Einleitung
Für die Analyse physischer, sozialer und symbolischer Faktoren, die an ausgewählten
Places, d. h. mit Bedeutung aufgeladenen Orten (im Gegensatz zu
Spaces), wirken und die sowohl physische als auch psychische Gesundheitswirksamkeit entfalten, bietet das Konzept der Therapeutischen Landschaften einen analytischen Rahmen. Als „Therapeutische Landschaft“ wird dabei die Summe der Qualitäten und Valenzen von geografischen Orten bezeichnet, die in einem sehr umfassenden Sinne gesundheitswirksam sind [
1]. Ihre Wirkung leitet sich nicht nur aus ihren physischen Qualitäten ab, sondern umfasst auch die immateriellen Eigenschaften und Zuschreibungen. Doch wo liegen die Gründe für die erfolgreiche Rezeptionsgeschichte des Konzepts, welches Gesler [
2] vor über 3 Jahrzehnten einführte? Mehrere zusammenwirkende Aspekte sind hierfür erkennbar, die einerseits eng mit der Kritik des die Medizin dominierenden biomedizinischen Krankheitsmodells und andererseits mit der Rezeption der Neuen Kulturgeografie durch die Medizinische Geografie zusammenhängen [
3].
Unsere Arbeit stellt das Konzept der Therapeutischen Landschaften vor. Zunächst werden Aspekte des ideengeschichtlichen Hintergrunds behandelt. Im Anschluss werden das Konzept, empirische Erfahrungen, konzeptionelle Erweiterungen sowie theoretische Ansätze zur Erklärung der Wirkentfaltung vorgestellt. Vor einem knappen Fazit wird dargelegt, dass begründet von einer Theorie der Therapeutischen Landschaften gesprochen werden kann.
Theorien zur Wirkentfaltung
Umweltpsychologische Theorien zur Erklärung des gesundheitswirksamen Potenzials von
Places und Landschaften gehen davon aus, dass bestimmte Landschaftsformen einen evolutionären Überlebensvorteil boten, das „genetische Gedächtnis“ prägten [
33, S. 25] und deshalb bevorzugt werden. Zu ihren Schwächen gehört, dass interindividuelle Unterschiede weitgehend unberücksichtigt bleiben.
Im Mittelpunkt der Forschung zu erklärenden Mechanismen der Wirkung Therapeutischer Landschaften stehen seit Längerem subjektorientierte Analysen von Gesundheitserfahrungen. Dabei werden materiellen Eigenschaften, psychophysiologischen, sozialen, ästhetischen und relationalen Dimensionen gesundheitswirksame Eigenschaften zugeschrieben [
16]. Menschen erleben Landschaften in unterschiedlicher Weise und Erfahrungen mit
Places resultieren stets aus spezifischen Formen der Auseinandersetzung. Insofern lässt sich die Erfahrung einer Therapeutischen Landschaft am ehesten als eine relationale Wirkung erfassen, die sich durch Interaktionen zwischen Individuum und Landschaft manifestiert. Diese Interaktionen umfassen sowohl die unmittelbare körperliche Erfahrung als auch deren spätere Interpretation. Das Bedürfnis, mit der Diversität von Farben, Formen und Texturen, die in Grenzräumen am größten ist, zu interagieren, ist hierbei offensichtlich besonders bedeutsam [
34]. Zwei Erklärungsansätze fanden in den letzten Jahren besondere Beachtung.
Conradson [
16] greift für seine theoretische Fundierung auf die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) zurück, nach der die Welt netzwerkartig verfasst ist, deren Bestandteile sich als mehr oder weniger kohärente Akteure aus verschiedenen Elementen zusammensetzen. Aktion ist das Produkt spezifischer Netzwerkverbindungen, die einen Akteur räumlich und zeitlich mit einem anderen verbinden.
Places fungieren als Knoten in relationalen Netzwerken [
35]. Thrift [
36] fokussierte mit seinem Konzept der „
Ecology of Place“ auf die räumliche Dimension:
Place ist demnach eine aktive und konstitutive Präsenz, die Einstellungen und Interaktionen formt und erdet. Und auch
Places bilden sich durch Interaktionen heraus – zwischen Menschen, zwischen Menschen und Dingen, zwischen Menschen und anderen Lebewesen. Alle Beziehungen, welche das relational konzipierte menschliche Selbst formen, besitzen typischerweise auch geografische Einbettung und räumliche Konsistenz. Diese (therapeutische) Landschaftserfahrung umfasst sowohl physiologische als auch interpretative Elemente [
16]. Netzwerkrelationen sind Ressourcen, welche die Realisierung bestimmter Aktionen und die Erlangung bestimmter Handlungsfähigkeiten (
Agencies) unterstützen [
37]. Und
Places sind das Medium zur Generierung und Verteilung dieser Ressourcen. Da sich Gesundheit, salutogenetisch verstanden, aus Ressourcen konstituiert, müssen für das Verständnis von Gesundheitsförderung sowohl diejenigen Ressourcen erfasst werden, die für die Entfaltung gesundheitsbezogener Kräfte erforderlich sind, als auch die spezifischen
Places, an denen diese Ressourcen verfügbar sind bzw. (re)generiert werden können. Die Konstitution Therapeutischer Landschaften kann man sich insofern vorstellen als Zusammenspiel von Relationen, Ressourcen und Handlungsfähigkeiten. Duff [
37] unterscheidet soziale, affektive und materielle gesundheitswirksame Ressourcen. Ihre Eigenschaften sind relationale Errungenschaften: Sie resultieren aus jeweils einzigartiger Konvergenz und Relation gesundheitswirksamer Ressourcen an einem spezifischen
Place. Es geht dabei nicht um die Identifizierung von „Idealtypen“; vielmehr muss dem Zusammenspiel vielfältiger Prozesse, durch die soziale, affektive und materielle Ressourcen an Alltagsorten generiert werden, Beachtung geschenkt werden [
38].
Rose [
39] hingegen geht in ihren theoretischen Überlegungen von der Praxis, Landschaft zu
sehen, aus. Unsere Praktiken des Sehens reproduzieren Räume (
Spaces) als spezifische
Places. Es ist wichtig, was das Objekt in die Begegnung einbringt und was der Seher: Das Objekt „antwortet zurück“ [
39]. Der Betrachter von Landschaft ist nicht nur kognitiv, sondern auch emotional und affektiv engagiert. Erst Letzteres bildet die Basis für Erfahrungen, die zu einem Gefühl des Wohl- oder Missbefindens beitragen. Aber wie kommen derartige Effekte zustande? Hier greift Rose [
39] auf das Konzept des
Mentalising im Rahmen der
Theory of Mind zurück [
40]: einen Mechanismus des emotionalen Spiegelns, erklärt durch das soziale Feedback-Modell reflektierter Affekte [
41]. „Mentalisieren“ bezeichnet unsere Fähigkeit, Bewusstseinsvorgänge und Verhalten eines sozialen Gegenübers durch Zuschreibung der zugrunde liegenden emotionalen Zustände zu deuten.
Rose [
39] verbindet das Konzept des „Mentalising“ mit der affektiven Erfahrung beim Betrachten einer Landschaft. Insofern wird das Konzept auf die individuelle Interaktion mit einem Objekt (Landschaft) angewendet. Rose postuliert, dass ein Individuum Landschaft als einen „empathischen Spiegel“ erfahren kann, der das Verständnis der emotionalen und kognitiven Bedingungen des subjektiven und intersubjektiven Funktionierens unterstützt: Indem wir einem
Place (einer Landschaft) gleichzeitig als objektive Realität und als Repräsentation begegnen, können durch diesen
Place Emotionen und Kognitionen empathisch zu uns zurückgespiegelt werden und dadurch einen Prozess des Mentalisierens auslösen.
Places durch Visualisierung, Imagination und eben Mentalisieren einen Sinn zu geben, das ist eine essenzielle, überlebensnotwendige Fähigkeit: Um eine komplexe visuelle Situation zu verarbeiten, kreieren wir mentale Repräsentationen [
34]. In gewisser Weise ist die Beziehung zwischen Menschen und
Places oder Landschaften als Resonanzphänomen zu sehen, angesichts dessen „die Welt den handelnden Subjekten als ein antwortendes, atmendes, tragendes, in manchen Momenten sogar wohlwollendes, entgegenkommendes oder ‚gütiges‘ Resonanzsystem erscheint“ [
42, S. 9].
Analog zum Feedback-Mechanismus zwischen Kleinkind und Eltern kann ein Individuum, indem es Landschaftsmanifestationen als „Gesicht“ aufnimmt, eigene emotionale und kognitive Zustände darauf projizieren, in der Wiederbegegnung wiedererkennen und reproduzieren: Diese Auseinandersetzung kann dann auch Grundlage gesundheitsrelevanter Erfahrung sein. Sehweisen, Visualisierung, Ab-Bildung, neben anderen sensorischen Erfahrungen wesentlich im Prozess des Mentalisierens, sind nicht allein auf individuelle Biologie reduzierbar, sondern vielmehr auch kulturell konstruiert. Im Prozess des Mentalisierens von
Places entwickeln und verstärken wir tiefe Erfahrungen des „Verortetseins“ und frischen Bedürfnisse, Gefühle und Sehnsüchte auf [
34]. Das Konzept des Mentalisierens bietet einen Erklärungsansatz dafür, wie gewisse gesundheitswirksame Effekte auftreten können.
In diesem Konzept findet das Paradigma der Therapeutischen Landschaft auch Anschluss an den
Posthumanistic Turn, der für die Sozialwissenschaften in den letzten beiden Dekaden bedeutsam wurde. Damit wird eine Reihe humanistischer Grundannahmen infrage gestellt, unter anderem die der Autonomie der Menschen, deren Existenz und Handlungen nicht abhängig seien von anderen, nichtmenschlichen Entitäten [
43]. Gleichzeitig korrespondiert es mit dem Entwurf eines dreidimensionalen Persönlichkeitsmodells, das die Bedeutung der menschlichen Umwelt (soziales Gegenüber) ebenso berücksichtigt wie die der nichtmenschlichen Umwelt [
44].
Zur Interaktion zwischen
Places und menschlichem Gehirn liegen inzwischen auch umfangreiche neurowissenschaftliche Erkenntnisse vor [
45]. Das Gehirn verfügt über hochspezialisierte Strukturen (Hirnareale, Subregionen, Zellarten) und Prozesse zur Verarbeitung räumlicher Information. Dem Hippocampus fällt dabei eine zentrale Rolle zu [
46]. Analogien fallen auf zwischen
Place Cells und Spiegelneuronen, die das Verhalten des sozialen Gegenübers spiegeln:
Places werden wiedererkannt und wirken auf das Wohlbefinden, weil bei ihrer Wahrnehmung und Erinnerung stets auch emotionale Anteile des limbischen Systems stimuliert werden.
Vom Konzept zur Theorie
Das Konzept der Therapeutischen Landschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten als ein „theoretischer Dreh- und Angelpunkt“ [
47] bewährt, der methodische Experimente erleichtert, eine Rückkehr zur idiografischen Tradition der Medizinischen Geografie ermöglichte und eine Plattform bot, um weiterführende theoretische Überlegungen anzustellen. Das Konzept basiert auf der Grundannahme, dass das jeweils spezifische Set ökologischer, sozialer und humanistischer Merkmale räumlicher Settings sowohl quantitativ als auch qualitativ messbare Gesundheitswirksamkeit entfaltet. Insofern kann es im Sinne von Suddaby [
48] auch als „Theorie“ angesprochen werden, welche eine Möglichkeit bietet, der empirischen Komplexität der phänomenalen Welt eine konzeptionelle Ordnung zu geben. Sie bietet ein System wissenschaftlich begründeter Aussagen, das geeignet ist, Gesetzmäßigkeiten zu erklären und Prognosen zu erstellen. Als „verstehende Theorie“ zielt sie darauf ab, Phänomene nicht auf ihre kausalen Beziehungen zu reduzieren, sondern sie im Kontext der von Menschen erlebten und zugewiesenen Bedeutungen im hermeneutischen Sinne zu
verstehen [
49]. Als Theorie ist das Konzept der Therapeutischen Landschaften konsistent, empirisch verankert, besitzt Erklärungswert und ermöglicht Prognosen. Der Korpus empirischer Befunde stützt die Formulierung von Verallgemeinerungen, die zu prognostizieren erlauben, was bei einem gegebenen Input beobachtet werden wird. Indem die Theorie etablierte Denkweisen hinterfragt und alternative Sichtweisen auf Phänomene anbietet, kann sie auch als „provokative Theorie“ angesprochen werden [
49].
Zusammengefasst ergibt sich eine Theorie der Therapeutischen Landschaft, die sowohl mit der ANT (Places als aktive und konstitutive Netzwerkknoten) als auch der Theorie des Mentalisierens (Places als Emotionen und Kognitionen widerspiegelnde Repräsentationen) harmoniert. In ihrer Mitte steht die Trias aus Place, Identität und Gesundheit. Im Spannungsfeld der Konstitution von Identität in einer stetig sich wandelnden Lebenswelt kann Therapeutische Landschaft als Moderator interpretiert werden, der dieses Paradoxon aushaltbar macht.
Spätestens seit dem
Spatial Turn und dem damit verbundenen konstruktivistischen Raumverständnis beeinflusst Foucault auch die Raumwissenschaften. Daran anknüpfend bietet sich an, als Untersuchungsraster Therapeutischer Landschaften sein „Dispositiv“ zu nutzen: das Netz, das zwischen einem heterogenen Ensemble von Elementen geknüpft werden kann, welche für eine bestimmte Zeit und eine bestimmte Gesellschaft bedeutsam sind. Zu diesen „Elementen“ des Dispositivs gehören Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen und Lehrsätze [
50, S. 119 f.].
Fazit
Das gesundheitsgeografische Paradigma der Therapeutischen Landschaften reflektiert die kulturalistischen Verschiebungen in den Sozialwissenschaften und fußt auf einer holistischen Konzeption von Gesundheit. Es erlaubt eine mehrdimensionale Interpretation der gesundheitsrelevanten Interaktionen von Menschen mit Places und Landschaften. Zunächst standen vor allem heilende Wirkungen außergewöhnlicher Places und Landschaften mit natürlichen bzw. inszenierten Naturschönheiten im Mittelpunkt des Interesses. Heute geht es insbesondere um Alltagsorte und deren gesundheitswirksame Effekte. Die Theorie der Therapeutischen Landschaft kann hilfreich sein, um Gesundheit auch im Kontext großer und aktueller Themen wie Bevölkerungswachstum, Globalisierung, Ökonomisierung, Urbanisierung, Biodiversitätsverlust, Postkolonialismus, Mobilität, Kommunikation und Umweltgerechtigkeit zu sehen, einzuordnen und zu interpretieren.
Neben der Akteur-Netzwerk-Theorie bietet die Theory of Mind mit dem Konzept des Mentalising einen konsistenten Ansatz zum besseren Verständnis der Zusammenhänge zwischen Places und Gesundheit: Indem wir einem Place sowohl als Realität als auch als Repräsentation begegnen, können durch diesen Place Emotionen und Kognitionen zurückgespiegelt werden. Das „Gesicht“ des Place, der Landschaft, ist das personale Gegenüber, mit dem wir interagieren. Als Untersuchungsraster Therapeutischer Landschaften bietet sich Foucaults „Dispositiv“ an.
Hinweis des Verlags
Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.