Rechtliche Beeinflussung von Tatsachenvorstellungen
Ohne Einzelheiten noch weiter vertiefen zu müssen, wird damit klar: Tatsachen haben im Strafverfahren offensichtlich keine uneingeschränkte Autorität. Vielmehr müssen sie u. U. hinter anderen Belangen wie Interessen zurücktreten, im Fallbeispiel etwa wird von vielen der Rechtsfrieden höher bewertet als die Wahrheit. Untechnisch ausgedrückt ist die Wahrheit nicht das höchste Gut im Strafverfahren und sie wird auch nicht um jeden Preis ermittelt.
8 Mit Rücksicht auf höher bewertete Belange (wie beispielsweise auch Schweige- oder Datenschutzrechte) wird die Wahrheitssuche kontrolliert. Dem Interesse an einer möglichst wirklichkeitsgetreuen Tatsachengrundlage sind durch Interessen der Allgemeinheit und Einzelner Schranken gesetzt. Insoweit ist der Straffall kein „rein empirisches Problem“ und der Umgang mit Delinquenz nicht freie Tatsachenerforschung.
Dass die Tatsachenaufklärung bzw. -verwertung Grenzen hat, ist sicherlich keine spektakuläre Besonderheit des Strafverfahrens und auch kein exklusiver Gedanke der Jurisprudenz. Aus Perspektive der ärztlichen Standesregeln beispielsweise ist ebenfalls selbstverständlich, dass Angaben aus Patienten nicht „herausgefoltert“ werden. Für die Rechtsordnung ergibt sich allerdings ein direkter Zusammenhang zwischen den Grenzen der Wahrheitserforschung und der Aufgabenzuweisung. Denn als „Recht“ wird die Gesamtheit genereller Verhaltensregeln bezeichnet, die von der Gemeinschaft gewährleistet werden und ein geordnetes sowie vor allem friedliches Miteinander gewährleisten sollen
9. Die Herstellung und Bewahrung von sozialem Frieden ist also ein Kernanliegen der Rechtsordnung, das auch den Umgang mit Tatsachen im Strafverfahren (mit‑)bestimmt. In diesem Verfahren geht es nicht nur um Erkenntnis, sondern immer auch und sehr wesentlich um die Gewährleistung des sozialen Friedens. Die Rechtsordnung verlangt „richtige Urteile“, richtig in diesem Sinne sind aber in erster Linie friedensstiftende Urteile. Konsensfindung kann wichtiger als Wahrheitsfindung sein.
Deshalb kontrolliert das Recht auch den Umgang mit Tatsachen im Strafverfahren. Eine Differenzierung zwischen der Feststellung von Tatsachen als empirischer Frage und der Bewertung von Tatsachen als Sache des Rechts bildet die Verhältnisse also nicht zutreffend ab. Nach rechtlichen Vorgaben richtet sich vielmehr auch die Bestimmung der Tatsachenbasis strafjuristischer Entscheidungen. Sie ist das – im juristischen Diskurs verbindliche – Ergebnis eines rechtlich gesteuerten Definitions- und Ausfilterungsprozesses. Wenn Fakten dabei ausgeblendet werden, liegt darin keine Negation der Tatsachen selbst, sondern eine Verneinung ihrer rechtlichen Relevanz. Hinter dem Übergehen der Informationen, die im geschilderten Ausgangsfall nach Rechtskraft der Verurteilung bekannt wurden, steht also nicht die Behauptung, dass diese Fakten nicht stimmen, sondern dass es auf sie rechtlich nicht (mehr) ankommt.
Einfluss auf Wirklichkeitsvorstellungen nimmt das Recht allerdings nicht nur darüber, dass Tatsachen eine rechtliche Relevanz zu- oder abgesprochen wird. Vielmehr ermöglicht die Rechtsordnung zum Beispiel auch, von vornherein auf Tatsachenfeststellungen zu verzichten. Dies wird etwa deutlich, wenn die strafprozessuale Wahrheitssuche noch vor einem Gerichtsurteil über die Schuld- und Straffrage mit einer Verfahrenseinstellung endet.
10 Eine Straftat aber, aus deren Anlass ein Strafverfahren eingeleitet und dann eingestellt wurde, erscheint nicht im Bundeszentralregister und bleibt damit für spätere Entscheidungen in der Regel unsichtbar.
Konkurrierende Tatsachenvorstellungen
Schon aus diesen (beispielhaft genannten) Gründen unterscheiden sich vom Recht beeinflusste Tatsachenvorstellungen teilweise deutlich von dem, was außerhalb eines Strafverfahrens als „Wahrheit“, d. h. als Abbild der objektiven Wirklichkeit
11 gilt. Der „juristisch geformte“ Tatsachenstoff ist (wie etwa der Ausgangsfall zeigt) zuweilen aus nichtjuristischer Perspektive eine Fiktion. „Wahrheitskonkurrenzen“ aber fordern heraus – vor allem wenn sie das Ergebnis einer adäquaten Anwendung fachlicher Prinzipien sind. Im Ausgangsfall etwa folgt aus der Rechtskraft des Urteils für Sachverständige eine Rechtspflicht zum „Dummstellen“ – sie haben so zu tun, als wüssten sie es nicht besser, auch wenn ihnen die prognostisch relevanten Unterschiede zwischen Habgier und Eifersucht völlig klar sind. Ihnen dazu nur lapidar mitzuteilen, dass Interessen nun einmal die Tatsachenvorstellungen im Strafverfahren beeinflussen, ist möglicherweise etwas wenig.
Begriffsklärungen
Weitere Erkenntnisse versprechen Begriffsklärungen, schon der Begriff der „Tatsache“ ist nicht selbsterklärend. Er wird im juristischen Sprachgebrauch auf konkrete Geschehnisse oder Zustände der Vergangenheit oder Gegenwart bezogen, „die sinnlich wahrnehmbar, in die Wirklichkeit getreten und daher dem Beweis zugänglich sind“
12, ähnlich wie auch in der Umgangssprache als „Tatsache“ ein wirkliches Geschehen, etwas wirklich Vorhandenes bezeichnet wird
13. Tatsachen sind also eng mit dem Begriff der „Wirklichkeit“, d. h. dem „tatsächlich Existierenden“
14, verbunden. Von hieraus ist es im Begriffsfeld auch nicht weit bis zu der Kategorie der „Wahrheit“, die sich auf die Übereinstimmung einer Aussage bzw. Erkenntnis mit dem Objekt der Erkenntnis und damit (auch, aber nicht nur) auf ein adäquates Abbild der objektiven Wirklichkeit bezieht
15.
In Abgrenzung zu „Tatsachen“ wird als „Werturteil“ im Strafverfahren das Ergebnis eines Wertungsvorgangs bezeichnet, bei dem Tatsachen zu Normen in Beziehung gesetzt werden
16. Mit „Norm“ wiederum ist in Rechts- und Alltagssprache Unterschiedliches gemeint, so insbesondere eine „als verbindlich geltende Regel für das Verhalten von Menschen“ und ein „normaler, gewöhnlicher Zustand“
17.
Tatsachen- und Rechtsfragen
Dieses Begriffsinventar ist keineswegs nur etwas für einsame Stunden im Studierzimmer, es prägt vielmehr die Praxis des Strafverfahrens nachhaltig. Insbesondere dürfen Sachverständige im Strafverfahren ihren Auftraggebern nur „Tatsachenstoff“ unterbreiten, aber keine Rechtsfragen beantworten
18. Dabei lässt sich die Grenze zwischen Tatsachen- und Rechtsfragen mithilfe der soeben vorgestellten Begriffe genauer bestimmen. So ist die Rechtsanwendung zwar ein Schulbeispiel für einen wertenden Vorgang, bei dem Tatsachen zu Normen in Beziehung gesetzt werden, Wertungen sind aber der Rechtsfindung nicht vorbehalten. Vielmehr werten insbesondere auch Sachverständige, indem sie Tatsachen zu Normen in Beziehung setzen. Die Normen dabei sind allerdings Tatsachenableitungen und als solche (wie z. B. Normwerte für den Blutzuckerspiegel) empirisch überprüfbar bzw. widerlegbar; sie beruhen auf Erfahrungen im Tatsachenbereich. Die Rechtsanwendung hingegen wird von Normen in der Variante der „verbindlich geltenden Regeln für das Verhalten von Menschen“ beherrscht. Hier wird nicht behauptet, dass etwas „ist“, sondern dass es sein „soll“. Dafür aber lässt sich mit einer Erfahrungsprobe kein Nachweis erbringen. Entkoppelt von der erfahrbaren Realität der „Ist-Zustände“ führen diese „Soll-Vorschriften“ einen Wertungsvorgang aus dem Tatsachenbereich heraus.
Tatsachen- und Rechtsfragen unterscheiden sich also nicht darin, dass gewertet wird, sondern im Hinblick auf die Art der dabei angewendeten Normen. Im Tatsachenbereich wird anhand von realitätsbezogenen Normen, im Rahmen der Rechtsanwendung auf Grundlage von ideenbezogenen Normen gewertet. Auf die Ebene der Normen bezieht sich auch die gängige Unterscheidung zwischen „normativen“ und „empirischen“ Sätzen: „Normative“ Sätze treffen Aussagen über ein Sollen, beschreiben also nicht den Ist-Zustand der Realität, sondern fordern eine bestimmte Realität ein (z. B. „Du sollst nicht töten“). „Empirische“ Sätze hingegen stellen Behauptungen über die Realität auf, die wahr oder falsch sein können
19.
Gründe für Wahrheitskonkurrenzen
Vor diesem Hintergrund zeichnen sich die Unterschiede zwischen Rechts- und Erfahrungswissenschaft beim Umgang mit Tatsachen noch einmal deutlicher ab: Die Beantwortung einer Rechtsfrage verlangt einen Abgleich mit rechtlichen Maßstäben, die in erster Linie von „Sollens-Sätzen“ in Orientierung an Interessen und nicht von Feststellungen über die Wirklichkeit gebildet werden. Im Rahmen der Rechtsfindung müssen sich Tatsachenbehauptungen im juristischen System bewähren. Ob die dabei maßgeblichen (Rechts‑)Normen „richtig“ sind, lässt sich nicht durch eine Erfahrungsprobe auf Tatsachenebene belegen. Über den Sinn und Nutzen von „Sollens-Sätzen“ kann kein Beweis geführt werden, wie er bei empirischen Sachverhalten denkbar ist. Nach welchen Kriterien beispielsweise eine Unterbringung im Strafvollzug überprüft werden sollte, ist letztlich eine Wertentscheidung. Zwar wird sie auch von Tatsachen bestimmt, etwa von Erfahrungsregeln zur Wirksamkeit einer Behandlung. Mithilfe von Tatsachenmaterial lässt sich jedoch nicht belegen, dass das gesetzliche Überprüfungsprogramm das „Richtige“ ist, schon weil es hier auch um Interessen (wie etwa die Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit) geht.
Hingegen hat die Erfahrungswissenschaft den Anspruch, dass ihre Tatsachenbehauptungen der Wirklichkeit außerhalb eines Kommunikationsprozesses wie dem Strafprozess möglichst entsprechen. Rücksichtnahmen auf Interessen spielen hier keine vorrangige Rolle (wobei sich die Forschungstätigkeit natürlich an die verbindlichen Verhaltensregeln zu halten hat). Wirklichkeitsaussagen der Erfahrungswissenschaft müssen sich in der Realität, nicht in einer Rechtsfolgenorientierung bewähren. Sie sollen den betrachteten Wirklichkeitsausschnitt möglichst unverfälscht und damit unbeeinflusst von Interessen abbilden. In Orientierung an diesem Ziel aber kann die juristische Disponibilität von Wahrheitsvorstellungen ungewohnt und fremd, sogar befremdlich erscheinen.
Dabei gehört zu den Ewigkeitsfragen, was Wirklichkeit ist, ob Menschen sie erkennen oder nur gedankliche Konstruktionen dazu entwickeln können – und auch die Rechtsordnung liefert die Antworten dazu nicht. Zugleich beeinflussen die Debatten über den Wirklichkeitsbegriff gerade die Vorstellungen über den Umgang mit Kriminalität. So haben die Ideen des symbolischen Interaktionismus
20 und der Ethnomethodologie
21 die Kriminologie in ihren Grundfesten erschüttert, indem sie daran zweifeln ließen, dass in den Diskurs über die Strafbarkeit und ihre Konsequenzen überhaupt ein authentisches Abbild der Realität einfließen kann. Denn möglicherweise sei das, was wir Wirklichkeit nennen, das Produkt von Interaktionsprozessen, eine soziale Festlegung, die in einer konkreten Interaktion ausgehandelt werde.
22 Dann aber müsse es hauptsächlich um diesen Aushandlungsprozess – und nicht um Erklärungen für das als „wirklich“ Gedachte – auch im Zusammenhang mit Straftaten gehen. In der Folge sahen viele nicht mehr die als „kriminell“ bezeichnete Handlung, sondern das Versehen einer Handlung mit dem Etikett „kriminell“ als erklärungsbedürftig an und wandten sich der gesellschaftlichen „Konstruktion“ von Verbrechen – der Kriminalisierung anstelle der Kriminalität – zu.
Die Praxis des Strafverfahrens prägt diese Sichtweise allerdings weniger als die Annahme, dass Unterschiede bei den Wirklichkeitsvorstellungen ohnehin unvermeidlich sind. Denn die Wirklichkeit ist – auch wenn es um Einzelaspekte geht – zu komplex für ein vollständiges Abbild.
23 Selbst ein Molekül hat so viele Eigenschaften, dass in seine Erfassung und Beschreibung nur eine Auswahl einfließen kann. Wirklichkeitsumstände können immer nur unter einem bestimmten Blickwinkel gesichtet werden, jeweils nur ein Teil ihrer Beschaffenheit den Gegenstand der Erkenntnis bilden. Stets ist vorab darüber zu entscheiden, was „wesentlich“ im Sinne von „wissenswert“ ist, welchen Zuschnitt also der betrachtete Wirklichkeitsausschnitt hat.
24 Zugleich haben diese Vorentscheidungen einen „Wirklichkeitsverlust“ beim Versuch der Realitätserfassung zur Folge – was vorab als unwesentlich ausgesondert wurde, fließt nicht in die danach gebildete Wirklichkeitsvorstellung ein.
Insbesondere für das Verhältnis von Fachdisziplinen – und damit für das Strafverfahren als Begegnungsraum von Rechts- und Erfahrungswissenschaft – ist dies von erheblicher Bedeutung: Jedes Erkenntnisinteresse bildet die Wirklichkeit aus einem ganz bestimmten Blickwinkel ab, was anders motivierte Anschauungen vom gleichen Gegenstand nicht ausschließen kann. Da sich Wissenschaften aber in ihren Betrachtungsgegenständen unterscheiden, bringen sie zwangsläufig auch unterschiedliche Wirklichkeitsvorstellungen hervor. Getroffene Feststellungen können nur im Kontext ihrer Fragestellung verbindlich sein, nicht aber abweichenden Vorstellungen entgegenstehen, die sich aus einem anderen Blickwinkel ergeben. Wenn beispielsweise eine Tatbeteiligung aus Perspektive des Strafrechts zu verneinen ist, weil die gesetzlichen Voraussetzungen von Täterschaft und Teilnahme
25 nicht erfüllt sind, schließt dies eine anders verstandene Tatbeteiligung (z. B. die eines „geistigen Brandstifters“) nicht aus.