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Erschienen in: Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 2/2014

01.02.2014 | Leitthema

Welchen Beitrag liefern funktional definierte Populationen zur Erklärung regionaler Unterschiede in der medizinischen Versorgung?

verfasst von: Dr. D. Graf von Stillfried, T. Czihal

Erschienen in: Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz | Ausgabe 2/2014

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Zusammenfassung

Regionale Unterschiede in der medizinischen Versorgung finden zunehmend Eingang in die gesundheitswissenschaftliche und -politische Diskussion. In der Bedarfsplanung werden sachgerechte Determinanten der Angebotsstruktur diskutiert, Versorgungsatlanten thematisieren auch regionale Unterschiede der Inanspruchnahme und der Versorgungsqualität. Beide Ansätze gehen in der Regel von geografisch definierten Populationen aus. Die Wahl eines geografischen Populationsbezugs als Planungs- und Monitoringansatz erscheint insbesondere in Sozialversicherungssystemen sinnvoll, in denen regionsübergreifend ein einheitlicher Leistungsanspruch besteht. Allerdings weist die Literatur zu kleinräumigen Versorgungsunterschieden (small area variation) darauf hin, dass insbesondere divergente Behandlungsstile einzelner Versorgungseinrichtungen als wesentlicher Einflussfaktor zu berücksichtigen sind. Um inhaltlich definierte Versorgungsziele durch Kapazitätsplanung und/oder Qualitätsmanagement zu erreichen, muss ein Zusammenhang zwischen dem Versorgungsbeitrag einzelner Versorgungseinrichtungen und einem geografischen Populationsbezug hergestellt werden können. Dies stellt insbesondere in den Gesundheitssystemen ein methodisches Problem dar, in denen freie Arztwahl und weder Einschreibung der Patienten noch geografisch definierte Verantwortungsbereiche für Versorgungseinrichtungen bestehen. Im vorliegenden Beitrag wird kritisch hinterfragt, ob geografische Abgrenzungen von Populationen für sich genommen ausreichend geeignet sind, um handlungsleitende Informationen zur Verringerung regionaler Versorgungsunterschiede zu generieren. Als alternativer Ansatz wird eine funktionale, d. h. aus dem Versorgungsalltag resultierende Abgrenzung von Populationen vorgestellt, die aus den USA adaptiert wurde. Grundlage der empirischen Analysen sind die vollständig pseudonymisierten vertragsärztlichen Abrechnungsdaten des Jahres 2010. Ausgehend von der Definition einer primär-versorgenden Praxis werden rd. 43.000 verschiedene und distinkte Populationen gebildet. Die an der Versorgung dieser Populationen beteiligten Praxen werden als (virtuelle) Versorgungsgemeinschaft bezeichnet. Die funktional abgegrenzten Populationen und Versorgungsgemeinschaften werden auf regionstypische Gemeinsamkeiten und Unterschiede analysiert. Die Ergebnisse für exemplarisch analysierte Versorgungsindikatoren (HbA1c-Bestimmung bei Diabetikern; bildgebende Diagnostik bei Rückenschmerzen) zeigen für die funktional abgegrenzten Populationen eine größere Variationsbreite als für geografisch definierte Populationen. Aus der Heterogenität können Rückschlüsse auf die Gestaltbarkeit der Versorgungsabläufe zur Verringerung unerwünschter regionaler Unterschiede gezogen werden. Regionale Analysen sollten daher – wenn möglich – um die Betrachtung funktional abgegrenzter Populationen ergänzt werden. Die Methode muss hierzu weiterentwickelt werden.
Fußnoten
1
Wennberg J, Gittelsohn A (1973) Small area variations in health care delivery. Science 182(4117):1102–1108.
 
2
Kistemann T et al (2011) Der räumliche Blick auf Gesundheit. Dtsch Ärztebl 108(8):A386–387; vgl. auch http://www.dartmouthatlas.org/downloads/international/WICBibliography.pdf; Westert G et al (2004) Medical practice variations in hospital care; time trends of a spatial phenomenon. Health Place 10(3):215–220, sowie die aktuelle Gutachtenserie des Institute of Medicine, z. B. Williard G. Manning, et al – Explaining geographic variation in health care spending, use and quality, and associated methodological challenges. Revised IOM Report. May 18, 2012; http://www.iom.edu/Reports/2013/Geographic-Variation-in-Health-Care-Spending-and-Promotion-of-High-Care-Value-Interim-Report.aspx.
 
3
Vgl. Wennberg J et al (1998) The Dartmouth atlas of health care 1998; Dartmouth Medical School, New Hampshire, Kapitel 7: Which rate is right? How much is enough? And what is fair? Vgl. auch Appleby J et al (2011) Variations in health care – the good, the bad, and the unexplicable. The Kings Fund, London.
 
4
Vgl. Sirovich B et al (2008) Discretionary decision making by primary care physicians and the cost of U.S. health care. Health Affairs 27(3):813–823, und Veroff D et al (2013) Enhanced support for shared decision making reduced costs of care for patients with preference-sensitive conditions. Health Affairs 32(2):285–293
 
5
Vgl. zur kulturellen Dimension Payer L (1988) Medicine and culture: Varieties of treatment in the United States, England, West Germany, and France. New York sowie ein aktuelles Projekt der OECD (http://www.oecd.org/els/health-systems/medicalpracticevariations.htm).
 
6
Vgl. exemplarisch Dartmouth atlas of health care (http://www.dartmouthatlas.org), NHS atlas of variation (http://www.rightcare.nhs.uk/index.php/nhs-atlas), Zwakhals S et al (2013) The Dutch national atlas of public health and health care. Kartografische Nachrichten 1: 27–31 (http://www.zorgatlas.nl).
 
7
Vgl. Stillfried/Czihal (2011): Polysomnographie – Was wissen wir über die Versorgungslage in Deutschland. http://www.versorgungsatlas.de.
 
8
Ein John Wennberg zugeschriebenes Zitat, vgl. z. B. Mayer J (2011) In health care, geography is destiny. Department of Geography, University of Washington. http://depts.washington.edu/geog/2011/03/in-health-care-geography-is-destiny/.
 
9
Vgl. Czihal et al (2012): Regionale Mitversorgungsbeziehungen in der ambulanten Versorgung. http://www.versorgungsatlas.de.
 
10
Vgl. z. B. Fisher ES et al (2007) Creating accountable care organizations: The extended hospital medical staff. Health Affairs 26(1):w44–w57; Shahian DM, Normand SL (2008) Comparison of „risk-adjusted“ hospital outcomes. Circulation 117(15):1955–1963.
 
11
Vgl. z. B. Schulz/Mangiapane (2013): Masernimpfung bei Kindern bis zu einem Alter von zwei Jahren. http://www.versorgungsatlas.de.
 
12
Vgl. z. B. die Zielsetzungen des NHS-Atlas (http://www.rightcare.nhs.uk), Ziele der Bertelsmann-Stiftung zum Portal Faktencheck Gesundheit (http://www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xchg/SID-A7E5B38D-274EA717/bst/hs.xsl/107204.htm) oder des Versorgungsatlas des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (http://www.versorgungsatlas.de/der-versorgungsatlas/unser-anspruch/).
 
13
Bynum J et al (2010) Measuring racial disparities in the quality of ambulatory diabetes care. Medical Care 48(12):1057–1063.
 
14
Bynum et al (2007) Assigning patients and their physicians to hospitals: A method for obtaining populations-based provider performance measurements. Health Services Res 42(1):45–62.
 
15
Vgl. auch das Konzept von „defined populations“, z. B. bei Gerlach F (2009) Zukunftskonzept des Sachverständigenrats: Von der sektoralen zur regional differenzierten populationsorientierten Versorgung (Vortrag). https://www.aok.de/assets/media/baden-wuerttemberg/pi_aok-baden-wuerttemberg_2009_10_07_referenten-vortrag_3.pdf (Zugegriffen 30.08.2013), sowie: Landon et al (2013) Using administrative data to identify naturally occurring networks of physicians. Medical Care 51(8):715–721.
 
16
Vgl. Institut des Bewertungsausschusses (2010) Bericht zur Schätzung der Morbiditätsveränderung 2010, abrufbar unter http://www.institut-des-bewertungsausschusses.de/publikationen/Bericht_SchaetzungMorbiditaetsveraenderung2010.pdf (Zugegriffen: 30.08.2013).
 
17
Analog: Darstellung des RSA-Risikofaktors in Drösler S et al (2011) Evaluationsbericht zum Jahresausgleich 2009 im Risikostrukturausgleich, S. 41 ff. Veröffentlicht durch das Bundesgesundheitsministerium unter https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/dateien/Publikationen/Gesundheit/Forschungsberichte/Evaluationsbericht_zum_Jahresausgleich.pdf (Zugegriffen: 30.08.2013).
 
18
Vgl. die bis 2011 übliche Einteilung des BBSR in 9 Kreistypen (http://statistik.arbeitsagentur.de/Statischer-Content/Statistische-Analysen/SGBII-Kennzahlen-Archiv/Generische-Publikationen/Siedlungsstrukturelle-Kreistypen-200808-200905.pdf, zugegriffen: 30.08.2013) wurde hier wie folgt zusammengefasst: städtische Kreise = 1, 5; verdichtete Kreise = 2, 3, 6, 8; ländliche Kreise = 4, 7, 9.
 
19
Vgl. zum Konzept der Area-Level-Indikatoren z. B. http://qualityindicators.ahrq.gov.
 
20
Ulrich W et al (2007) Diabetes Stoffwechsel Herz 16(6): 407–414.
 
21
http://www.versorgungsleitlinien.de/themen/kreuzschmerz.
 
22
Vgl. hierzu die zitierten Beiträge von Fisher et al (2007) und Landon et al (2013).
 
23
Vgl. z. B. Darstellung der überregionalen Mitversorgungsfunktion von Ballungszentren für das Umland auf http://www.versorgungsatlas.de.
 
24
Vgl. DMP-Qualitätsbericht Nordrhein 2011.
 
25
Wir verweisen in diesem Zusammenhang auf die im P4P-Gutachten der BQS wiederholt hervorgehobene sinnvolle Hierarchie möglicher Steuerungsinstrumente. Hierbei rangiert die Steuerung durch finanzielle Anreize weit hinter einer Steuerung durch Information und verlangt vollstes Verständnis der Zusammenhänge. Vgl. Veit CH et al (2012) Pay-for-Performance im Gesundheitswesen: Sachstandsbericht zu Evidenz und Realisierung sowie Darlegung der Grundlagen für eine künftige Weiterentwicklung. Gutachten im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit. http://www.bmg.bund.de/ministerium/presse/pressemitteilungen/2012-03/pay-for-performance-gutachten-vorgestellt.html (Zugegriffen: 12.10.2013).
 
26
Vgl. z. B. Horenkamp-Sonntag D et al (2012) Arztbezogene Qualitätsmessung: Potential von sektorenübergreifenden GKV-Routinedatenanalysen. Poster beim 11. Deutscher Kongress für Versorgungsforschung, Dresden. https://www.tk.de/centaurus/servlet/contentblob/481700/Datei/59692/Horenkamp-Sonntag-et-al-Poster-Arztbezogene-Qualitaetsmessung-2012.pdf (Zugegriffen: 30.08.2013).
 
Metadaten
Titel
Welchen Beitrag liefern funktional definierte Populationen zur Erklärung regionaler Unterschiede in der medizinischen Versorgung?
verfasst von
Dr. D. Graf von Stillfried
T. Czihal
Publikationsdatum
01.02.2014
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
Erschienen in
Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz / Ausgabe 2/2014
Print ISSN: 1436-9990
Elektronische ISSN: 1437-1588
DOI
https://doi.org/10.1007/s00103-013-1896-x

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