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Erschienen in: Forum der Psychoanalyse 2/2015

01.06.2015 | Originalarbeit

Zeige mir Deine Welt

Zur dialogischen Konstruktion von Wirklichkeit in der Psychoanalyse

verfasst von: Dr. med. Rainer Sandweg

Erschienen in: Forum der Psychoanalyse | Ausgabe 2/2015

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Zusammenfassung

Die vorliegende Arbeit befasst sich mit der Parallelität psychoanalytischer und neurowissenschaftlicher Theorien. Die Komplexität seelischer Vorgänge ist in beiden wissenschaftlichen Bereichen eine wesentliche Grundannahme. Die Erforschung komplexer Systeme erfordert andere logische Grundvoraussetzungen; ihre Ergebnisse sind interpretationspflichtig.
Durch die Einführung des sozialen Bezugs als wesentliches Element der Bewusstseinsentwicklung im neurobiologischen Konstruktivismus ergibt sich eine weitere Parallele zur Psychoanalyse. Neurobiologische Theorien können in zunehmendem Maße die Funktionsweise des menschlichen Gehirns erklären, nicht aber seine Ergebnisse, i. e. die seelische Tätigkeit. Psychoanalytische Theorien hingegen beschreiben Konstruktionsmuster von Wirklichkeit und bieten damit eine wesentliche Voraussetzung zur Interpretation. Wenn der psychoanalytische Prozess als eine dialogische Konstruktion von Wirklichkeit beschrieben wird, stehen Psychoanalyse und neurobiologischer Konstruktivismus in einer komplementären Beziehung zueinander.
Der psychoanalytische Dialog – obwohl asymmetrisch – wird als eine gemeinsame Arbeit von Analytiker und Analysand mit wechselseitiger Beeinflussung angesehen. Ihr Wert wird durch die Evidenz und Veränderungswirksamkeit beim Analysanden bestimmt. Unter dem Aspekt der nachhaltigen Wirkungen muss sich die Evaluation auf die Gesamtheit der Veränderungen beziehen und nicht nur auf die Symptomatik.
Fußnoten
1
“Thus cognition as a biological function is such that the answer to the question, ‚What is cognition?‘ must arise from understanding knowledge and the knower through the latter’s capacity to know” (Maturana 1970).
 
2
“Living systems as they exist on earth today are characterized by exergonic metabolism, growth and internal molecular reproduction, all organized in a closed causal circular process that allows for evolutionary change in the way the circularity is maintained, but not for the loss of the circularity itself” (Maturana 1970).
 
3
Zwei große Kränkungen ihrer naiven Eigenliebe hat die Menschheit im Laufe der Zeiten von der Wissenschaft erdulden müssen. Die erste, als sie erfuhr, dass unsere Erde nicht der Mittelpunkt des Weltalls ist, sondern ein winziges Teilchen eines in seiner Größe kaum vorstellbaren Weltsystems. Sie knüpft sich für uns an den Namen Kopernikus, obwohl schon die alexandrinische Wissenschaft Ähnliches verkündet hatte. Die zweite dann, als die biologische Forschung das angebliche Schöpfungsvorrecht des Menschen zunichte machte, ihn auf die Abstammung aus dem Tierreich und die Unvertilgbarkeit seiner animalischen Natur verwies. Diese Umwertung hat sich in unseren Tagen unter dem Einfluss von C. Darwin, Wallace und ihren Vorgängern nicht ohne das heftigste Sträuben der Zeitgenossen vollzogen. Die dritte und empfindlichste Kränkung aber soll die menschliche Größensucht durch die heutige psychologische Forschung erfahren, die dem Ich nachweisen will, dass es nicht einmal Herr ist im eigenen Hause, sondern auf kärgliche Nachrichten angewiesen bleibt von dem, was unbewusst in seinem Seelenleben vorgeht.
 
4
Wir können jetzt auch präzise ausdrücken, was die Verdrängung bei den Übertragungsneurosen der zurückgewiesenen Vorstellung verweigert: Die Übersetzung in Worte, die mit dem Objekt verknüpft bleiben sollen. Die nicht in Worte gefasste Vorstellung oder der nicht übersetzte psychische Akt bleibt dann im Ubw verdrängt zurück (S. Freud 1915).
 
5
“Man halte alle bewussten Einwirkungen von seiner Merkfähigkeit ferne und überlasse sich völlig seinem ‚unbewussten Gedächtnisse‘, oder rein technisch ausgedrückt: Man höre zu und kümmere sich nicht darum, ob man sich etwas merke” (S. Freud 1912).
 
6
“Our first explicit use of the term intersubjective appeared in an article (Stolorow et al. 1978) that Lewis Aron (1996) credited with having introduced the concept of intersubjectivity into the American psychoanalytic discourse. There we conceptualized the interplay between transference and countertransference in psychoanalytic treatment as an intersubjective process reflecting the mutual interaction between differently organized subjective worlds of patient and analyst, and we examined the impact on the therapeutic process of unrecognized correspondences and disparities – intersubjective conjunctions and disjunctions – between the patient’s and analyst’s respective world of experiences.”
 
7
Damasio spricht in diesem Zusammenhang von somatischen Markern, die dazu dienen, die komplexe Erlebniswelt zu strukturieren und die Handlungsmöglichkeiten in dieser zu begrenzen, um damit überhaupt handlungsfähig zu sein. Sie retten die Gefühle aus der Welt der Irrationalität und zeigen ihre wichtige Rolle in Form von unbewusster Erfahrung, bei Entscheidungsprozessen und in der gesamten sozialen Interaktion. Gefühle und Emotionen sind demnach nicht als das Gegenteil von Rationalität anzusehen, sondern als eine ihrer Grundlagen.
 
8
Die häufig in Supervisionen und kasuistischen Seminaren geäußerte Frage, ob die Intervention nun richtig oder falsch gewesen sei, kann sich eigentlich nur darauf beziehen, ob sie dem Fortgang des Erkenntnisprozesses dienlich ist oder nicht. Wesentlicher erscheint die Frage, unter welchen inneren Bedingungen (Gegenübertragung) die Intervention so und nicht anders erfolgte.
 
9
“Possibly, the Dodo bird verdict reflects a failure of researchers, psychodynamic and nonpsychodynamic alike, to adequately assess the range of phenomena that can change in psychotherapy.”
 
Literatur
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Metadaten
Titel
Zeige mir Deine Welt
Zur dialogischen Konstruktion von Wirklichkeit in der Psychoanalyse
verfasst von
Dr. med. Rainer Sandweg
Publikationsdatum
01.06.2015
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
Erschienen in
Forum der Psychoanalyse / Ausgabe 2/2015
Print ISSN: 0178-7667
Elektronische ISSN: 1437-0751
DOI
https://doi.org/10.1007/s00451-015-0192-9

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