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Erschienen in: Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 5/2020

Open Access 01.05.2020 | Editorial

Wie viel Mythos verträgt die moderne Medizin und wie viel (mehr) Evidenz braucht sie?

verfasst von: Prof. Dr. med. Dr. phil. Martin Härter, Prof. Dr. med. Dr. phil. Uwe Koch-Gromus

Erschienen in: Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz | Ausgabe 5/2020

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Ein Mythos (altgriechisch: „μῦθος“ = Laut, Rede, Erzählung, sagenhafte Geschichte, lateinisch: „mythus“) ist in seiner ursprünglichen Bedeutung zunächst eine Erzählung. Im religiösen Mythos wird z. B. das Dasein der Menschen mit der Welt der Götter oder Geister verknüpft [1]. Mythen erheben häufig einen Geltungsanspruch für die von ihnen behauptete Wahrheit. Kritik an diesem Wahrheitsanspruch wird schon seit der griechischen Aufklärung, z. B. bei den Vorsokratikern, geübt. Für die sog. Sophisten (alle, die für ihre „Weisheit“ berühmt waren) steht der „Mythos“ im Gegensatz zum „Logos“, welcher durch verstandesgemäße Beweise versucht, die Wahrheit seiner Behauptungen zu begründen.
Evidenz bezeichnet hingegen das dem Augenschein nach unbezweifelbar Erkennbare oder die unmittelbare, mit besonderem Wahrheitsanspruch auftretende vollständige Einsicht. In der modernen Wissenschaftstheorie bezeichnet der Begriff Evidenz zumeist diejenigen empirischen Befunde, die wissenschaftliche Theorien bestätigen oder aufgrund derer Bestätigungsversuche scheitern. Die evidenzbasierte Medizin (von englisch „evidence-based medicine“, „auf empirische Belege gestützte Heilkunde“, EbM) erhebt ausdrücklich die Forderung, dass bei einer medizinischen Behandlung patientenorientierte Entscheidungen nach Möglichkeit auf der Grundlage von empirisch nachgewiesener Wirksamkeit der eingesetzten Verfahren getroffen werden sollen. Sie wird als der „gewissenhafte, ausdrückliche und umsichtige Gebrauch der aktuell besten Beweise für Entscheidungen in der Versorgung eines individuellen Patienten“ verstanden [2]. EbM beruht demnach auf dem jeweiligen aktuellen Stand der klinischen Medizin auf der Grundlage klinischer Studien und medizinischer Veröffentlichungen, die einen Sachverhalt erhärten oder widerlegen – die externe Evidenz.
Die Medizin und unsere Gesundheitsversorgung stehen seit vielen Jahren unter der Selbstverpflichtung, dass nur noch evidenzbasierte diagnostische und therapeutische Verfahren, zumindest in der mittelfristigen Perspektive, zur Anwendung kommen und von der Solidargemeinschaft finanziert werden sollen. Demgegenüber stehen Wünsche und Erwartungen von Patienten und Leistungserbringern, die sich nicht unbedingt am Kriterium nachgewiesener Evidenz orientieren. Zum Teil wird in diesem Kontext auch die Angemessenheit der Forderung nach Evidenzbasierung selbst infrage gestellt und auf die begrenzte Eignung (schul-)medizinischer Forschungsansätze verwiesen.
In diesem Themenheft werden ausgewählte, in der Gesundheitsversorgung weitverbreitete diagnostische und therapeutische Interventionen hinsichtlich ihres theoretischen Hintergrunds bzw. Modells, ihrer Anwendung, ihrer Vor- und Nachteile, ihrer Evidenz und ihres Kosten-Nutzen-Verhältnisses analysiert und kritisch diskutiert. Bei der Auswahl der Themen, die im Rahmen eines solchen Schwerpunktheftes nur beispielhaft erfolgen kann, wurden die unterschiedliche Art der Interventionen und die vorliegende Varianz auf einem „Kontinuum“ zwischen Mythos und Evidenz berücksichtigt. Bei der Auswahl der Autoren und der Gestaltung der Beiträge haben wir darauf geachtet, dass diese das Themenheft weder als Forum für eine ausschließlich positive Darstellung des jeweiligen Bereiches noch für eine überkritische Präsentation nutzen. Bevorzugt wurden Autoren und Reviewer ausgewählt, die eine hohe Sachkompetenz bezüglich der zu diskutierenden Intervention aufweisen und die in der Lage sind, das Thema reflektiert aus unterschiedlicher Position heraus zu diskutieren.
Im ersten Teil werden spezifische medizinische Indikations- und Interventionsbereiche mit hoher Bedeutung für die Gesundheitsversorgung unter dem Spannungsbogen Mythos versus Evidenz betrachtet. Häufige und schwerwiegende chronische Erkrankungen wie Demenzen, Diabetes und Kreuzschmerzen sowie therapeutische Maßnahmen wie perkutane koronare Interventionen und die Behandlung von Krebspatienten mit Mistelpräparaten stehen hier im Fokus. Im zweiten Teil beschäftigen sich die Beiträge mit verschiedenen komplementären Behandlungsmethoden, die ein fester Bestandteil der Gesundheitsversorgung geworden sind, deren Abrechenbarkeit durch die gesetzlichen Krankenkassen aber meist kritisch beurteilt wird. Dennoch wird in manchen Fällen durch bestimmte Argumente die Finanzierung erlaubt (z. B. zwecks „Gewinnen oder Halten von Kunden“).
Demenzen gehören zu den am meisten gefürchteten Erkrankungen und haben aufgrund der demografischen Entwicklung eine hohe Relevanz für unser Sozialsystem. Frank Jessen (Bonn) stellt die Evidenz für die pharmakologische Prävention von kognitiven Verschlechterungen im Alter und von Demenzen im Rahmen einer Literaturübersicht und Zusammenfassung aktueller Studien zu verschiedenen Medikamenten, z. B. Antidementiva, auf den Prüfstand.
Obwohl Diabetes mellitus schon vor mehr als 3500 Jahren beschrieben wurde und Stoffwechselstörungen heute sehr viel besser diagnostiziert und behandelt werden können, leben traditionelle Fehleinschätzungen fort. In seinem narrativen Übersichtsbeitrag beschreibt Burkhard Göke (Hamburg) gängige Mythen zur Diabetesentstehung und -behandlung und stellt die aktuelle Evidenz für wirksame Therapieverfahren dar.
Während der Einsatz sog. perkutaner koronarer Interventionen beim Herzinfarkt sinnvoll ist, besteht bei der chronisch stabilen koronaren Herzerkrankung eine Diskrepanz von fehlender Studienevidenz einerseits und ihrem häufigen Einsatz in der Versorgung anderseits. Norbert Donner-Banzhoff (Marburg) belegt in seinem Beitrag die wichtige Rolle ärztlicher Kommunikation und sog. mechanistischer Narrative bzgl. der Wirksamkeit von koronaren Interventionen und beschreibt, welches Verzerrungs- und Manipulationspotenzial mit dieser Form der Kommunikation gegeben ist.
Bei Schmerzen im unteren Rücken, bei denen meist keine Grunderkrankung benannt werden kann, finden häufig diagnostische und therapeutische Prozeduren statt, die nicht evidenzbasiert sind. In ihrem narrativen Übersichtsbeitrag stellen Marcus Schiltenwolf und Martin Schwarze (Heidelberg) Mythos und Evidenz dieser Verfahren dar, beschreiben die dahinter liegenden Mechanismen und fordern zum Umdenken im Sinne einer interdisziplinären multimodalen Therapie, mit Stärkung der Eigenverantwortung, einer Besserung der körperlichen und psychosozialen Leistungsfähigkeit sowie der Förderung einer positiven Körperwahrnehmung, auf.
Mistelextrakte für Patienten mit einer Krebserkrankung stehen als zugelassene Arzneimittel zur Verfügung und werden häufig verordnet. Matthias Rostock (Hamburg) diskutiert die Evidenz der vorliegenden klinischen Studien in Bezug auf die Verlängerung der Überlebenszeit und der Lebensqualität der Patienten. Er plädiert dafür, sowohl die Verordnungsmöglichkeiten aufrechtzuerhalten als auch die wissenschaftliche Evaluation fortzuführen.
Die Homöopathie gehört in Deutschland zu den am häufigsten angewendeten alternativen Heilmethoden, die in der Fach- und Laienöffentlichkeit nicht selten kritische Diskussionen auslöst. Diese Kontroverse bildet sich in den zwei eingeladenen Beiträgen zur Homöopathie ab: In seinem Diskussionsbeitrag erörtert Norbert Schmacke (Bremen), warum die Homöopathie aus seiner Sicht nicht in die Gesundheitsversorgung gehören sollte und eher als „Glaubenskonzept“ außerhalb wissenschaftlicher Methoden zu verstehen ist. Erläutert werden die klinischen, rechtlichen und politischen Dimensionen der Homöopathiedebatte. Harald Walach (Berlin) kommentiert in seinem Diskussionsbeitrag diese kritischen Beschreibungen und Einschätzungen aus seiner Sichtweise.
Kilian Dräger (Hamburg) und Rainer Heller (Köln) stellen die osteopathische Medizin, die von Patientenseite einen großen Zuspruch erfährt, auf den Prüfstand. Das Verfahren kann einerseits als Mythos missverstanden werden, andererseits begründet es sich auf medizinische Erkenntnisse und insbesondere einer soliden Ausbildung. Die Studienlage zum Wirksamkeitsnachweis ist noch unklar; es bestehen aber wissenschaftliche Hinweise zu ihrer verantwortungsvollen Anwendung.
Carl-Hermann Hempen und Josef Hummelsberger (München) beschäftigen sich in ihrem Übersichtsbeitrag mit der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) als dem umfassendsten und weltweit am weitesten verbreiteten traditionellen Medizinsystem. Sie beschreiben, dass die TCM „aus der Grauzone des rein Mystischen herausgetreten zu sein“ scheint und welche Chancen sie für eine bessere Patientenversorgung bieten kann. Gleichzeitig ist aber weiter dringend eine umfassende und unabhängig geförderte Forschung erforderlich, um die Evidenzbasis zu erweitern.
Akupunktur ist ein häufig eingesetztes Therapieverfahren der Traditionellen Chinesischen Medizin, das in den letzten beiden Jahrzehnten wissenschaftlich intensiv untersucht wurde. Benno Brinkhaus und Kollegen (Berlin) stellen im Rahmen einer narrativen Übersichtsarbeit die Wirksamkeit, Therapiesicherheit und gesundheitsökonomische Relevanz der Akupunktur bei chronischen Schmerzerkrankungen und bei allergischen Erkrankungen dar.
Zum Schluss beschreibt Thomas Esch (Witten) im Rahmen einer selektiven Literaturrecherche einerseits die Entstehung der Mind-Body-Medizin (MBM) im Kontext historischer Entwicklungen, andererseits werden Bezüge zur Grundlagenforschung, inklusive neurobiologischer Belohnungs- bzw. Placeboprozesse, hergestellt. Die MBM steht im Zusammenhang mit Gesundheitsförderung und der Therapie chronischer, insbesondere lebensstilassoziierter Erkrankungen.
Die in diesem Schwerpunktheft enthaltenen Beiträge zeigen den Stand der Wissenschaft zu Mythen und Evidenz bei ausgewählten chronischen Erkrankungen und bei zahlreichen, oft kritisch diskutierten therapeutischen Ansätzen beispielhaft auf. Wir hoffen, dass die Leserinnen und Leser diese spannende Diskussion spüren, die wir als Herausgeber selbst bei der Vorbereitung des Heftes, der Zusammenstellung der Beiträge und durch die Rückmeldung der Gutachterinnen und Gutachter erfuhren. In diesem Sinne bedanken wir uns bei allen beteiligten Autoren für die interessanten Beiträge, die zeitnahe Finalisierung, den Gutachterinnen und Gutachtern für die konstruktiven Rückmeldungen sowie dem Redaktionsteam für die professionelle Begleitung des Heftes. Und nun wünschen wir Ihnen allen eine spannende Lektüre.
Ihre
Martin Härter und Uwe Koch-Gromus

Interessenkonflikt

M. Härter und U. Koch-Gromus geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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Literatur
1.
Zurück zum Zitat Armstrong K (2007) Eine kurze Geschichte des Mythos. dtv, München, S 7–16 Armstrong K (2007) Eine kurze Geschichte des Mythos. dtv, München, S 7–16
2.
Zurück zum Zitat Sackett DL, Rosenberg WM, Gray JA, Haynes RB, Richardson WS (1996) Evidence based medicine: what it is and what it isn’t. BMJ 312:71–72CrossRef Sackett DL, Rosenberg WM, Gray JA, Haynes RB, Richardson WS (1996) Evidence based medicine: what it is and what it isn’t. BMJ 312:71–72CrossRef
Metadaten
Titel
Wie viel Mythos verträgt die moderne Medizin und wie viel (mehr) Evidenz braucht sie?
verfasst von
Prof. Dr. med. Dr. phil. Martin Härter
Prof. Dr. med. Dr. phil. Uwe Koch-Gromus
Publikationsdatum
01.05.2020
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
Erschienen in
Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz / Ausgabe 5/2020
Print ISSN: 1436-9990
Elektronische ISSN: 1437-1588
DOI
https://doi.org/10.1007/s00103-020-03138-3

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