Häufige XLID-Gene
Die Mutationshäufigkeiten in den einzelnen XLID-Genen unterscheiden sich erheblich. Nur für wenige Gene sind Mutationen in mehr als 100 Familien beschrieben worden.
Mutationen in ATRX sind mit schwerer ID, Mikrozephalie und Hypotonie („X-linked mental retardation-hypotonic facies syndrome“, OMIM 309580) sowie in einigen Fällen zusätzlich auch mit erythrozytären HbH-Einschlusskörpern (Alpha-Thalassämie-Retardierungs-Syndrom, OMIM 301040) assoziiert. Es sind mehr als 200 Familien mit ATRX-Mutationen berichtet worden. ATRX-Mutationen können auch im weiblichen Geschlecht zu kognitiven Einschränkungen führen.
Das Coffin-Lowry-Syndrom (OMIM 303600) ist klinisch neben schwerer ID durch Kleinwuchs, grobe Gesichtszüge, prominente Lippen, Skoliose und spitz zulaufende Finger gekennzeichnet. Es wird durch Mutationen in RPS6KA3 verursacht und zählt mit über 150 berichteten Familien ebenfalls zu den häufigen XLID-Syndromen.
Das Simpson-Golabi-Behmel-Syndrom (OMIM 312870, Mutationen in GPC3) ist ein Makrosomie-Syndrom mit charakteristischen fazialen Merkmalen und variablen weiteren körperlichen Auffälligkeiten wie z. B. Herzfehler, Zwerchfellhernie, akzessorische Mamillen und Skelettanomalien. Die Ausprägung der Intelligenzminderung reicht von schweren Formen bis zu unauffälliger kognitiver Entwicklung. Es sind über 100 Familien publiziert worden.
Mutationen in SLC16A2 (MCT8), das für einen Schilddrüsenhormontransporter kodiert, sind mit dem Allan-Herndon-Dudley-Syndrom (OMIM 300523) assoziiert, einem Krankheitsbild mit schwerer ID, Mikrozephalie und Spastik. Die Unterfunktion dieses Hormontransporters hat erhöhte Werte für T3 bei erniedrigtem T4 im Serum zur Folge. Das Thyreoidea stimulierende Hormon (TSH) ist allerdings meist im Normbereich, und es liegt auch keine klinisch manifeste Hypothyreose vor. Inzwischen sind mehr als 100 Familien mit Allan-Herndon-Dudley-Syndrom publiziert worden.
Auch die SLC6A8-assoziierte Kreatintransporter-Defizienz (OMIM 300352) zählt mit mehr als 100 publizierten Familien zu den häufigen XLID-Syndromen. Die klinischen Merkmale umfassen neben schwerer ID u. a. Kleinwuchs, niedriges Körpergewicht, unterentwickelte Muskulatur, Hypotonie, Krampfanfälle und Verhaltensauffälligkeiten. In Blut und Urin liegt ein erhöhtes Verhältnis von Kreatin zu Kreatinin vor. Heterozygote Anlageträgerinnen für SLC6A8-Mutationen können Auffälligkeiten hinsichtlich Kognition und Verhalten haben.
Funktionsverlustmutationen in ARX sind mit Hirnfehlbildungen und Genitalanomalien („X-linked lissencephaly with ambiguous genitalia“, OMIM 300215) assoziiert. Bei mehreren großen Familien mit im Vergleich dazu eher unspezifischer Symptomatik, die neben ID auch Dystonie und Epilepsie umfassen kann (OMIM 300419 und 309510), wurde eine rekurrente 24-bp-Duplikation innerhalb des Polyalanin-Trakts von ARX nachgewiesen. Da diese Duplikation bei der NGS-Diagnostik nicht sicher erkannt wird, sind ARX-Mutationen möglicherweise unterdiagnostiziert. Bislang sind über 100 Familien mit der 24-bp-Duplikation beschrieben worden.
Gene mit mittlerer Häufigkeit
Gene mit mittlerer Prävalenz, für die Mutationen in mindestens 20 Familien berichtet worden sind, schließen u. a. CUL4B (Cabezas-Syndrom, OMIM 300354), OPHN1 (XLID mit zerebellärer Hypoplasie, OMIM 300486), KDM5C (Claes-Jensen-Syndrom, OMIM 300534), IL1RAPL1 (OMIM 300143), PQBP1 (Renpenning-Syndrom, OMIM 309500), MED12 (FG/Opitz-Kaveggia-Syndrom, OMIM 305450; Lujan-Fryns-Syndrom, 309520; Ohdo-Syndrom, OMIM 300895), SLC9A6 (Christianson-Syndrom, OMIM 300243) und PHF6 (Börjeson-Forssman-Lehmann-Syndrom, OMIM 301900) ein.
Punktmutationen in MECP2 sind nicht nur Ursache des Rett-Syndroms bei Mädchen, sondern werden auch bei männlichen Patienten beobachtet, wobei der klinische Schweregrad in Abhängigkeit von der Mutation von Enzephalopathie mit früher Letalität (OMIM 300673) bis zu moderater ID reicht (PPM-X-Syndrom, OMIM 300055). Das häufige MECP2-Duplikations-Syndrom wird unten im Kapitel Chromosomenstörungen besprochen.
Missense-Mutationen in IQSEC2 (OMIM 309530) waren zunächst in vier Familien mit unspezifischer ID berichtet worden. Später wurden auch Nonsense-Mutationen und Deletionen identifiziert, die mit schwerer ID, Epilepsie und Mikrozephalie assoziiert sind. De-novo-Mutationen in IQSEC2 wurden inzwischen auch mehrfach bei weiblichen Patienten nachgewiesen und haben dort u. a. eine dem Rett-Syndrom ähnliche Symptomatik zur Folge.
Seltene XLID-Gene
Die Mehrzahl der XLID-Gene scheint eine niedrige Mutationsrate zu haben, d. h. es sind sowohl beim Screening von XLID-Familien als auch bei sporadischen Patienten weniger als 20 Fälle berichtet worden. Diese Beobachtung betrifft keineswegs nur solche Gene, die erst vor kurzer Zeit aufgeklärt worden sind, wie z. B.
ZC4H2 (Wieacker-Wolff-Syndrom, OMIM 314580; ID und Arthrogrypose) oder
LAS1L (Wilson-Turner-Syndrom, OMIM 309585; ID mit Kleinwuchs, Gynäkomastie und Adipositas), sondern auch Krankheitsbilder, deren Ursache schon seit vielen Jahren bekannt ist. Exemplarisch dafür steht das mit ID und Verhaltensauffälligkeiten assoziierte Gen
MAOA (Brunner-Syndrom, OMIM 300615), das eine zentrale Rolle im Serotoninstoffwechsel spielt. Die erste Mutation wurde 1993 in einer großen holländischen Familie nachgewiesen [
6]. Trotz großen wissenschaftlichen Interesses an diesem Gen, das sich u. a. in zahlreichen Assoziationsstudien zu Verhaltensphänotypen niederschlug, wurde die zweite
MAOA-Mutation erst 20 Jahre später berichtet [
30].