Wohlbefinden und Belastungen
In der DAWN2™-Studie können erstmals nicht nur die Situation von Betroffenen verschiedener Nationen, sondern auch das Erleben und die Belastungen von Menschen mit Diabetes und von Angehörigen miteinander verglichen werden. Dabei überrascht, dass sich Angehörige bezüglich des Wohlbefindens und der diabetesbezogenen Belastungen kaum Unterschiede zu Menschen mit Diabetes aufweisen.
Aus Studien ist bekannt, dass Menschen mit Diabetes eine eingeschränkte Lebensqualität, ein geringeres Wohlbefinden und eine erhöhte Depressionsrate aufweisen [
12,
13]. Dies bestätigte sich auch in der Auswertung der deutschen Stichprobe der Menschen mit Diabetes, bei denen im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung eine deutlich verminderte Lebensqualität und ein mehr als doppelt so hohes Depressionsrisiko vorlagen [
5]. Neu ist der Befund, dass auch bei Angehörigen, die selbst nicht an Diabetes erkrankt sind, das psychische Wohlbefinden deutlich reduziert ist. Bei immerhin 12–14 % der Familienangehörigen bzw. der Menschen mit Diabetes in Deutschland ist dieses so stark beeinträchtigt, dass sogar eine depressive Erkrankung wahrscheinlich ist. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass die Diabeteserkrankung nicht nur bei den Betroffenen selbst, sondern auch bei den Angehörigen deutlich negative Auswirkungen auf das psychische Wohlbefinden hat [
26].
Auch bei den diabetesbezogenen Belastungen fand sich eine überraschend hohe Übereinstimmung zwischen Menschen mit Diabetes und ihren Angehörigen in Deutschland. Die PAID-5-Scores sprechen sowohl bei den Betroffenen als auch bei den Angehörigen für eine mittlere diabetesbezogene Belastung, etwa jeder 4. berichtete jedoch einen erhöhten diabetesbezogenen Stress.
Einen großen Unterschied gibt es hinsichtlich der Sorgen vor Unterzuckerungen. Während Menschen mit Diabetes zu ungefähr 40 % angaben, sich wegen der Unterzuckerungen starke Sorgen zu machen, traf dies bei über 60 % der Angehörigen zu. Dies kann evtl. damit zusammenhängen, dass Angehörige sich gegenüber Hypoglykämien als hilflos erleben, da sie diese nicht steuern und kontrollieren können, die möglichen Folgen bei den Betroffenen jedoch miterleben. Auch könnte die Teilnahme an Diabetesschulungen durch Betroffene dazu beitragen, Kompetenzen im Umgang mit Unterzuckerungen zu erlernen, mit der Folge einer realistischeren Risikobewertung. Da Menschen mit Diabetes deutlich häufiger an einer strukturierten Diabetesschulung teilgenommen hatten als Angehörige, könnte dies die Unterschiede bezüglich der Sorgen vor Unterzuckerungen erklären [
20].
Angehörige sind v. a. durch Unterzuckerungen belastet
Wie bereits oben angeführt, beeinträchtig der Diabetes nicht nur das Leben des Betroffenen selbst, sondern auch viele Familienangehörige nehmen negative Auswirkungen der Erkrankung auf das Familienleben bzw. verschiedene andere Lebensbereiche wahr. Dies ist zwar bei Familien von Kindern und Jugendlichen mit Diabetes bekannt, überrascht jedoch bei Typ-2-Diabetes in diesem Ausmaß. Die Ansichten der Betroffenen und der Angehörigen hinsichtlich dieser negativen Auswirkungen der Erkrankung weisen, bezogen auf die einzelnen Lebensbereiche, sowohl Ähnlichkeiten als auch Unterschiede auf. So fühlen sich Menschen mit Diabetes in den Bereichen Gesundheit, Freizeit und Arbeit bzw. Ausbildung durch die Erkrankung stärker beeinträchtigt als Familienangehörige, während die sich Einschätzungen bezüglich des emotionalen Wohlbefindens, der finanziellen Situation und der sozialen Beziehungen eher ähneln. Interessant ist, dass ein nicht geringer Anteil der Betroffenen negative Auswirkungen des Diabetes auf Beruf oder Ausbildung und auf die Freizeitgestaltung wahrnimmt.
Diabetes ist eine Familienangelegenheit
Die Ergebnisse von Familienangehörigen der globalen und der entsprechenden deutschen Stichprobe zeigten ein vergleichbares psychisches Wohlbefinden, allerdings berichteten die deutschen Familienangehörigen über eine geringere Belastung durch den Diabetes. Dies korrespondiert recht gut mit den Ergebnissen der Befragung der Betroffenen zu wahrgenommenen diabetesbezogenen Belastungen. Auch diese waren in der deutschen gegenüber der globalen Stichprobe geringer. Möglicherweise wirkt sich diese niedrigere Belastung der Betroffenen in Deutschland auch positiv auf die Familienangehörigen aus.
In Deutschland sind die Belastungen aufgrund des Diabetes geringer
Interessanterweise fühlten sich die deutschen Angehörigen durch die Unterstützung des Familienmitglieds beim Diabetesmanagement stärker belastet als Angehörige in der globalen Stichprobe. Fast 2/3 der Familienangehörigen in Deutschland und in der globalen Stichprobe berichteten, dass sie sich große Sorgen machen, dass der Partner mit Diabetes unterzuckern könnte. Bei den Auswirkungen der Diabeteserkrankung auf verschiedene Aspekte des Lebens gaben die Familiengehörigen sowohl der deutschen als auch der globalen Stichprobe einen vergleichbaren negativen Einfluss des Diabetes auf körperliche Gesundheit, Beziehungen zu Freunden, Freizeitaktivitäten, Arbeit oder Studium, emotionales Wohlbefinden oder den Beziehungen zu dem Familienangehörigen mit Diabetes an. Einzige Ausnahme war das Ausmaß der finanziellen Belastung durch den Diabetes, die von den Angehörigen der in Deutschland lebenden Menschen mit Diabetes als geringer wahrgenommen wurde als von den Familienangehörigen der globalen Stichprobe. Dies könnte mit einem im Vergleich zu vielen anderen Ländern, in denen die DAWN2™-Studie durchgeführt wurde, vergleichsweise guten Gesundheitssystem in Deutschland zusammenhängen [
7].
Soziale Unterstützung
Mit der DAWN2™-Studie liegen erstmals auch Informationen zur sozialen Unterstützung sowohl aus der Sicht der Menschen mit Diabetes als auch aus der ihrer Familienangehörigen vor. Dabei wird deutlich, dass die verschiedenen Aspekte der Unterstützung seitens der Betroffenen und der Angehörigen teilweise sehr unterschiedlich gesehen und bewertet werden. Dies zeigt sich z. B. deutlich, wenn Angehörige dem Familienmitglied sagen, dass es seinen Diabetes nicht gut im Griff hat, oder wenn Angehörige Dinge übernehmen, die für das Diabetesmanagement getan werden müssen. Bei diesen Verhaltensweisen berichteten jeweils signifikant mehr Menschen mit Diabetes als Angehörige, dass dies häufig oder immer geschieht. Im positiven Fall erlebten Menschen mit Diabetes die Unterstützung als hilfreich und nützlich – ohne dass Angehörige dies selbst auch so wahrgenommen hätten. Im negativen Fall erlebten Betroffenen die Hilfe als Ermahnung, Kritik und Bevormundung – und die Angehörigen fühlten sich missverstanden und hilflos.
Die Familie ist die wichtigste Quelle der Unterstützung
Diese Diskrepanz spiegelt sich auch im Wunsch nach einer zukünftigen Einbindung von Angehörigen in die Diabetesversorgung des betroffenen Familienmitglieds wider. Während nur 11 % der Menschen mit Diabetes wünschten, dass Familienangehörige oder Partner stärker in die Diabetesbehandlung eingebunden sind, war dies bei mehr als 1/3 der Angehörigen der Fall. Andererseits erhofften sich 14 % der Menschen mit Diabetes eine geringere Beteiligung durch ihre Familienangehörigen, während sich nur 7 % der Angehörigen künftig weniger stark engagieren wollten. Somit ist der Wunsch nach sozialer Unterstützung bei vielen Angehörigen stärker als bei den betroffenen Familienmitgliedern mit Diabetes.
Die richtige Form der Unterstützung kann ein Streitthema sein
Positiv zu sehen ist allerdings, dass die große Mehrheit sowohl der Menschen mit Diabetes (57 %) als auch der Familienangehörigen (75 %) mit dem Ausmaß der erlebten Unterstützung zufrieden war. Besonders Patienten mit Typ-1-Diabetes erlebten ihre Familienangehörigen als wichtige Bezugspersonen für das Diabetesmanagement, in einem leicht geringeren Ausmaß gilt dies auch für Menschen mit Typ-2-Diabetes.
Die Ergebnisse machten aber auch deutlich, dass es nicht allen Familien gelingt, das richtige Ausmaß an sozialer Unterstützung zu bestimmen, mit dem sowohl die Betroffenen als auch die Familienangehörigen gleichermaßen zufrieden sind. Fast jeder zweite Angehörige wünschte sich, sein Familienmitglied emotional mehr zu unterstützen, und rund 1/3 der Angehörigen waren frustriert, weil sie nicht wussten, wie sie am besten helfen können. Hier deutet sich ein Konfliktpotenzial für die Paar- oder Familienbeziehungen an [
25]. Ein gegenseitiger Austausch und Gespräche über das richtige Ausmaß der sozialen Unterstützung könnten sicherlich helfen, eine wahrgenommene „Vernachlässigung“ bzw. „Bevormundung“ und „Übereifer“ durch Familienangehörige zu vermeiden und gemeinsam das richtige Maß an sozialer Unterstützung zu finden.
Schulung
Eine gemeinsame Schulung für Angehörige und Menschen mit Diabetes kann ebenfalls helfen, sich über das richtige Ausmaß an sozialer Unterstützung auszutauschen bzw. Anregungen zu erhalten, wie durch eine angemessene Unterstützung das gemeinsamen Leben mit der Erkrankung verbessert werden kann. Angehörige sehen die Möglichkeiten einer Schulung durchaus positiv, hier ergibt sich kein Unterschied zu den Betroffenen.
Mehr Schulung für Angehörige notwendig
Allerdings hatte nur jeder vierte Angehörige bisher Zugang zu einer Schulung erhalten. Angesichts des eingeschränkten Wohlbefindens und eines ähnlichen Belastungsgrads aufgrund des Diabetes wie die Betroffenen selbst, wäre eine höhere Schulungsrate sicher sinnvoll und von den Angehörigen auch gewünscht.