Erschienen in:
17.01.2019 | Originalarbeit
Zwischen Stammesgeschichte und Psychogenese
Evolutionspsychologie und Psychodynamik von Scham, Schuld und Verachtung
verfasst von:
Dr. Michael Schonnebeck
Erschienen in:
Forum der Psychoanalyse
|
Ausgabe 2/2019
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Zusammenfassung
Anthropologie und Evolutionspsychologie liefern Einsichten zum psychischen Apparat und zur sozialen Selbstorganisation. So gilt evolutionsbiologisch die existenzielle Ausrichtung des Menschen auf die Kleingruppe als gesichert. Dabei bedürfen die auftretenden Konkurrenzdynamiken zusätzlicher Regulatoren; hier übernehmen Verachtung-Scham-Kaskaden wichtige Funktionen. Der Schamaffekt wird nicht mimikspezifisch, sondern szenisch-interaktionell kommuniziert. Schamempfindungen können in ihren Vorformen (Protoscham) durch eine verfrüht-massierte Konfrontation pathologische Reaktionsbereitschaften entstehen lassen. Die salutogenetische Potenz der Scham-Verachtung-Kaskade liegt in der Protektion der Reproduktionsbedürfnisse der Gruppe. Die klinisch beobachtbare Häufung von schamkranken Misshandlungsopfern lässt sich mit einer ungenügenden Kompetenz der Elternfiguren zur Verachtungsreaktion erklären.
Schuldempfindungen sind phylogenetisch deutlich jünger und werden als Affektanaloga betrachtet, die für die Binnenregulation von Großgruppen erforderlich wurden. Entstanden aus komplex-arbeitsteiligen Gruppenaufgaben (zum Beispiel Großwildjagd) haben sie ihre Primärfunktion in der zwiepersonalen Kooperation. Erst angesichts gewaltiger soziokultureller Umwälzungen übernahmen sie ihre normsetzende Kollektivfunktion mit Ahndungscharakter. Dies korreliert gut mit dem analytischen Verständnis der Gewissensbildung. Aufgrund ihres hereditären Mangels an affektiver Unmittelbarkeit machen Schuldgefühle immer wieder Anleihen bei Schamreaktionen mit dann kollusivem Charakter.