In Westeuropa und den USA wird seit über 80 Jahren über einen Zusammenhang zwischen der Zahl stationär-psychiatrischer Betten und der Zahl an Gefängnisinsassen diskutiert. Wenn psychiatrische Betten abgebaut werden, komme – so die als Penrose-Hypothese bekannt gewordene Theorie [
1] – ein Teil der zuvor stationär behandelten Menschen früher oder später in Gefängnissen oder forensisch-psychiatrischen Einrichtungen unter. Die Theorie wurde immer wieder kritisiert und relativiert, jedoch untermauern mehrere longitudinale Studien [
2‐
4], dass der zunehmende Abbau allgemeinpsychiatrischer Betten und die Verkürzung der Liegezeiten im Zuge der Deinstitutionalisierung mit einer drastischen Zunahme der Betten in forensisch-psychiatrischen Krankenhäusern und Gefängnissen einherging.
1 Eine Schlussfolgerung aus der Penrose-Hypothese könnte sein, dass ein Teil der psychisch erkrankten Menschen ein stark strukturiertes Setting benötigen, das ihre Medikamenteneinnahme sicherstellt und Kontrollfunktionen übernimmt. Für Deutschland ist diese Entwicklung erst seit Mitte der 1990er-Jahre festzustellen [
5]. Die angenommene Verlagerung schwer erkrankter Patienten von stationären Allgemeinpsychiatrien in Gefängnisse [
6] führte zu kritischen Leitartikeln wie „Bring back the asylum“ [
7], „Does deinstitutionalization cause criminalization“ [
8]? oder „Prisons as new asylums“ [
9]. Gegenpositionen (z. B. [
10]) postulieren, dass auch voneinander unabhängige Entwicklungen die gegenläufigen Belegungstrends in der Allgemeinpsychiatrie und forensischen Psychiatrie bzw. im Justizvollzug erklären können. Einigkeit dürfte aber darüber bestehen, dass psychische Erkrankungen in Gefängnissen schlechter behandelt werden können als in psychiatrischen Einrichtungen. Trotzdem kommen psychische Erkrankungen bei Menschen im Justizvollzug häufig vor [
11‐
13]. Möglicherweise hat die Zahl schwer erkrankter Patienten, die zusätzlich oft obdachlos, alleinstehend und arbeitslos sind [
14], in deutschen Gefängnissen zugenommen. In der Berliner Gefängnispsychiatrie waren Ende Januar 2020 über 80 % der Patienten obdachlos, gegenüber ca. 13 % der Patienten in allgemeinpsychiatrischen Versorgungskliniken [
15]. Obwohl Längsschnittstudien für Deutschland fehlen, kann bei aktuell circa 50.000 inhaftierten Strafgefangenen [
16] und circa 15.000 Untersuchungshaftgefangenen [
17] davon ausgegangen werden, dass mindestens 2500 Menschen in Haft unter Psychosen leiden – die Zahl an Menschen mit affektiven Erkrankungen dürfte deutlich höher liegen. Diese „Forensifizierung“ schwer kranker Patienten dürfte auch begünstigt haben, dass die Rechtsprechung die zu begründenden Voraussetzungen für eine Zwangsmedikation außerhalb des Justizvollzuges in den letzten Jahren konkretisiert und dadurch erhöht hat. Dies dürfte eine Abnahme der Zwangsmedikationen zur Folge gehabt haben [
18].
2 Ein Zusammenhang zwischen unterlassener Zwangsmedikation und der Zunahme aggressiver Übergriffe ist wissenschaftlich gut belegt [
19]. Dies lässt die Vermutung zu, dass einzelne psychisch erkrankte Menschen aufgrund einer unterlassenen Zwangsmedikation straffällig geworden sind und so in den Justizvollzug gelangten. Auch in Zukunft ist daher zu befürchten, dass bei gleichbleibenden Rahmenbedingungen die Zahl der inhaftierten Menschen, die nicht behandelt, schwer krank und weder krankheits- noch behandlungseinsichtig sind, hoch bleiben wird. Bei schweren Verhaltensstörungen mit Eigen- und Fremdgefährdung wird sich immer wieder die Frage einer Zwangsmedikation in Haft stellen. Zahlen zur Häufigkeit von psychiatrischen Zwangsmedikationen in Haft liegen jedoch ebenso wenig wie Leitlinien oder Empfehlungen für ihre Durchführung vor. Der vorliegende Artikel soll deshalb nach einer Einführung zur Versorgungssituation psychisch erkrankter Menschen in deutschen Gefängnissen auf die juristischen Voraussetzungen und geeignete Rahmenbedingungen für Zwangsmedikation in Haft eingehen.