Hintergrund
Ausgehend von Wennberg und Gittelsohn (1973) hat sich die Analyse räumlicher Unterschiede in der medizinischen Versorgung weltweit als Forschungsrichtung etabliert [
1]. Sie fokussiert auf die Frage, was die medizinische Versorgung für die Menschen unter Alltagsbedingungen leistet. Die geografische Betrachtung vereinfacht es, über den Wohnort der Patienten einen Populationsbezug herzustellen, um etwa standardisierte Eingriffshäufigkeiten oder Behandlungserfolge vergleichen zu können.
Die Fülle verfügbarer Publikationen zeigt, dass Ausmaß und Persistenz der dokumentierten räumlichen Versorgungsunterschiede weitgehend unabhängig von organisatorischen oder regulativen Rahmenbedingungen der einzelnen Gesundheitssysteme bestehen. Sie stellen nach Einschätzung der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) eine enorme gesundheitspolitische Herausforderung dar [
2]. Unbegründete Versorgungsunterschiede widersprechen aber dem Anspruch der Medizin nach größtmöglicher Effektivität. Der Zugang zu medizinischer Versorgung gilt in den Industrieländern als wesentlicher Teil staatlich verantworteter Daseinsvorsorge. Die damit verbundenen Gerechtigkeitsziele werden durch ausgeprägte regionale Versorgungsunterschiede potenziell infrage gestellt. Zudem werfen sie die Frage auf, welche Versorgungsintensität zur Wahrung der Effizienzziele der sozialen Sicherungssysteme ausreichend bzw. als Überversorgung einzustufen ist.
Räumliche Versorgungsanalysen zielen daher meist darauf ab, Bewusstsein für notwendige Veränderungen im Versorgungsalltag zu schaffen und Anhaltspunkte zum Abbau unerklärter bzw. unerwünschter Versorgungsunterschiede zu finden. Nach dem Vorbild des Dartmouth Atlas of Healthcare sind daher in vielen Ländern interaktive Atlanten der medizinischen Versorgung entstanden, die das Handeln der Entscheidungsträger verändern oder beeinflussen sollen.
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Da in den meisten steuerfinanzierten Gesundheitssystemen administrative Einheiten mit geografisch definierten Zuständigkeiten für Gestaltung und Qualität der Versorgung existieren, kann die räumliche Analyse hier Unterstützung bieten. In Versicherungssystemen mit freier Arztwahl können geografische Unterschiede in der Versorgung nicht ohne weiteres mit dem Verhalten einzelner Praxen oder Krankenhäuser in eine direkte Verbindung gebracht werden. Im deutschen Gesundheitssystem wird dies z. B. durch die unterschiedlich stark ausgeprägten überregionalen Mitversorgungsfunktionen verdeutlicht [
3]. Um die Bedeutung unterschiedlicher Behandlungsmuster für die jeweils versorgte Bevölkerung kartografisch darstellen zu können, konstruiert der Dartmouth-Atlas daher Wirkungsbereiche für Krankenhäuser und Arztpraxen (z. B. „hospital referral regions“, „hospital service areas“, „primary care service areas“ [
4]).
Die Analyseergebnisse werden insoweit als regionale Mittelwerte von Versorgungsindikatoren (z. B. Impfquoten) präsentiert. Unklar bleibt, wie aussagefähig solche Mittelwerte für Patienten und Versorger sein können. Um die eigene Praxis mit dem regionalen Mittelwert vergleichen zu können, bietet der neuseeländische Versorgungsatlas Hausarztpraxen daher eine Zusatzfunktion („find my patients“), mit der diese analoge Auswertungen in der eigenen Praxis durchführen können (vgl. z. B. die Darstellung der Versorgung von Patienten mit Gicht im neuseeländischen Gesundheitsatlas [
5]). Die Aussagefähigkeit der praxisinternen Analysen beruht jedoch darauf, dass Patienten in Neuseeland ohne Überweisung nicht zugleich mehrere Ärzte aufsuchen können.
Angesichts der Bedeutungszunahme chronisch behandlungsbedürftiger Krankheiten und fortschreitender Spezialisierung in der Medizin wird in den meisten Gesundheitssystemen nach Wegen zur Verbesserung der Kooperation und Koordination der Behandlungsprozesse gesucht [
6]. Diese Zielsetzung gestaltet sich besonders komplex in Gesundheitssystemen, in denen Patienten im Rahmen freier Arztwahl durch ihre Inanspruchnahme entscheiden, welche Ärzte, Praxen oder Krankenhäuser zur erfolgreichen Behandlung eines Patienten zusammenarbeiten sollten. In diesem Kontext ist davon auszugehen, dass die Verantwortung für die Behandlung vieler Patienten zwischen den an der Versorgung beteiligten Institutionen in unterschiedlichem Maße geteilt wird.
Diese geteilte Verantwortung kann in virtuellen Behandlernetzwerken, sog. „patient-sharing networks“ (PSN), abgebildet werden. Die faktische Verbundenheit der Behandler über ihre Patienten kann insbesondere auf der Grundlage von Abrechnungsdaten sichtbar gemacht werden. In den vergangenen Jahren ist hierzu ein wachsender Forschungszweig entstanden. Entsprechende Analysen sollen in den USA und Kanada auch dazu dienen, die Bildung von Accountable-Care-Organisationen (ACO) zu unterstützen, in denen die Koordination von Behandlungsprozessen gezielt weiterentwickelt werden soll.
Der Gedanke lässt sich auch auf das deutsche Gesundheitssystem übertragen, in dem Patienten größte Wahlfreiheiten genießen. Nicht zuletzt aufgrund der hohen Zahl von Arztkontakten [
7,
8] sowie der zunehmenden Krankenhausaufnahmen ohne ärztliche Einweisung (vgl. z. B. [
9,
10]) steht in der Gesundheitspolitik und in der Versorgungsforschung die Frage im Vordergrund, wie die Koordination der Versorgung verbessert werden kann (vgl. z. B. [
11]). Nachfolgend werden daher Methoden zur Abbildung von PSN im Hinblick darauf untersucht, welche Beiträge zur Erklärung räumlicher Behandlungsmuster diese leisten können bzw. inwieweit diese Interventionen zur Verringerung unerwünschter Unterschiede in der Versorgung unterstützen können.
Stand der internationalen Forschung
Es wurde bisher keine systematische Literaturrecherche durchgeführt. Sucht man über das Kriterium „patient-sharing network“ in den Datenbanken des National Center for Biotechnology Information (NCBI) [
12] und von ResearchGate [
13], stößt man auf 5 bzw. weitere 10 relevante Veröffentlichungen. Über das Kriterium „patient-sharing“ ergeben sich bei NCBI 18 relevante Literaturstellen. Insgesamt ergeben sich über beide Quellen 19 Referenzen. 15 weitere Quellen waren den Autoren aus persönlicher Kommunikation oder als zitierte Literatur bekannt. Die nachfolgende Übersicht versucht, dieses noch junge, heterogene Forschungsfeld anhand ausgewählter Referenzen zu beschreiben.
Publizierte Forschungsarbeiten zur Thematik finden sich fast ausschließlich in Nordamerika. Diese gliedern sich in instrumentelle und analytische Ansätze. Während instrumentelle Ansätze auf eine Intervention zielen und hierfür normative Festlegungen treffen, welche Akteure im Zentrum der zu betrachtenden PSN stehen, zielen analytische Ansätze primär auf Beschreibung und Verständnis empirischer Vernetzungsprozesse ab, ohne Rücksicht darauf, ob sich die daraus ergebenden Netzstrukturen für spätere Interventionen eignen.
Instrumentelle Ansätze/normative Festlegung eines Netzmittelpunkts
Um die Bildung künftiger ACOs zu fördern, haben Bynum et al. PSN beschrieben, die distinkte Patientenpopulationen versorgen und in deren Mittelpunkt jeweils ein Krankenhaus steht [
14]. Patienten werden jeweils dem Arzt zugeordnet, der von ihnen am stärksten in Anspruch genommen wurde („usual provider“). Die Ärzte und deren Patienten wiederum werden dem Krankenhaus zugeordnet, mit dem die Ärzte jeweils direkt („hospital privileges“) oder indirekt („referral“) am stärksten verbunden sind. Wie Landon et al. hervorheben, sollen bereits existierende Kooperationsbeziehungen identifiziert werden, die sich als Grundlage für die Bildung von ACOs eignen könnten [
15]. Stukel et al. berichten über ein vergleichbares Vorgehen, um sog. „multispecialty physician networks“ in der kanadischen Provinz Ontario abzubilden [
16]. Bei der Zuordnung des Patienten zum „usual provider“ steht das Inanspruchnahmeverhalten der Patienten im Vordergrund, bei der Zuordnung des Arztes zu einem Krankenhaus die Kooperationsbeziehung der jeweiligen Ärzte mit bestimmten Krankenhäusern. Zielsetzung hierbei ist, die Behandlungskette in der Versorgung chronisch Kranker und die faktischen Funktionsbeziehungen der Krankenhäuser mit den niedergelassenen Ärzten im Raum möglichst vollständig abzubilden. Gesundheitspolitisch zielt das Vorgehen auf eine Verringerung von Wiederaufnahmen nach stationärer Behandlung für bestimmte chronische Krankheiten ab. Deshalb wurde auch die Stabilität der Kooperationsbeziehungen im Zeitverlauf beachtet. Um stabile Netzwerke zu erhalten, wurden teilweise mehrere Krankenhäuser und deren ambulante Kooperationspartner zusammengefasst. Hierdurch entstehen relativ große (5- bis 6‑stellige) Patientenpopulationen. Vergleiche über indikationsbezogene Behandlungsmuster werden so erleichtert. Da die gebildeten Netzwerke sehr unterschiedliche und teils überlappende räumliche Ausdehnungen aufweisen, ersetzt diese Herangehensweise den bisherigen geografischen Vergleich nach Wohnregionen. Allerdings fallen nicht alle beobachteten stationären Behandlungen in die für das Netzwerk prägende Kooperationsbeziehung; die „Netzwerktreue“ stationärer Behandlungen lag zwischen 30 und 70 % je PSN.
Wer hingegen die primärärztliche Koordinationsfunktion stärken will, stellt nicht das Krankenhaus, sondern die Hausarztpraxis in den Mittelpunkt der Betrachtung. Pham et al. fokussieren auf die Frage, mit wie vielen anderen Ärzten bzw. Einrichtungen der Hausarzt seine Patienten teilt, um den Koordinationsaufwand in der Behandlung von staatlich krankenversicherten Patienten (Medicare-Patienten) zu verdeutlichen [
17]. Anzahl und Struktur der mitbehandelnden Ärzte, speziell der Fachärzte („specialists“), weisen grundsätzliche Unterschiede auf, die teils auf den Standort, teils auf die Ausrichtung der Hausarztpraxen zurückgeführt werden kann. So ist die Zahl mitbehandelnder Ärzte in städtischen Regionen systematisch höher als in ländlichen und unterscheidet sich nach Bundesstaaten. Einzelpraxen, kleine Gemeinschaftspraxen und Praxen mit einem höheren Anteil chronisch Kranker sind in größere Netzstrukturen eingebunden als große Gruppenpraxen und Praxen mit wenig multimorbiden Patienten. Die Autoren sehen ihre Arbeit als mögliche Grundlage für eine Förderung gezielter Vernetzungsprozesse zur Stärkung des Prinzips von „medical homes“ („medizinischen Versorgungsteams“). Dieses sieht eine enge, technisch unterstützte und auf Langzeitbegleitung ausgerichtete Zusammenarbeit der Akteure vor, die vom Hausarzt koordiniert wird.
Pollack et al. verfolgen diesen Ansatz weiter und untersuchen den Effekt fachübergreifender Zusammenarbeit auf die Hospitalisierungsrate und den Behandlungsaufwand insgesamt [
18]. Bereits in der Fragestellung wird deutlich, dass in einem solchen Ansatz möglichst alle stationären Aufenthalte – unabhängig von der Intensität der Kooperationsbeziehung einzelner Krankenhäuser mit niedergelassenen Ärzten – als Ergebnisvariable einzubeziehen sind. Folglich fokussiert die Analyse auf die faktische Vernetzung zwischen Primär- und ausgewählten Fachärzten, die für je eine Patientenkohorte (Herzinsuffizienz, Diabetes) als relevant definiert wurden. Die Autoren ermitteln anhand von Abrechnungsdaten mehrerer privater Versicherungsträger in den USA Indexwerte für die Zahl der ambulant tätigen Mitbehandler je Patient („care density“). Hohe Werte werden nach Darstellung der Autoren für Patienten erreicht, die kooperationsbereitere Ärzte aufgesucht haben. Für diese Patienten werden günstigere Outcomes (niedrigere Hospitalisierungsraten, geringere Ausgaben) berichtet [
18]. Die Autoren sehen dies als Hinweis auf kooperativeres Verhalten der beteiligten Ärzte, allerdings wurden keine spezifischen Kooperationsmerkmale (etwa Art und Umfang der Kommunikation zwischen den beteiligten Ärzten) erhoben. Auch lässt die Datengrundlage keine patientenvollständige Analyse der jeweiligen Praxen zu, sodass bei dieser Herangehensweise Schlussfolgerungen auf das Arztverhalten nur mit Einschränkung möglich sind. Unklar bleibt auch, welcher Einfluss auf die untersuchten Outcomes auf diejenigen Ärzte zurückzuführen ist, die von den betrachteten Patienten auch noch aufgesucht, aber in der Studie nicht berücksichtigt wurden, da per definitionem nur Ärzte bestimmter Fachgruppen berücksichtigt wurden.
Ein weiteres Beispiel für die indikationsspezifische Betrachtung ärztlicher Kooperation als Funktion von „patient-sharing“ bieten Hussain et al. [
19]. Sie sehen in der Abrechnung von Leistungen für denselben Patienten Hinweise auf Kooperationsbeziehungen („advice seeking and referral relationships“) zwischen Fachärzten und untersuchen den Effekt von „patient-sharing“ zwischen Chirurgen und Onkologen auf die Überlebensrate einer Kohorte von Kolonkarzinompatienten. Eine höhere Rate von „patient-sharing“ ist mit höheren 10-Jahres-Überlebensraten der Patienten assoziiert. Auch hier bleibt aufgrund des gewählten Datenausschnitts und der normativen Eingrenzung der zu untersuchenden Kooperationsbeziehung unklar, ob ggf. weitere Einflüsse gemeinsam auf den Vernetzungsgrad und die Überlebensrate wirken.
Analytische Ansätze zur Identifikation von Gemeinschaften in Netzwerken
Mit Hilfe von graphentheoretischen Analyseansätzen können soziale Netzwerke untersucht, Gemeinschaften von Akteuren (Communities) erkannt und voneinander abgegrenzt werden (vgl. z. B. [
20,
21]). Soziale Netzwerke werden – ähnlich wie bspw. technologische oder biologische Netzwerke – abstrakt als eine Menge von Akteuren (auch: Knoten, „nodes“) und eine Menge von Verbindungen (auch: Kanten, „edges“) zwischen den Akteuren beschrieben. Anhand der Verbindungen zwischen Akteuren können Netzwerkstrukturen sowie die Bedeutung einzelner Akteure (Zentralität, „centrality“) für eine oder mehrere Gemeinschaften (Communities) beschrieben werden. Die Graphentheorie bietet zahlreiche Kennzahlen bzw. Metriken zur Beschreibung von sozialen Netzwerken, wovon hier 4 Metriken kurz erläutert werden sollen: So beschreibt etwa die Gradzentralität („degree centrality“) die Anzahl der Verbindungen eines Akteurs zu anderen Akteuren. Die Nähezentralität („closeness centrality“) misst den kürzesten Weg (Pfaddistanz) eines Akteurs zu allen anderen Akteuren in einem Netzwerk und bestimmt so die Zentralität für den Akteur. Die Zwischenzentralität („betweenness centrality“) hingegen misst die Anzahl, wie oft ein Akteur auf den kürzesten Wegen zwischen weiteren Akteuren liegt. Schließlich kann die Eigenvektorzentralität („eigenvector centrality“) als Erweiterung der Gradzentralität verstanden werden, die die Zentralität von Nachbarakteuren mit einbezieht. Die Eigenvektorzentralität folgt damit dem Gedanken, dass die Zentralität eines Akteurs auch von der Zentralität seiner Nachbarn abhängt [
22].
Anhand der Zentralitätsmetriken können Eigenschaften der Netzwerkstrukturen beschrieben werden. Dies ermöglicht zudem, dass die Akteure eines Netzwerkes miteinander verglichen werden können, sodass sie bzgl. ihrer Ähnlichkeit im Hinblick auf die untersuchten Merkmale (Homophilie) dargestellt werden können. Schließlich bietet die Graphentheorie zahlreiche Instrumente, um Gemeinschaften von Akteuren („communities“) innerhalb großer Netzwerke voneinander abzugrenzen. So wird bspw. der Modularitätswert („modularity“) herangezogen, um Teilnetzwerke hinsichtlich ihrer inneren Kohärenz und gleichzeitig der Trennschärfe zu anderen Teilnetzwerken zu bewerten. Der Modularitätswert gibt die Anzahl der Verbindungen innerhalb der Teilnetzwerke abzüglich einer erwarteten Anzahl an Verbindungen in einem äquivalenten Netzwerk mit einer durchschnittlichen Verteilung der Verbindungen wieder. Somit ist der Modularitätswert umso höher, je höher die tatsächliche Anzahl der Verbindungen im Vergleich zu den zu erwartenden Verbindungen ausfällt. Die präzise mathematische Berechnungsformel findet sich zum Beispiel bei Newman [
23, S. 8578].
Moen et al. (2016) [
24] wenden in einer Fallstudie das netzwerktheoretische Analyseinstrumentarium auf die von Bynum et al. [
14] gebildeten krankenhauszentrierten Netzwerke an, um Eigenschaften zu bestimmen, die eine Leitlinienadhärenz bei der Implantierung von Defibrillatoren unterstützen. Sie suchen nach Faktoren zur Gewichtung der Verbindungen zwischen Ärzten und Krankenhäusern und zwischen den Ärzten innerhalb eines krankenhauszentrierten Netzwerks. Untersucht wird etwa, inwieweit die Zentralität einzelner Krankenhäuser innerhalb des Netzwerks („betweenness centrality“) oder die Vernetzung eines netzwerkzentralen Krankenhauses mit den Krankenhäusern anderer Netzwerke („closeness centrality“) Einfluss auf die Leitlinienadhärenz haben. Während für Zentralitätsmerkmale der Krankenhäuser und für die Fachgruppenzusammensetzung (Homophilie) der PSN kein Einfluss nachgewiesen werden kann, wird erkennbar, dass der Intensitätsgrad der Vernetzung zwischen Ärzten eines PSN („degrees“) mit der Größe des Netzwerks abnimmt. Dabei erwies sich die Zentralität der für die Durchführung der Implantation maßgeblichen Fachärzte innerhalb der krankenhauszentrierten PSN als signifikanter Einflussfaktor, um die zwischen zwei benachbarten Krankenhausmärkten („hospital referral regions“) beobachteten Behandlungsunterschiede (Leitlinienadhärenz) zu erklären. Die Autoren schließen daraus, dass die Methoden der sozialen Netzwerkanalyse auch zum besseren Verständnis räumlicher Versorgungsunterschiede beitragen können.
Soziale Netzwerke haben in der Regel kaum räumliche oder andere natürliche Grenzen. Einerseits weisen Beziehungen zwischen Akteuren an bestimmten Stellen Verdichtungen (Cluster) auf, die als Teilnetzwerke bezeichnet werden können, andererseits bestehen in der Regel Verbindungen einzelner Akteure zu Akteuren anderer Cluster bzw. Teilnetzwerke. Um in dieser Komplexität verbundener Akteure einzelne Gemeinschaften („communities detection“) abgrenzen zu können, die in der Regel mehrere Akteure umfassen, werden auch besondere graphentheoretische Analyseansätze angewendet. Diese suchen – auch mithilfe der Wahrscheinlichkeitstheorie – unter der Vielzahl möglicher Konstellationen eine „beste“ Einteilung der verfügbaren Akteure in sinnvolle Gemeinschaften bzw. Teilnetzwerke [
25,
26]. Hierfür existieren unterschiedliche Algorithmen, die in unterschiedlicher Weise auf die oben beschriebenen Zentralitätsmaße aufsetzen und deren Ergebnisse sich in Abhängigkeit von der Struktur der Daten, also der Anzahl der betrachteten Knoten und ihrer Verbindungen, gestalten. Da einige dieser Algorithmen aufgrund ihrer Komplexität extrem rechenintensiv sind, erfordern sie dementsprechend eine leistungsstarke IT-Struktur [
27].
Die Anwendung von Community-Detection-Algorithmen auf die ärztlichen Abrechnungsdaten für die Unterscheidung von PSN kann dazu führen, dass eine modulare Untergliederung in Teilnetzwerke erst ab einer bestimmten Mindestzahl gemeinsam behandelter Patienten resultiert, weil erst dann eine Struktur mit hinreichend hohem Modularitätswert herausgearbeitet wird.
Landon et al. untersuchen erstmals ausführlich Eigenschaften von PSN auf Basis von Medicare-Daten, ohne dass für die Netzbildung hierbei von einem normativen Mittelpunkt (etwa Hausarzt oder Krankenhaus) ausgegangen wird [
28]. In einer Vorläuferarbeit von Barnett et al. stehen noch krankenhausbasierte PSN im Vordergrund, die mit netzwerkanalytischen Methoden auf ihre Netzeigenschaften, die Versorgungsintensität und die damit verbunden Ausgabeneffekte untersucht werden [
29]. Barnett et al. kommen zu dem Ergebnis, dass Krankenhäuser mit einem ausgeprägten Facharztnetzwerk eine höhere Versorgungsintensität und systematisch höhere Behandlungskosten haben als Krankenhäuser, die Teil eines hausarztbasierten Behandlernetzwerkes sind, und widersprechen damit in Teilen den Befunden von Pollack et al. [
18]. Ob und inwieweit widersprüchliche Ergebnisse auch durch die Definitionen und Methoden der Netzwerkbildung beeinflusst sind, ist bisher nicht beantwortet.
In ihrer grundlegenden Arbeit gehen Landon et al. deshalb über bisherige Ansätze hinaus und beschreiben faktische Vernetzungsstrukturen [
28]. Diese sind sehr heterogen und können Ärzte mit und ohne Krankenhausaffiliation, unterschiedliche Fachgruppen in unterschiedlichen Anteilsverhältnissen, Netzwerke ohne Krankenhausbeteiligung sowie Netzwerke mit mehreren Krankenhäusern umfassen. Die Analyse zielt darauf ab, die Eigenschaften für ein „organisches“ Wachstum von Vernetzungsprozessen zu identifizieren. Die Autoren finden zahlreiche Belege dafür, dass Netzwerke auf Basis gemeinsamer Eigenschaften von Patienten (Hautfarbe) oder Ärzten (Geschlecht, Krankenhausaffiliation) entstehen und dass Netzwerkstrukturen sich nach Region unterscheiden. Unklar bleibt jedoch, inwieweit diese Prozesse durch das Inanspruchnahmeverhalten von Patienten oder durch das Kooperationsverhalten von Ärzten vorangetrieben werden.
Landon et al. illustrieren exemplarisch die sich in 2 Städten ergebenden Netzwerkstrukturen bei einer Mindestzahl von 10 geteilten Patienten [
28]. Dabei resultieren unterschiedliche Netzwerkgrößen (1391 bzw. 596 Ärzte) mit unterschiedlicher Fachgebietsbeteiligung, unterschiedlichen Subnetzwerken und Krankenhausaffiliationen. Diese unterscheiden sich deutlich von den im ersten Schritt normativ gesetzten Netzkonzeptionen mit einem definierten Kristallisationspunkt oder spezifischen zugelassenen Kooperationsbeziehungen zwischen Ärzten ausgewählter Fachrichtungen.
Die Herangehensweise ermöglicht es, Einflüsse von Rahmenbedingungen oder des Verhaltens von Akteuren in der resultierenden Netzwerkstruktur erfassen zu können, ohne dass deren Darstellung durch das normative Setzen von Kristallisationspunkten (z. B. Hausarzt, Krankenhaus) bereits verzerrt oder eingeschränkt ist. Wie Landon et al. gezeigt haben, weisen die mittels graphentheoretisch fundierter Methoden gefundenen Vernetzungsstrukturen eine große Heterogenität auf, sodass bei dieser Herangehensweise aus einer Grundgesamtheit verschiedene Gemeinschaften identifiziert werden, die entweder eine starke Häufung von Hausärzten und/oder Krankenhäusern enthalten oder ganz ohne diese bisher üblichen normativ gesetzten Kristallisationspunkte bestehen können (etwa nur Chirurgen und Anästhesisten) [
28].
Wie sich die eingesetzten Methoden der Communitydetection auf die Zusammensetzung der resultierenden PSN und diese wiederum auf die dann als „gemeinschaftlich“ betrachteten Behandlungsprozesse und Outcomes auswirken, muss erst noch gezeigt werden. Erkennbar wird, dass die Bildung von Gemeinschaften anhand der geteilten Patienten nicht zwingend mit beabsichtigter Kooperation der Akteure (Ärzte, Krankenhäuser) gleichgesetzt werden kann.
Ein interessantes Beispiel, wie Kooperation beschrieben und erkannt werden kann, geben Carson et al. [
30]. Mit Daten einer stationär genutzten elektronischen Patientenakte beschreiben die Autoren ein Modell zur Bewertung von Kooperationsbeziehungen zwischen allen am Behandlungsprozess beteiligten Ärzten und Pflegern („Versorger“). Dabei wurde die Interaktion der Beteiligten jeweils als paarweise Verbindung je geteiltem Patient erfasst und durch Behandlungsprozesse („activities“) und Outcomeparameter (Ergebnisse eines Patient-Satisfaction-Surveys) beschrieben. Zur Bewertung der Interaktionen entwickeln die Autoren das „shared positive outcome ratio“ (SPOR), das die beobachtete Anzahl risikoadjustierter Outcomes für die Interaktionen zweier Versorger im Vergleich zum erwarteten Outcome darstellt. Höhere SPOR-Werte wurden für Versorger gefunden, die eine größere Zahl von Interaktionen und geteilten Patienten aufwiesen [
30]. Dies legt aus Sicht der Autoren nahe, dass erfahrenere Versorger auch erfolgreicher kooperieren können. Zugleich zeigt die Studie, dass die meisten Versorger jeweils gleichzeitig in besser und schlechter bewertete Kooperationen eingebunden waren, die Qualität der Verbindungen sich somit in hohem Maße variabel darstellt.
Erste explorative Analysen in Deutschland
Stillfried und Czihal berichten erstmals von einer Darstellung virtueller Behandlernetzwerke auf der Grundlage vertragsärztlicher Abrechnungsdaten der Kassenärztlichen Vereinigungen [
31]. Die Autoren zielen primär auf die Bildung distinkter Patientenpopulationen ab und wählen dafür den „usual provider“ aus dem hausärztlichen Versorgungsbereich als Kristallisationspunkt der Netzwerkbildung. Alle weiteren Kontakte der Patienten zu anderen Vertragsärzten tragen zur Bildung der PSN bei, denen dann sämtliche vertragsärztlichen Leistungen und Outcomes der ambulanten Versorgung ihrer Patientenpopulationen zugerechnet werden können. Es zeigen sich ähnliche systematische Einflüsse wie in den USA: Eine höhere Morbidität der Patienten sowie eine städtische Umgebung sind tendenziell mit größeren PSN assoziiert. Die Ausprägungen prozessbezogener Qualitätsindikatoren (z. B. Diabetespatienten mit HbA1c-Messung, Einsatz bildgebender Verfahren bei Patienten mit Rückenschmerzen) weisen hingegen eine wesentlich höhere Varianz zwischen den PSN als räumliche Bezüge auf. Dieser Befund spricht tendenziell gegen die These, dass der Wohnort von Patienten schicksalhaft über deren Versorgungsqualität entscheide [
32].
Indikationsspezifische Anwendungen zeigen, dass die Netzwerkanalyse Besonderheiten der Versorgungsstrukturen aufdecken und so Ansatzpunkte für gezielte Nachforschungen und Verbesserungsmaßnahmen liefern kann. Riens und Bätzing-Feigenbaum nutzen hausarztbasierte PSN zur Analyse der ärztlichen Versorgung von Patienten mit Herzinsuffizienz [
33]. Zwischen den PSN bestehen erhebliche Unterschiede in der Verordnung der in den Leitlinien empfohlenen Wirkstoffe. Daneben werden systematische Unterschiede in der Behandlung männlicher und weiblicher Patienten (durchgängig geringere Leitlinienadhärenz für weibliche Patienten) sowie regionale Unterschiede (höhere Wahrscheinlichkeit einer leitliniengerechten Verordnung in den neuen Bundesländern) deutlich. Für geschlechtsspezifische Verordnungsunterschiede finden sich plausible Gründe (vgl. [
34]). Der Vergleich zwischen den PSN offenbart jedoch erhebliche Niveauunterschiede, die Raum für Verbesserungen zulassen. Dies reflektiert Ergebnisse von Bynum et al. zur Analyse der Leitlinienadhärenz in der Diabetesbehandlung in den USA [
35]. Stillfried et al. untersuchen mit hausarztbasierten PSN regionale Besonderheiten der Demenzversorgung [
36]. Dies offenbart, dass die Mehrheit der Demenzpatienten in PSN behandelt wird, die wenige prävalente/inzidente Demenzpatienten versorgen. Die Zahl der Patienten je PSN ist mehrheitlich so gering, dass diese PSN als Gruppe zusammengefasst werden müssen, um systematische Effekte zu erkennen. Eine Minderheit der Demenzpatienten hingegen wird durch PSN versorgt, in denen die hausärztlichen Praxen einen Versorgungsschwerpunkt Demenz aufweisen. Auffällig sind die von der Zahl der Demenzpatienten je PSN und dem Spezialisierungsgrad der Hausarztpraxen abhängigen Unterschiede in Diagnose- und Therapiemustern. Während Patienten in PSN mit geringem Demenzfokus häufiger Antidementiva, aber auch oft Antipsychotika erhielten, wichen PSN mit hohem Demenzfokus systematisch von Leitlinienempfehlungen zur Antidementivaverordnung ab, verordneten aber auch seltener Antipsychotika. Bei gleichem Grundmuster lassen sich zudem regionale Ausprägungen bei Diagnostik und Therapie erkennen.
Koller et al. (2015) und Schang et al. (2017) haben über Vorarbeiten zur PSN-Analyse unter Einbeziehung von Abrechnungsdaten aus der stationären Versorgung referiert [
37,
38]. Hierbei werden auf Basis der Daten einer Kassenart erstmals auch indikationsspezifische, krankenhausbasierte PSN für Deutschland ermittelt. Die Autoren berichten z. B. für die Behandlung von Herzinsuffizienzpatienten erhebliche Unterschiede in der Häufigkeit stationärer Aufnahmen zwischen den PSN, die den Befunden von Stukel et al. in Ontario entsprechen [
39].
Die vorgenannten Untersuchungen verdeutlichen, welche Möglichkeiten bestehen, um Prozesse in der Versorgung zu verbessern. Sie werfen die Frage auf, in welchem Umfang die beobachteten Behandlungsmuster in den PSN statisch bzw. veränderlich oder beeinflussbar sind. Die bisherigen Vorarbeiten haben daher zu einer erfolgreichen Antragstellung für ein vom Innovationsfonds zu förderndes Versorgungsforschungsprojekt geführt. Das Projekt „Accountable Care in Deutschland“ zielt darauf ab, in rund 400 randomisiert ausgewählten PSN beabsichtigte Kooperationsprozesse zur Reduktion vermeidbarer Krankenhausaufenthalte zu stimulieren. Die Eignung von PSN als Plattform, um gezielte Veränderungen von Versorgungsabläufen für eine Patientenpopulation umzusetzen, ist Gegenstand der Evaluation [
40].
Diskussion
Die hier vorgestellten Analysen zeigen, dass es grundsätzlich möglich ist, regionale Unterschiede in der Versorgung auf das Handeln einzelner Personen, Patienten und Behandler zurückzuführen. Sofern die erforderlichen Daten vorliegen, ergibt sich hieraus ein Gestaltungsauftrag, die an der Versorgung Beteiligten in die Lage zu versetzen, unerwünschte Prozesse oder Outcomes nach Möglichkeit zu vermeiden. In Gesundheitssystemen mit einem strengen Gatekeepersystem und regionaler Zuständigkeit sind die methodischen Anforderungen hierzu geringer als in Versicherungssystemen, in denen die Versicherten nicht auf die Inanspruchnahme jeweils eines regional zugeordneten Primärversorgers verpflichtet sind. Dort entstehen durch freie Arztwahl und die hieraus resultierende gemeinsame Behandlung von Patienten außerordentlich komplexe Beziehungen zwischen den an der Versorgung beteiligten Einrichtungen. Die Frage, welche Bedeutung diese Beziehungen für die Versorgungsqualität im Alltag haben, wird bisher vorwiegend unter dem Gesichtspunkt der Koordination der Versorgung untersucht; wenig überraschend wird die Bedeutung einer guten Abstimmung bzw. eines ärztlichen Koordinators insbesondere bei chronisch kranken Patienten empirisch belegt [
49‐
51]. Hierbei bleibt allerdings offen, welche Faktoren eine gute Koordination der Versorgung bewirken.
Die Analyse der Eigenschaften, Kooperationsbeziehungen und Outcomes der sich selbst organisierenden virtuellen Behandlernetzwerke, hier als PSN bezeichnet, hat unseres Erachtens das Potenzial, diese Lücke zu schließen und die Analyse räumlicher Versorgungsunterschiede sinnvoll zu ergänzen. Hierbei stehen vor allem zwei Fragen im Vordergrund: 1. Inwieweit sind geografische Unterschiede in der Versorgung auf Eigenschaften der geografischen Räume zurückzuführen? 2. Wie können die in bestimmten geografischen Regionen gefundenen unerwünschten Besonderheiten der Versorgung verändert werden? Wie auch bei der Analyse geografischer Besonderheiten sind hierbei Abrechnungsdaten am besten geeignet, ein möglichst vollständiges Bild der Versorgung im Alltag zu zeichnen. Notwendig ist jedoch das Vorliegen eines (pseudonymisierten) Versicherten- und Leistungserbringerbezugs, damit das durch parallele oder sequenzielle Behandlungen derselben Patienten entstehende Beziehungsgeflecht zwischen Versorgungseinrichtungen dargestellt werden kann.
Die bisherigen Arbeiten zur Darstellung und Analyse der PSN versprechen, dass durch diese Herangehensweise auf beide Fragen Antworten gefunden werden können. So weisen strukturelle Unterschiede zwischen PSN in unterschiedlichen Regionen auf die Bedeutung von Rahmenbedingungen hin. Wichtiger ist, dass durch die Identifikation von PSN potenziell konkrete Ansprechpartner erkennbar werden, um in einzelnen Regionen konkrete Maßnahmen zur Reduzierung unerwünschter Besonderheiten bzw. zur Verbesserung der Versorgung zu implementieren.
Erste Ansätze in diese Richtung in den USA und Kanada zielten daher darauf, Informationsgrundlagen für die Bildung von Accountable-Care-Organisationen zu schaffen, indem den infrage kommenden Versorgern Transparenz über ihre Bedeutung als „usual provider“ für eine bestimmte Patientenpopulation vermittelt wird. Damit soll einerseits die Bildung neuer Organisationsstrukturen und andererseits die Darstellung der gemeinsam erzielten Versorgungsqualität unterstützt werden. Für Letzteres ist die Abbildung einer möglichst distinkten Patientenpopulation erforderlich, deren Versorgung primär im Verantwortungsbereich des jeweiligen PSN liegt. Diese Ansätze basieren insofern auf einer normativen Auswahl von Vernetzungszentren, zumeist ein Krankenhaus oder ein Hausarzt, denen nach dem Prinzip des „usual provider“ Patienten und die von diesen Patienten ebenfalls in Anspruch genommenen Versorgungseinrichtungen zugeordnet werden. Damit werden die faktisch erfolgten Inanspruchnahme- und Kooperationsbeziehungen nach dem Muster eines fiktiven Primärarztsystems geordnet.
Die Stärke dieses Verfahrens besteht insbesondere darin, dass die versicherte Population nicht mehr nach dem Wohnort, sondern nach Art ihrer Inanspruchnahme bzw. Versorgung in distinkte Subpopulationen aufgeteilt werden kann. Allerdings können sich bestimmte Versorgungseinrichtungen dann als Mitglied in mehr als einem PSN wiederfinden. Eine weitere Schwäche offenbart sich im Vergleich zu PSN, die mittels Community-Detection-Algorithmen auf Basis der graphentheoretischen Modelle gebildet werden. Diese PSN sind sowohl in Größe und Zusammensetzung wesentlich heterogener als die nach dem Prinzip des „usual provider“ normativ gebildeten PSN. So finden sich z. B. große Netzwerke mit vielen Hausarztpraxen und Krankenhäusern, andere Netzwerke gänzlich ohne diese. Dies spricht dafür, dass Ansätze, die von definierten Kristallisationspunkten (z. B. Krankenhaus, Hausarzt) oder als relevant definierten Kooperationspartnern (z. B. Hausarzt und Internist) ausgehen, viele Inanspruchnahme- und Kooperationsprozesse ausblenden, die im Versorgungsalltag Bedeutung haben können.
Sowohl die normativen als auch die graphentheoretisch fundierten Methoden der Identifikation von PSN haben ihre Limitationen. Keines der Verfahren liefert letztlich „wahre“ Gemeinschaften. Die Anwender graphentheoretisch fundierter Verfahren dürften sich der enormen Komplexität der Aufgabe aber stärker bewusst sein. Denn die Identifikation der Zusammengehörigkeit einer bestimmten Gemeinschaft kann aus der Fülle der in der Versorgungsrealität faktisch vorliegenden Beziehungen letztlich nicht mit Sicherheit, sondern nur durch Vergleich mit einer angenommenen zufälligen Verteilung der Beziehungen bestimmt werden. Die PSN sollten insofern nur als Instrumentalvariablen, z. B. für weitergehende Analysen oder einen Dialog mit den Beteiligten über Art und Umfang ihrer Kooperation, genutzt werden. Die Schwächen der graphentheoretisch fundierten Verfahren bestehen darin, dass unter Nutzung, z. B. der vollständigen Abrechnungsdaten einer KV-Region, teilweise sehr große PSN von mehreren hundert Praxen resultieren. Um eine größere Trennschärfe zu erreichen, muss die Zahl der mindestens gemeinsam behandelten Patienten erhöht werden. Damit werden bestimmte Teile des versorgten Patientenkollektivs ausgeblendet. Zudem sind die Patientenkollektive der mit Community-Detection-Algorithmen gefundenen PSN nicht überschneidungsfrei. Versorgungsergebnisse eines PSN können somit nicht eindeutig dem Verhalten von Patienten oder der Versorger eines bestimmten PSN zugerechnet werden.
Wenn die Arztpraxen bzw. Versorgungseinrichtungen als Akteure definiert werden, liegt es in der Methode der graphentheoretisch fundierten Verfahren, die PSN im Hinblick auf die Leistungserbringer tendenziell überschneidungsfrei abzuleiten. Uns ist bisher keine Anwendung bekannt, bei der die Patienten als Akteure definiert werden, um ein umgekehrtes Bild („doctor-sharing network“) zu erzeugen. Denkbar wäre, dass dann in einem weiteren Schritt beide Abbildungen zusammengeführt werden, um möglichst distinkte Praxisgemeinschaften mit möglichst distinkten Patientenpopulationen zu identifizieren.
Trotz ihrer Limitationen können Netzwerkanalysen dazu beitragen, räumliche Besonderheiten von nichträumlichen systematischen Effekten (z. B. geschlechtsspezifische Besonderheiten in der Versorgung) und individuellem Verhalten abzugrenzen. Eine besonders große oder geringe Varianz der Prozess- oder Outcomeparameter (z. B. Häufigkeit empfohlener Untersuchungen, Häufigkeit von Krankenhausaufnahmen) zwischen den PSN einer Region stellt bereits eine regionale Besonderheit dar und liefert Hinweise darauf, welche Versorgergemeinschaften und ggf. welche Patientenpopulationen näher untersucht, welche Mitglieder bestimmter PSN informiert und ggf. für Maßnahmen eines populationsbezogenen Qualitätsmanagements gewonnen werden sollten. Damit könnten netzwerkanalytische Verfahren dazu beitragen, aus regionalen Versorgungsunterschieden wirksame Gestaltungsaufträge zur Weiterentwicklung von Versorgungsstrukturen und -prozessen abzuleiten.
Die zeitliche Variabilität von Prozessparametern innerhalb der PSN, die am Beispiel der HbA1c-Messung bei Diabetespatienten in der vertragsärztlichen Versorgung dargestellt wurde, spricht für eine grundsätzliche Beeinflussbarkeit der populationsbezogenen Mittelwerte durch die PSN; das Potenzial für eine gezielte Veränderung, z. B. durch Anstreben eines Zielwerts für die gemeinsam behandelte Patientenpopulation, muss jedoch je nach Sachzusammenhang bestimmt werden. Aufgrund der bekannten Substitutionseffekte in der medizinischen Arbeitsteilung zwischen Ärzten unterschiedlicher Fachgruppen, ärztlichen Leistungen und verordneten bzw. veranlassten Leistungen sowie zwischen der ambulanten und der stationären Versorgung [
52‐
54] sind hierfür unbedingt patientenvollständige, sektorenübergreifende Datengrundlagen wünschenswert, um Fehlschlüsse zu vermeiden.
Hierbei ermöglichen beide Verfahren, der normative und der graphentheoretisch fundierte Ansatz, den in der Versorgung aktiven Ärzten einen Überblick über ihre Stellung im Versorgungssystem aus der „Vogelperspektive“ zu geben. Anzunehmen wäre, dass die graphentheoretisch hergeleiteten PSN eher der individuellen Wahrnehmung der Betroffenen entsprechen. Bisher liegen jedoch noch keine vergleichenden Analysen dazu vor, wie ein entsprechendes Feedback von Ärzten und Krankenhäusern im Alltag aufgenommen wird. Ebenso wenig ist bekannt, ob und wie die Versorger in den PSN die Zurechnung von Versorgungsergebnissen akzeptieren oder wie sie die entsprechenden Informationen für abgestimmte Interventionen nutzen können.
Spätestens zu dem Zeitpunkt, an dem eine Intervention zur Verbesserung von Versorgungsabläufen angestrebt wird, wird es notwendig sein, besser zwischen beabsichtigten Kooperationsbeziehungen und unbeabsichtigtem „patient-sharing“ und ihren jeweiligen Versorgungsergebnissen zu unterscheiden. Überweisungen, Einweisungen und Arztbriefe können mögliche Hinweise auf beabsichtigte Kooperationsbeziehungen sein, deren Bedeutung für populationsbezogene Outcomes noch weiter erhärtet und die durch weitere Indikatoren einer intendierten und erfolgreichen Zusammenarbeit ergänzt werden sollten. Anhand der Routinedaten für die vertragsärztliche Versorgung in Deutschland haben wird dargelegt, dass die Beziehungsgeflechte, die allein auf Basis von Überweisungen zustande kommen bzw. unter Nutzung von Arztbriefen zur gegenseitigen Kommunikation entstehen, strukturelle Unterschiede sowohl in geografischer Hinsicht als auch zwischen den PSN aufweisen. Anhand der Routinedaten lassen sich erste Hinweise für einen Zusammenhang zwischen einem höheren Anteil von Patienten mit Arztbriefen und Ausprägungen von Indikatoren der Prozessqualität je PSN finden, wobei dies bisher nur für hausarztbasierte PSN (ohne Anwendung graphentheoretisch fundierter Verfahren) gezeigt wurde. Entsprechende strukturelle Unterschiede können in weiteren Analysen genutzt werden, um auf Effekte beabsichtigter Kooperationen im Hinblick auf Prozess- und Ergebnisqualität zu schließen. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass es – wie die Studie von Carson et al. zeigt [
30] – auch im Rahmen beabsichtigter Kooperationsbeziehungen je nach Akteuren zu Unterschieden in Prozess- und Ergebnisqualität in der Versorgung kommen kann.
Bei der Abbildung von Qualitätsdimensionen zeigen sich allerdings schnell Grenzen der Abrechnungsdaten. Da diese Daten insbesondere bei pauschalierten Vergütungssystemen stark aggregiert sind und keine Befunddaten enthalten, kann ein erheblicher Teil der Qualitätsindikatoren mit abrechnungsbezogenen Routinedaten nicht abgebildet werden. Zudem bestehen Einschränkungen der Validität für die Qualitätsmessung, die bei einer Verwendung von Routinedaten als Grundlage für ein Feedback zur Verbesserung der Versorgungsqualität berücksichtigt werden müssen [
55]. Das Feedback anhand von Routinedaten ist daher nur als ein erster Schritt in einem Dialog mit Praxen und Krankenhäusern zu sehen, der umgekehrt den beteiligten Versorgungsforschern wertvolle Hinweise zum besseren Verständnis ihrer Daten geben wird.
Es wird erwartet, dass einige der hier aufgeworfenen methodischen Fragen zur Identifikation von PSN sowie zur instrumentellen Bedeutung von PSN für Interventionen im Versorgungsalltag im Rahmen des bereits zitierten, vom Innovationsfonds geförderten Projekts „Accountable Care in Deutschland“ beantwortet werden können.