Erschienen in:
01.07.2008 | Historisches
Zur Stigmatisation und Nahrungslosigkeit der Therese Neumann (1898–1962)
verfasst von:
Dr. O. Seidl
Erschienen in:
Der Nervenarzt
|
Ausgabe 7/2008
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Zusammenfassung
Therese Neumann aus Konnersreuth in Bayern ist seit dem 29. Lebensjahr mit den Wundmalen Christi „stigmatisiert“ gewesen und hat vorgeblich die letzten 36 Jahre ihres Lebens ohne Nahrung gelebt. Auf der Grundlage des von Dr. Otto Seidl für das Bischöfliche Ordinariat Regensburg erstellten Gutachtens (1927) und seines Vortrags vor dem Katholischen Ärzteverein Hollands (1928) wird der Fall im Lichte der heutigen Psychiatrie interpretiert.
Im Anschluss an ein Brandereignis (1918) traten bei Therese Neumann Lähmungen, Taubheit und Blindheit auf. Im weiteren Verlauf kam es zu einer Stigmenbildung an Händen, Füßen und präkordial, zu Blutungen an der Haut und aus den Augen und zu „visionären“ Bewusstseinsveränderungen mit religiösen Inhalten. An der Echtheit dieser Phänomene hatte Seidl aufgrund seiner Beobachtungen keinen Zweifel und diagnostizierte „Hysterie“. Eine 14-tägige Überwachung durch vier Klosterschwestern zeigte zwar keine Nahrungsaufnahme, aber der Gewichtsverlauf und die Urinbefunde legen dies nahe. Eine Untersuchung in einer Klinik wurde verweigert.
Medizinhistorisch reiht sich Therese Neumann in eine Reihe von überraschend uniformen Fällen mit Stigmatisation, konversiven Störungen und vorgeblicher Nahrungslosigkeit ein. Nosologisch würde man heute von dissoziativen Störungen sprechen.