Erschienen in:
01.02.2020 | Leitthema
Zwischen „Affirmation und Kritik“: Karl Kleist und Viktor von Weizsäcker zwischen 1933 und 1945
verfasst von:
Michael Martin, Axel Karenberg, Prof. Dr. Heiner Fangerau
Erschienen in:
Der Nervenarzt
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Sonderheft 1/2020
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Zusammenfassung
Karl Kleist (1879–1960) wurde 1954 Ehrenmitglied der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN), Viktor von Weizsäcker (1886–1957) zwei Jahre zuvor. Der Versuch, ihre Lebenswege zwischen 1933 und 1945 einzuordnen und zu bewerten, hat in der historischen Forschung jeweils zu teilweise diametral entgegengesetzten Ergebnissen geführt. Der folgende Beitrag fasst die wesentlichen Argumentationslinien zusammen und zieht ein vorläufiges Fazit. Kleist soll sich nach 1933 verstärkt für seine nichtarischen Mitarbeiter eingesetzt und so lange wie möglich jüdische Patientinnen und Patienten behandelt haben. Publikationen und zahlreiche Fremdzeugnisse belegen, dass er das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (GzVeN) zumindest teilweise unterlaufen hat. Ferner soll er durch die vorsichtige Formulierung von Diagnosen Patienten vor „Euthanasie“-Maßnahmen bewahrt haben. Gleichzeitig war er als Gutachter am Erbgesundheitsobergericht Frankfurt am Main tätig, trat 1940 in die NSDAP und 1942 in den NS-Ärztebund ein. In ähnlich widersprüchlicher Weise nutzte Viktor von Weizsäcker seine Handlungsspielräume. Einerseits hielt er sich von zentralen NS-Organisationen fern und galt im Urteil systemaffiner Kollegen als „politisch unzuverlässig“. Andererseits leitete er als Ordinarius für Neurologie ab 1941 in Breslau formal genau das neuropathologische Forschungsinstitut, an dem einer seiner Mitarbeiter im Sinne der „Begleitforschung“ Gehirne von Minderjährigen untersuchte, die im Rahmen der „Kinder-Euthanasie“ getötet worden waren. Auch befürwortete von Weizsäcker partiell das GzVeN, benutzte in Vorlesungen und Publikationen aus den Jahren 1933 bis 1935 die entsprechende NS-Terminologie und prägte den Begriff „Vernichtungslehre“. Trotz akribischer Forschung ist in beiden Fällen nicht vollständig zu klären, wo genau im Spektrum zwischen Kritik und Affirmation des Nationalsozialismus beide Biographien anzusiedeln sind.