die Nichtnutzung wurde genannt, dass solche Fälle nur selten auftreten. Eine Person aus der Gynäkologie gab an, dass das Krankenhaus bisher keine Dokumentation und Spurensicherung nach Vergewaltigung anbietet und Betroffene an eine andere Klinik mit einem spezialisierten Angebot verwiesen werden.
Außerhalb der spezialisierten Angebote beschrieb der überwiegende Anteil der interviewten Personen, dass sich die medizinische Behandlung an den Symptomen orientierte. Dies beinhaltete neben der Wundversorgung, dass weitere diagnostische Untersuchungen (z. B. Röntgen) durchgeführt wurden. Eine stationäre Aufnahme erfolgt in den spezialisierten Angeboten nur bei schweren Verletzungen oder in akuten Notsituationen. Außerhalb dieser Angebote gaben zwei Unfallchirurgen an, dass gewaltbetroffenen Frauen grundsätzlich abteilungsintern angeboten wird, sie für eine Nacht stationär aufzunehmen, um das weitere Vorgehen in Ruhe besprechen zu können.
Alle Gesundheitsfachkräfte in Kliniken sehen die medizinische Nachsorge im niedergelassenen Bereich verortet. Dazu wird den Frauen ein Arztbrief für die Hausärzt*in bzw. Gynäkolog*in mitgegeben. In der Regel müssen sie sich selbst um Nachsorgetermine kümmern. Nur eine Person gab an, in Ausnahmefällen an niedergelassene Ärzt*innen zu vermitteln.
Angebote für eine gerichtsfeste Dokumentation
In der Schutzambulanz Fulda werden Verletzungen in Anlehnung an den Bogen von S.I.G.N.A.L. e. V. dokumentiert. Das Vorgehen ist festgelegt und die Mitarbeiter*innen sind entsprechend geschult. Die Schutzambulanz bietet selbst jedoch keine medizinische Versorgung oder fachärztliche Untersuchungen an. Allerdings kann eine Terminvereinbarung z. B. für eine gynäkologische Untersuchung nach sexualisierter Gewalt über die Schutzambulanz erfolgen und die Dokumentation von Begleitverletzungen übernommen werden. Das FoKoGi bietet neben der klinisch-rechtsmedizinischen Untersuchung vor Ort auch die Möglichkeit an, über ein Online-Formular eine Verletzungsdokumentation anzulegen. Bei der Notwendigkeit einer fachärztlichen Untersuchung muss eine entsprechende Fachabteilung hinzugezogen werden.
Versorgungssituation im niedergelassenen Bereich
Die Angaben der interviewten Ärzt*innen im niedergelassenen Bereich zur Inanspruchnahme des Angebots durch gewaltbetroffene Frauen variierten sehr stark, von überhaupt nicht bis etwa einmal pro Woche. Eine Person gab an, dass etwa jede dritte Patientin Gewalt erlebt habe, was in einem Fragebogen standardmäßig abgefragt werde. Allerdings seien die Gewalterfahrungen nicht der Grund der Konsultation. Zur Dokumentation der Gewaltfolgen verwendet eine hausärztliche Praxis den hessischen Bogen für körperliche Gewalt und eine zahnärztliche Praxis nutzte einmalig den zahnärztlichen Dokumentationsbogen. Nicht allen Befragten waren diese Bögen bekannt. Alle interviewten Hausärzt*innen und niedergelassenen Gynäkolog*innen berichteten, dass von sexualisierter Gewalt betroffene Frauen zur Erstversorgung an die „Medizinische Soforthilfe nach Vergewaltigung“ verwiesen werden. Die niedergelassenen Gynäkolog*innen begründeten dies mit dem zeitlichen Aufwand von 1,5 bis 2 h, was im Praxisalltag nicht möglich sei. Obwohl die Nachsorge im niedergelassenen Bereich gesehen wird, hatte nur eine interviewte Person Erfahrungen damit.
Erkennen vorliegender Gewalt
Die Gesundheitsfachkräfte gaben an, dass Gewaltfolgen nicht immer erkannt werden. Dabei wurden ein Zusammenhang mit der Berufserfahrung sowie eine hohe persönliche Komponente gesehen. Das Erkennen von Gewalt ist demnach stark abhängig vom Engagement und der Grundhaltung der Gesundheitsfachkräfte. Eine Befragte aus dem Krankenhausbereich berichtete, dass das Thema Gewalt vom Personal häufiger angesprochen wird, wenn dieses regelmäßig an Fortbildungen teilnimmt. Insbesondere in den Pflegekräften wird eine Schlüsselposition im Erkennen von Gewalt gesehen, da sie den meisten Kontakt zu Patientinnen haben. Auf die Frage, wie eine routinemäßige Frage nach Gewalt bewertet wird und ob diese gestellt wird, gingen die Meinungen auseinander. Nur eine interviewte Person verfügte über Erfahrungen und berichtete, dass eine solche Frage meist offen beantwortet wird.
Bestehende Probleme in der Versorgung nach Gewalt
Als Problem in den Kliniken wurde die Personalfluktuation genannt, weshalb es selbst in den spezialisierten Angeboten schwierig sei, entsprechende Schulungen der Mitarbeiter*innen sicherzustellen. Außerhalb dieser Angebote wurde eine fehlende Routine in der Versorgung gewaltbetroffener Frauen genannt, welche auch in teilnehmenden Kliniken aufgrund unterschiedlicher Inanspruchnahmezahlen nicht immer vorhanden ist. Neben dem Erkennen von Gewalt ist auch der reine Fortbestand der spezialisierten Angebote oftmals vom Engagement Einzelner abhängig, wodurch beim Ausscheiden dieser Personen diese Angebote nicht immer fortgeführt werden. Ein weiterer Punkt ist die Finanzierung. Im niedergelassenen Bereich können nur die normalen Sprechstundensätze abgerechnet werden. Diese decken z. B. die Erstellung einer gerichtsfesten Dokumentation nicht ab, weshalb eine Erstversorgung nur selten in ärztlichen Praxen angeboten wird. Im Angebot „Medizinische Soforthilfe nach Vergewaltigung“ wird seit 2020 eine Fallpauschale von 200 € für die medizinische Versorgung vom Hessischen Sozialministerium gezahlt. Den Aussagen der interviewten Ärzt*innen in den teilnehmenden Kliniken nach hat die Fallpauschale keinen direkten Einfluss auf ihre Versorgung der betroffenen Frauen. Allerdings wird die Einführung der Fallpauschale von den interviewten Personen als ein erster Erfolg gewertet. Vor der Einführung der Fallpauschale sei viel Überzeugungsarbeit notwendig gewesen, damit Kliniken teilnehmen und auch im Angebot der „Medizinischen Soforthilfe nach Vergewaltigung“ verbleiben. Außerhalb dieses Angebots können Krankenhäuser in der Regel nur die normale Notfallpauschale abrechnen. So wird im Angebot „S.I.G.N.A.L. im Klinikum Kassel“ der Mehraufwand von der Klinik getragen.
Zur Versorgung von gewaltbetroffenen Frauen mit Behinderungen hat der überwiegende Anteil der interviewten Personen keine Erfahrungen gemacht. Wenn Erfahrungen vorhanden waren, wurden diese als seltene Fälle beschrieben und besondere Konzepte lagen nicht vor. Im Rahmen der auf Gewalt spezialisierten Angebote gab es in einigen Kliniken Informationsmaterial in leichter Sprache. Während die Kliniken für Menschen mit körperlichen Behinderungen barrierefrei sind, sind dies nicht alle Praxen der befragten niedergelassenen Ärzt*innen gewesen.
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Diskussion
Dieser Beitrag gab einen Überblick über die Angebote und Versorgungssituationen im Gesundheitsbereich im Zusammenhang von häuslicher und sexualisierter Gewalt in Hessen. Ziel war es die Umsetzung der Istanbul-Konvention zu untersuchen und bestehende Versorgungslücken zu identifizieren. Die Übersicht der spezialisierten Angebote zeigt, dass regionale Unterschiede bestehen und insbesondere im ländlichen Raum betroffene Frauen aufgrund bestehender Versorgungslücken benachteiligt sind. Sie haben längere Anfahrtswege oder müssen sich an nicht spezialisierte Gesundheitseinrichtungen wenden, wie es auch für die Akutversorgung nach sexualisierter Gewalt von Fischer (2020) beschrieben wurde [7]. Dies bedeutet, dass Betroffene in ländlichen Regionen nicht die gleichen Chancen auf eine adäquate Versorgung haben wie in Städten. Aus der Anzahl und Verteilung der Angebote ergibt sich, dass ein Hauptfokus der spezialisierten Angebote auf der Versorgung nach Vergewaltigung liegt. Lediglich das Angebot „S.I.G.N.A.L. im Klinikum Kassel“ hat den Fokus auf häusliche Gewalt gelegt. Außerhalb der spezialisierten Angebote sind die Gesundheitsfachkräfte oftmals nicht zum Thema Gewalt fortgebildet, wodurch eine adäquate Versorgung im Sinne der Istanbul-Konvention [6] bzw. WHO-Leitlinie [15] nicht gewährleistet werden kann. Dokumentationsbögen stellen einen festen Bestandteil innerhalb der spezialisierten Angebote dar, während außerhalb Gewaltfolgen oftmals in der Patientendokumentation und Arztbriefen nach Ermessen der behandelnden Ärzt*innen dokumentiert werden. Somit ist nicht gesichert, dass diese gerichtverwertbar ist und den Betroffenen entsprechende Beweismittel zur Verfügung stehen. Darüber hinaus stellt die Dokumentation von Gewaltfolgen keine Routineaufgabe dar, im Gegensatz zu Angeboten mit dem Fokus der gerichtsfesten Dokumentation. Allerdings besteht hier die Problematik, dass Betroffene für die medizinische Versorgung weitere Einrichtungen aufsuchen müssen. Die Organisation der Nachsorge nach einer Erstversorgung im Krankenhaus bleibt in der Regel den betroffenen Frauen überlassen. Dabei ist fraglich, inwiefern sie den Empfehlungen nachkommen können und entsprechende Termine zeitnah erhalten. Durch fehlende Fortbildungen zum Thema Gewalt außerhalb der spezialisierten Angebote bleibt dem Einzelfall überlassen, ob die Nachsorge adäquat z. B. entsprechend der WHO-Leitlinie [15] erfolgt.
Obwohl Frauen mit Behinderungen zwei- bis drei Mal häufiger von Gewalt betroffen sind [12, 14], scheinen sie in der Gesundheitsversorgung nicht anzukommen oder die vorliegende Gewalt wird nicht erkannt. Auch in der Studie von Fischer (2020) hatten nur wenige befragte Ärzt*innen von Erfahrungen mit Menschen mit Behinderungen berichtet, was als Hinweis für die begrenzten Zugangsmöglichkeiten zur Gesundheitsversorgung gedeutet wird [7]. Dass nicht alle Praxen von niedergelassenen Ärzt*innen barrierefrei zugänglich sind, wird in der Studie [7] ebenfalls beschrieben. Neben begrenzter Zugangsmöglichkeiten könnte es auch sein, dass es Gesundheitsfachkräften bei dieser Personengruppe schwerer fällt, den Gewaltverdacht anzusprechen oder aufgrund des eingeschränkten zeitlichen Rahmens bevorzugt mit den Begleitpersonen geredet wird. Inwiefern die besonderen Unterstützungsbedarfe [13, 15] von Gesundheitsfachkräften berücksichtigt werden, kann aufgrund der berichteten seltenen Erfahrungen nicht beantwortet werden.
Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass ein erheblicher Handlungsbedarf besteht, um die Istanbul-Konvention im Bereich der gesundheitlichen Versorgung umzusetzen. Auch wenn Hessen durch die erwähnten spezialisierten Versorgungsangebote im Vergleich zu anderen Bundesländern über gute Best-practice-Beispiele verfügt, müssen die Angebote weiter ausgebaut werden, um eine flächendeckende Versorgung zu erreichen. Seit 2020 gehören die vertrauliche Spurensicherung und Dokumentation zu den Leistungen der Krankenhausbehandlung (§ 132k SGB V mit § 27 [1] SGB V), was allerdings bisher noch nicht umgesetzt wurde. Eine geklärte Finanzierung ist eine Voraussetzung, um Versorgungslücken zu schließen und Angebote nachhaltig zu sichern. Eine weitere Voraussetzung ist, das Thema Gewalt in die Aus‑, Fort- und Weiterbildung der Gesundheitsfachkräfte als regulären Inhalt aufzunehmen, damit eine adäquate Versorgung gewährleistet werden kann, um Unsicherheiten in Bezug auf die Behandlung von gewaltbetroffenen Frauen zu reduzieren. Um betroffene Frauen mit Behinderungen adäquat versorgen zu können, besteht weiterer Forschungsbedarf. Hier muss geklärt werden, warum sie in der Gesundheitsversorgung anscheinend nicht ankommen oder die Gewalt nicht erkannt wird.
Limitationen
Die Studie bezieht sich allein auf Hessen, wodurch keine Aussagen über den Stand der Umsetzung der Istanbul-Konvention im gesundheitlichen Bereich in anderen Bundesländern getroffen werden können. Außerdem wurde die gesundheitliche Versorgung nach häuslicher und sexualisierter Gewalt nur aus Sicht der Anbietenden untersucht, wodurch keine Aussagen zur Sicht der Betroffenen gemacht werden können.
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Fazit für die Praxis
Gesundheitsfachkräfte können durch eine adäquate Behandlung die Folgen von Gewalt mindern bzw. verhindern.
Im Sinne der Istanbul-Konvention besteht ein erheblicher Handlungsbedarf bezüglich der gesundheitlichen Versorgung, um ein flächendeckendes Versorgungsangebot zu gewährleisten.
Gesundheitsfachkräfte sollten unabhängig von der Teilnahme an spezialisierten Angeboten zur gesundheitlichen Versorgung nach Gewalt aus-, fort- und weitergebildet werden.
Die Finanzierung der gesundheitlichen Versorgung nach häuslicher und sexualisierter Gewalt sollte zeitnah geklärt werden.
Förderung
Der Beitrag entstand im Rahmen des Forschungsprojekts „Gesundheitsversorgung für Frauen nach häuslicher und sexueller Gewalt im Land Hessen: Bestandsaufnahme und Möglichkeiten der Umsetzung der Istanbul-Konvention (FraGiL)“, welches vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst (HMWK) gefördert wurde.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Interessenkonflikt
S. Haneck und D. Hahn geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
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