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Erschienen in: medizinische genetik 4/2018

Open Access 22.11.2018 | Zystische Nierenerkrankungen | Schwerpunktthema: Erbliche Nierenerkrankungen

Nephronophthise und assoziierte Ziliopathien

verfasst von: Dr. med. univ. Andrea Titieni, Dr. med. Jens König

Erschienen in: medizinische genetik | Ausgabe 4/2018

Zusammenfassung

Die Nephronophthise ist eine autosomal-rezessive tubulointerstitielle Nierenerkrankung und stellt die häufigste genetische Ursache für ein terminales Nierenversagen im Kindes- und Jugendalter dar. Hauptsymptome sind eine Polyurie und Polydipsie als Zeichen einer Harnkonzentrationsstörung sowie sonographisch hyperechogene Nieren mit verwaschener Mark-Rinden-Differenzierung und gelegentlich auftretenden Zysten. Pathophysiologisch liegt eine Dysfunktion primärer Zilien zugrunde, sodass sie zur Gruppe der Ziliopathien gezählt wird. Die Nephronophthise kann isoliert die Nieren betreffen oder zusammen mit anderen Organmanifestationen Syndrome definieren, wie zum Beispiel das Senior–Løken-Syndrom, das Joubert-Syndrom und viele mehr, welche gesammelt als Nephronophthise-assoziierte Ziliopathien (NPH-RC) bezeichnet werden. Charakteristisch für diese Erkrankungsgruppe sind eine ausgeprägte genetische und phänotypische Variabilität sowie zum Teil erhebliche Überlappungen mit anderen zystischen Nierenerkrankungen, was eine korrekte und frühzeitige Diagnosestellung sowie das Stellen individueller Prognosen im klinischen Alltag erschwert. Kurative Therapie-Ansätze existieren bislang nicht.
Ziel dieser Übersichtsarbeit soll es sein, einen verständlichen Überblick über die Nephronophthise und assoziierte Ziliopathien zu geben und deren pathophysiologische Verbindung zu den anderen zystischen Nierenerkrankungen aufzuzeigen.

Einleitung

Die Nephronophthise (NPH) ist eine seltene, autosomal-rezessiv vererbte tubulointerstitielle Nierenerkrankung und repräsentiert die häufigste genetische Ursache für eine terminale Niereninsuffizienz im Kindes- und Jugendalter. Die Inzidenz wird in Europa auf 1:50.000 geschätzt. Pathophysiologisch liegt eine Dysfunktion primärer Zilien zugrunde. Die NPH kann isoliert die Nieren betreffen oder zusammen mit anderen Organmanifestationen Syndrome definieren, die als Nephronophthise-assoziierte Ziliopathien bezeichnet werden. Charakteristisch für diese heterogene Erkrankungsgruppe sind eine hohe genetische und phänotypische Variabilität sowie zum Teil erhebliche Überschneidungen innerhalb der Gruppe oder mit anderen zystischen Nierenerkrankungen.

Hintergrund

Der Begriff „Nephronophthise“ wurde erstmals 1951 von Fanconi beschrieben und bedeutet wörtlich übersetzt „Schwund der Niere“, was sich auf das histologische Bild bezieht [6]. Im Gegensatz zu damals, als die Diagnose neben der charakteristischen Klinik vor allem auf unspezifischen histologischen Kriterien basierte, wird eine Nephronophthise heute fast ausschließlich genetisch gesichert. Seit Identifikation von NPHP1 Ende der 1990er-Jahre konnten bis heute insgesamt 20 NPHP-Gene definiert und weitere Kandidatengene beschrieben werden. Dennoch verbleiben auch heute noch ca. 40 % der NPH-Patienten genetisch ungeklärt. Die homozygote NPHP1-Deletion ist mit 30–60 % die mit Abstand häufigste Ursache der juvenilen Nephronophthise. Von den bisher beschriebenen 20 NPHP-Genen kodieren 19 für Proteine des primären Ziliums, weshalb die NPH zur Gruppe der Ziliopathien gezählt wird. Lediglich MAPKBP1, welches 2017 als bislang letzte genetische Ursache eines spätmanifesten NPH-Phänotyps beschrieben wurde, kodiert nicht für strukturelle Zilienbestandteile, sondern scheint funktionelle Bedeutung für DNA-Reparaturmechanismen zu haben [7].
Historisch wird die NPH in eine infantile, juvenile und adulte Form unterteilt – abhängig vom Zeitpunkt des Auftretens der terminalen Niereninsuffizienz. Neben einer isolierten renalen Präsentation kann die NPH mit diversen extrarenalen Manifestationen assoziiert sein, welche insbesondere Augen, Leber, Knochen und ZNS betreffen. Darüber hinaus ist der renale NPH-Phänotyp Bestandteil diverser syndromaler Krankheitsbilder, welche unter dem Begriff „NPH-assoziierte Ziliopathien“ („NPH-related ciliopathies“, NPH-RC) zusammengefasst werden und für welche mittlerweile mehr als 80 ebenfalls zumeist ziliäre Gene beschrieben sind (Abb. 1).
Trotz der bahnbrechenden molekulargenetischen Erkenntnisse der vergangenen 20 Jahre stellen die große genetische und phänotypische Variabilität, fehlende Genotyp-Phänotyp-Korrelationen sowie zum Teil erhebliche klinische und molekulare Überschneidungen innerhalb der Erkrankungsgruppe Wissenschaftler und Behandler vor große Herausforderungen. Darüber hinaus fehlen krankheitsspezifische Biomarker, um einen individuellen Krankheitsverlauf abschätzen und eine adaptierte Beratung anbieten zu können. Nicht zuletzt existieren trotz der Identifikation multipler molekularer Signalwege [9] und damit potenzieller therapeutischer Angriffspunkte bis heute keine wirksamen Therapien, welche die progrediente Niereninsuffizienz NPH-assoziierter Ziliopathien relevant zu beeinflussen vermögen.

Zilien und Ziliopathien

Zilien sind hochspezialisierte Zellorganellen, welche als antennenähnliche Zellfortsätze solitär oder in Verbänden auf den Zelloberflächen fast aller Körperzellen zu finden sind. Man unterscheidet zwischen motilen und immotilen Zilien.
Motile Zilien bestehen aus neun Mikrotubuluspaaren, die zirkulär um ein zentrales Mikrotubuluspaar angeordnet sind. Dyneinarme und andere Moto-Proteine sorgen für einen gerichteten Zilienschlag. Motile Zilien finden sich in Verbänden von Tausenden auf Zelloberflächen des respiratorischen Epithels, der Eileiter sowie der Ependymzellen des Liquor bildenden Systems und sorgen für einen gerichteten Flüssigkeitstransport. Eine Sonderrolle nimmt das motile Monozilium am sogenannten Primitivknoten ein, welches durch seine Rotationsbewegung entscheidend zur embryonalen Organlateralisation beiträgt.
Primäre (nicht motile) Zilien befinden sich auf beinahe allen Körperzellen. Ihre Funktion besteht in der Übertragung externer Reize an das Zellinnere, womit sie entscheidend an verschiedensten Zellprozessen beteiligt sind, u. a. der Zellteilung, Zellorientierung, Zellpolarität, DNA-Reparatur, Mechano‑, Photo- und Geruchsrezeption. Primäre Zilien interagieren dabei mit diversen intrazellulären Signalwegen von zentraler Bedeutung für Wachstum und Entwicklung, so z. B. dem Shh (Sonic-Hedgehog)- oder dem Wnt-Signalweg.
Störungen der Zilienmotilität resultieren klinisch in chronischen respiratorischen Infekten, Infertilität und/oder Organlateralisationsdefekten (z. B. Situs inversus, Situs ambiguus, Kartagener-Syndrom). Defekte primärer Zilien hingegen können für ein breites Spektrum verschiedenster Organopathien verantwortlich sein (Abb. 2).

Nephronophthise

Klinik

Die Hauptcharakteristika der isolierten Nephronophthise sind ein vermindertes Urinkonzentrationsvermögen, das sich klinisch zumeist ab dem Schulalter als Polyurie und Polydipsie bemerkbar macht, in Kombination mit einer langsam progredienten Niereninsuffizienz. Einige Patienten fallen durch eine persistierende Einnässsymptomatik, eine Gedeihstörung und/oder einen Kleinwuchs auf. Die Urinanalyse ist typischerweise unauffällig, eine Proteinurie sowie eine arterielle Hypertonie finden sich selten und meist erst im Rahmen eines terminalen Nierenversagens. Eine Anämie tritt häufig mit dem terminalen Nierenversagen auf, kann aber in ca. 15 % der Patienten auch ohne Niereninsuffizienz beobachtet werden [6].
Sonomorphologisch stellen sich die Nieren normal groß oder verkleinert mit hyperechogenem Parenchym und verwaschener Mark-Rinden-Differenzierung dar. Nierenzysten, welche typischerweise am kortikomedullären Übergang lokalisiert sind, stellen keinen obligaten Bestandteil der NPH dar und können je nach zugrunde liegendem Gendefekt erst spät im Krankheitsverlauf auftreten.
Die häufigste, juvenile Form der NPH führt zu einer terminalen Niereninsuffizienz um das 13. Lebensjahr und wird in bis zu 15 % der Fälle auch erst dann diagnostiziert. Seltenere adoleszente Formen gehen mit einem langsameren Verlauf und einem terminalen Nierenversagen durchschnittlich um das 19. Lebensjahr einher. Homozygote Deletionen im NPHP1-Gen sind mit bis zu 60 % die häufigste genetische Ursache der juvenilen NPH. Allerdings wurden jüngst auch NPHP1-Mutationen als relevante Ursache eines Nierenversagens bei Erwachsenen im Alter zwischen 30 und 60 Jahren identifiziert [12]. Darüber hinaus wurden Mutationen in NPHP3, NPHP4 und NPHP9 als Ursache adoleszenter NPH-Formen beschrieben.
Abzugrenzen vom oben beschriebenen Phänotyp ist die infantile NPH, die sich bereits intrauterin bzw. im frühen Säuglingsalter durch vergrößerte, zystisch durchsetzte Nieren, eine arterielle Hypertonie sowie ein terminales Nierenversagen vor dem 4. Lebensjahr auszeichnet. Verantwortliche Genmutationen sind v. a. in NPHP2/INV, NPHP3, NPHP9/NEK8, NPHP16/ANKS6 sowie seltener in NPHP12/TTC21B, NPHP14/ZNF423 und NPHP18/CEP83 zu finden.

Nephronophthise-assoziierte Syndrome (NPH-RC)

Die Nephronophthise kann je nach zugrunde liegendem Gendefekt isoliert die Nieren oder auch multiple andere Organsysteme betreffen. Standardisierte phänotypische Untersuchungen ergaben extrarenale Manifestationen bei ca. 20–40 % der NPH-Patienten, was bislang angenommene Inzidenzen übersteigt [6]. Die Veränderungen betreffen dabei im Wesentlichen Augen, Leber, das ZNS sowie das Skelett. Seltener werden Organlateralisationsstörungen, Herzfehler, Genitalanomalien und endokrine Dysfunktionen (z. B Hypogonadismus, Kleinwuchs, Adipositas) beobachtet. Umgekehrt wurde die NPH als mögliche renale Manifestation folgender syndromaler Ziliopathien beschrieben:

Senior-Løken-Syndrom

Das Senior-Løken-Syndrom beschreibt ein Krankheitsbild, bei dem eine Nephronophthise zusammen mit einer Retinits pigmentosa (RP) oder einer Leber’schen Amaurose (LCA) vorliegt. Die RP zeichnet sich klinisch durch Nachtblindheit und progrediente Gesichtsfeldeinschränkung (Tunnelblick) aus, die im Verlauf mit einem kompletten Visusverlust einhergehen kann. Die Retina erscheint pigmentiert und atroph [10]. Bei der LCA liegt eine panretinale Netzhautdystrophie vor mit Nystagmus, starker Visusminderung und abgeschwächter Pupillenreaktion ab dem Säuglingsalter. Typisch ist das sog. okulodigitale Zeichen: Hierbei drücken betroffene Kinder auf ihre eigenen Augäpfel, um durch die erzeugte mechanische Stimulation der Netzhaut optische Lichtsignale zu provozieren. Das Elektroretinogramm zeigt ein stark abgeflachtes oder vollständig ausgelöschtes Signal [10].
Retinale Photorezeptoren bestehen aus einem äußeren und einem inneren Segment, welche über ein sog. „Verbindungszilium“ miteinander verbunden sind. Dieses entspricht strukturell einem Primärzilium mit einer „9 + 0“-Anordnung der Mikrotubuli und ist für den Transport des Sehfarbstoffs Rhodopsin vom inneren in das äußere Segment verantwortlich. Die Einheit aus Verbindungszilium und äußerem Segment wird daher auch als „photosensitives Zilium“ bezeichnet. Störungen im Zilienaufbau führen zur Akkumulation von Rhodopsin im inneren Segment und schließlich zur Apoptose der Photorezeptoren [10].
Das Auftreten einer Retinitis pigmentosa im Rahmen einer NPH variiert stark in Abhängigkeit von den zugrunde liegenden Mutationen (NPHP1 40 %, NPHP4 33 %, NPHP10 80 %, NPHP5, NPHP6 und IFT140 100 %, NPHP2, NPHP13 < 50 %) [6, 10].

Joubert-Syndrom und verwandte Erkrankungen

Das Joubert-Syndrom (JBTS) beschreibt eine heterogene Erkrankungsgruppe, deren pathognomonisches Kennzeichen eine Kleinhirnwurmhypoplasie ist, welche sich in der zerebralen Schnittbildgebung als sog. „molar tooth sign“ (Abb. 3) darstellt. Die klinische Symptomatik beinhaltet eine kongenitale Ataxie, Augenbewegungsstörungen, muskuläre Hypotonie, eine neonatale Tachypnoe sowie unterschiedliche Grade der Entwicklungsverzögerung. Des Weiteren können eine Leberfibrose, okuläre Kolobome, Retinadegeneration und Skelettveränderungen assoziiert sein. Eine renale Beteiligung wird in etwa 30 % der Fälle beobachtet, abhängig vom zugrunde liegenden Gendefekt. So gehen Mutationen in CEP290 und TMEM67 häufig mit einer NPH einher, während für Mutationen anderer JBTS-Gene (u. a. C5orf42 und KIAA0586) keine renale Beteiligung beschrieben ist [2]. NPHP1-Mutationen wurden in seltenen Fällen als Ursache eines JBTS identifiziert, spielen mit <2 % der Fälle jedoch eine eher untergeordnete Rolle.
Insgesamt ist die Gruppe der JBTS mit bislang 34 identifizierten Gen-Loci genetisch sehr heterogen, wobei Mutationen in AHI1, RPGRIP1L und CC2DA2 mit je 10 % den größten Anteil ausmachen. Für einzelne Gene (u. a. CEP290) konnte eine Korrelation zwischen Schwere der genetischen Veränderung und klinischer Präsentation nachgewiesen werden. Eine aktuelle Übersicht über die genetischen Grundlagen des Joubert-Formenkreises wurde jüngst von Parisi et al. publiziert [8].
Das COACH(„cerebellar vermis hypo/aplasia, oligophrenia, ataxia, ocular coloboma and hepatic fibrosis“)-Syndrom wird als Sonderform des JBTS gesehen und zeichnet sich neben okulären Kolobomen v. a. durch eine obligate Leberbeteiligung, hervorgerufen durch embryonale Gallengangs-Malformationen und hieraus resultierender Leberfibrose, aus. Häufigste genetische Ursache sind in bis zu 83 % Mutationen in TMEM67 (JBTS6, NPHP11, MKS3). Seltener sind CC2D2A (JBTS9, MKS6) oder RPGRIP1L (NPHP8, JBTS7, MKS5) betroffen [4].
Auch die Gruppe der Oro-fazio-digitalen-Syndrome (OFD1-12) werden zum Joubert-Formenkreis gezählt. Neben der Kleinhirnwurmhypoplasie zeichnen sie sich v. a. durch die namensgebenden Veränderungen an Gesichtsschädel, Zunge und den Fingern (Polydaktylie, Brachydaktylie) aus. Eine renale Beteiligung ist, außer bei OFD1, untypisch.

Congenitale okulomotorische Apraxie Typ Cogan (COMA)

Die COMA beschreibt die Störung gerichteter horizontaler Blickbewegung mit ruckartigen Bewegungen des Kopfes zur Bildfixierung. Ob die COMA als eigenständige syndromale Entität gesehen werden kann oder eher als Symptom anderer Ziliopathien gewertet werden muss, ist bislang unklar. Neuere Arbeiten zeigen, dass ca. 50 % der COMA-Patienten radiologisch ein „molar tooth sign“ aufwiesen und folglich als Joubert-Syndrom reklassifiziert werden müssten. Darüber hinaus sind COMA-spezifische Genmutationen nicht bekannt; beschriebene Mutationen finden sich in anderweitig bekannten NPH-RC-Genen (NPHP1, 4, 6, 8, 11) [13].

Bardet-Biedl-Syndrom (BBS)

Das Bardet-Biedl-Syndrom gilt als Vorzeigebeispiel einer multiviszeralen Ziliopathie, welche Pathologien verschiedener Organsysteme umfassen kann. Zu den klinischen Hauptmerkmalen zählen eine retinale Dystrophie mit progredientem Visusverlust (93 %), eine Hyperphagie mit konsekutiver Adipositas (72–92 %), ein Hypogonadismus (98 % der Knaben), eine postaxiale Polydaktylie (63–81 %), Lernschwierigkeiten (61 %) sowie renale Auffälligkeiten (53 %). Zu den sog. Nebenmerkmalen werden eine mentale und sprachliche Entwicklungsverzögerung (50–91 %), Insulinresistenz (6–48 %), Zahnanomalien (51 %), eine gesichtsbetonte muskuläre Hypotonie, zerebelläre Ataxie (40–86 %) und Hyposmie (60 %) gezählt [3]. Der renale Phänotyp entspricht häufig einer NPH und ist geprägt von einer Urinkonzentrationsstörung mit progredientem Nierenfunktionsverlust sowie kortikomedullären Nierenzysten.
Bislang wurden Mutationen in 21 BBS‐Genen (BBS1 bis BBS21) identifiziert, welche >90 % der klinischen Fälle erklären. Mutationen in BBS1 (ca. 50 %) und BBS10 (ca. 20 %) sind dabei die am häufigsten betroffenen Gene. In Einzelfällen wurden Mutationen in NPHP1 als Ursache eines BBS-Phänotyps beschrieben.
Das McKusick-Kaufman-Syndrom (MKKS) wird als eigenständiges Syndrom betrachtet, wenngleich sowohl genetisch als auch phänotypisch erhebliche Überschneidungen zum BBS vorliegen (Adipositas, postaxiale Hexadaktylie und genitale Malformationen). Verursachend sind Veränderungen im MKKS-Gen, welche im Falle zweier Nullmutationen phänotypisch in einem schwereren BBS-Phänotyp (BBS6) resultieren [11].
Klinisch bestehen darüber hinaus deutliche Überschneidungen zum Alström-Syndrom, einer durch ALMS1-Mutationen verursachten Ziliopathie, die sich ebenfalls durch eine frühmanifeste retinale Dystrophie, Adipositas, Diabetes mellitus Typ II, eine Intelligenzminderung sowie einen progredienten Nierenfunktionsverlust auszeichnet. Im Gegensatz zum BBS findet sich jedoch regelmäßig eine dilatative Kardiomyopathie.

Meckel-Gruber-Syndrom (MKS)

Das MKS beschreibt die schwerste Form NPH-assoziierter Ziliopathien und verläuft fast immer letal. Die globale Prävalenz beträgt ca. 1:135.000, in isolierten Populationen werden Prävalenzen bis zu 1:3500 beschrieben [4]. Zu den typischen klinischen Merkmalen zählen neben einer bilateralen zystischen Nierendysplasie, v. a. eine okzipitale Enzephalozele, eine Mikrophthalmie sowie weitere ZNS-Malformationen. Darüber hinaus sind Polydaktylien, ein Situs inversus, Gallengangsproliferationen sowie eine pulmonale Hypoplasie häufige Manifestationen. Viele der Veränderungen lassen sich bereits im Rahmen von Schwangerschaftsvorsorgeuntersuchungen nachweisen, was zum Teil eine vorzeitige Beendigung der Schwangerschaft zur Folge hat.
Genetisch konnten bislang Mutationen in 13 verschiedenen Zilien-Genen identifiziert werden, welche ca. 60 % aller MKS-Fälle erklären. Für manche Gene konnte eine Abhängigkeit des klinischen Bildes von der Schwere der Mutation nachgewiesen werden (siehe JBTS). Sowohl genetisch als auch klinisch bestehen Überlappungen mit anderen Ziliopathien (NPH, JBTS, BBS). Darüber hinaus müssen eine Trisomie 13 sowie ein Smith-Lemli-Opitz-Syndrom differenzialdiagnostisch abgegrenzt werden.

Kurzrippen-Thoraxhypoplasie-Polydaktylie-Syndrome (SRTD)

Verschiedene Vertreter dieser komplexen Gruppe skelettaler Ziliopathien können eine renale Beteiligung mit dem Phänotyp einer NPH aufweisen. Allen gemein sind die namensgebenden skelettalen Charakteristika: Patienten mit Mainzer-Saldino-Syndrom weisen typischerweise zapfenförmig veränderte Epiphysen im Bereich der Phalangen, eine NPH sowie eine Retinadegeneration auf. Auch das Jeune-Syndrom (asphyxierende Thoraxdysplasie) mit kurzen Extremitäten und hypoplastischem Thorax (Abb. 4) sowie das Ellis-van-Creveld-Syndrom mit Kleinwuchs, kurzen Extremitäten und Polydaktylie können mit einer NPH assoziiert sein. Der Phänotyp des Jeune- und des Sensenbrenner-Syndroms überlappen in Bezug auf die Thoraxdysplasie sowie das Vorhandensein einer Poly- und Brachydaktylie. Sensenbrenner-Patienten weisen jedoch zusätzlich meist eine Dolichozephalie, eine Trichterbrust sowie ein verspätetes Zahnen, langsames Nagelwachstum, eine Hyperelastizität der Haut und feines, schütteres Haar als Zeichen der ektodermalen Beteiligung auf.
Genetisch konnten in den vergangenen Jahren kausale Mutationen in multiplen Genen (IFT-Gene) identifiziert werden, deren Genprodukte in Zilien exprimiert werden und dort entscheidende Funktion für den intraflagellären Transport (IFT) haben [9].

RHYNS-Syndrom

Dieses Akronym steht für Retinitis pigmentosa, Hypopituitarismus, Nephronophthise und Skelettdysplasie. Bisher sind nur wenige Einzelfälle beschrieben. Eine Mutation im TMEM67-Gen konnte jüngst mit diesem Syndrom assoziiert werden ([1]; Abb. 5 und 6).

Weitere zystische Nierenerkrankungen

Ausgehend vom sonomorphologischen Erscheinungsbild und dem Vorhandensein zystischer Nierenläsionen, kann sich insbesondere in frühen Erkrankungsstadien die klinische Unterscheidung der NPH zu anderen hereditären zystischen Nierenerkrankungen schwierig gestalten. Als Hauptvertreter dieser Erkrankungsgruppe sind insbesondere die autosomal-rezessive und -dominante polyzystische Nierenerkrankung (ARPKD und ADPKD) sowie die dominant vererbte HNF1β Nephropathie als häufigste genetische Ursachen einer zystischen Nierendysplasie zu nennen. Darüber hinaus sind auch Mutationen in TSC1/2, UMOD, REN, MUC1 und DNAJB11 typischerweise mit dem Auftreten von zystischen Nierenläsionen assoziiert, wenngleich sich die hieraus resultierenden Krankheitsbilder sowohl im Erbgang (autosomal-dominant) als auch im Phänotyp und Krankheitsverlauf zum Teil erheblich von der NPH unterscheiden (Abb. 3).

Die Zilien-Theorie

Fast alle der bislang über 80 bei zystischen Nierenerkrankungen identifizierten Gene kodieren für Proteine, die strukturell und/oder funktionell mit primären Zilien in Verbindung gebracht werden. Dabei scheinen die Genprodukte bestimmter Erkrankungsentitäten unterschiedlichen Zilien-Kompartimenten zugeordnet zu sein: So finden sich die für NPH, das SLS, JBTS und MKS verantwortlichen Proteine zumeist an der Zilienbasis in der sog. Transitionszone. Die für das BBS verantwortlichen Proteine sind in einem funktionellen Cluster, dem sog. BBSom organisiert und sämtliche, das Skelettsystem betreffende Genprodukte scheinen eine entscheidende Bedeutung für den intraflagellären Transport zu haben (Abb. 4). Interessanterweise wurden in letzter Zeit ziliäre Proteine zunehmend auch mit extraziliären Funktionen in Verbindung gebracht, so übernehmen einige Zilien-Proteine Aufgaben im Golgi-Apparat, Zellkern, am Zytoskelett und sogar bei der T‑Zell-Aktivierung. Darüber hinaus konnten nicht ziliäre Proteine identifiziert werden, welche lediglich in indirekter Art und Weise Einfluss auf Funktion und Aufbau von Zilien haben, hierüber aber dennoch einen NPH-assoziierten Phänotyp hervorrufen können. Eine Zusammenstellung dieser Zusammenhänge ist in Referenz [5] zu finden.

Diagnostik

Mit dem Einzug moderner auf „next generation sequencing“ (NGS) basierter Sequenziermethoden bietet sich heute die Möglichkeit, sämtliche NPH-assoziierten Gene zeit- und kosteneffektiv untersuchen zu lassen. Da trotz der Vielzahl der mittlerweile identifizierten NPHP-Gene weiterhin die homozygote NPHP1-Deletion die mit Abstand häufigste genetische Ursache einer isolierten juvenilen NPH darstellt, macht es Sinn, im Falle der hierfür typischen Klinik den Ausschluss einer solchen Deletion der NGS-basierten Diagnostik vorzuschalten. Ungeachtet der darüber hinaus zur Verfügung stehenden diagnostischen Möglichkeiten bergen die hohe genetische und phänotypische Variabilität sowie die zum Teil erheblichen Überschneidungen der einzelnen Krankheitsentitäten die Gefahr, dass trotz umfangreicher genetischer Diagnostik die prognostische Aussagekraft uneindeutig oder limitiert bleibt. Dies hat zur Folge, dass Kliniker und Genetiker in den heutigen Zeiten die Diagnose einer NPH und erst recht einer NPH-assoziierten Ziliopathie weder ausschließlich auf der Basis klinischer Charakteristika noch allein auf dem genetischen Befund basierend treffen sollten. Es bedarf der sorgfältigen Beurteilung genetischer Varianten sowie einer umfassenden Phänotypisierung, um das komplette Spektrum der NPH-assoziierten Ziliopathien und die damit verbundenen individuellen Prognosen zu erfassen.

Herausforderungen und Aussichten

Um diesen Anforderungen Rechnung tragen zu können, bedarf es großer, standardisierter überregionaler Patientenregister, in welchen sowohl der zugrunde liegende Genotyp, vor allem aber der detaillierte Phänotyp betroffener Patienten erfasst und prospektiv nachverfolgt werden kann. In Betracht ziehend, dass es sich bei allen NPH-assoziierten Ziliopathien um sehr seltene Erkrankungen handelt, bietet eine zentrale registerbasierte Erfassung vermutlich die einzige Möglichkeit, die notwendigen Patientenzahlen zu generieren, welche verlässliche prognostische Aussagen zulassen.
Vor diesem Hintergrund wurde 2016 der BMBF-geförderte Forschungsverbund NEOCYST (Network for Early Onset Cystic Kidney Diseases) ins Leben gerufen. NEOCYST verknüpft als multidisziplinäres Netzwerk aus Klinikern, Genetikern und Grundlagenwissenschaftlern eine detaillierte Langzeiterfassung klinischer und genetischer Daten in einem online-basierten Register (www.​neocyst.​de) mit der Erforschung molekularbiologischer Grundlagenprozesse. In dem hierbei verwirklichten umfassenden Ansatz ergibt sich erstmals die Möglichkeit, klinische Fragestellungen unmittelbar an Patientenproben molekularbiologisch aufzuarbeiten und umgekehrt molekularbiologische Erkenntnisse direkt zurück ans Krankenbett übertragen zu können. Durch die unmittelbare Verknüpfung klinischer Krankheitspräsentationen mit zugrunde liegenden pathophysiologischen Prozessen hat es sich der NEOCYST-Verbund u. a. zur Aufgabe gemacht, prognostische krankheitsspezifische Markermoleküle auszumachen und potenzielle therapeutische Angriffspunkte zu identifizieren, welche die Entwicklung zukünftiger Therapeutika ermöglichen.

Fazit für die Praxis

Die NPH und NPH-assoziierten Ziliopathien umfassen eine klinisch und genetisch heterogene Gruppe hereditärer seltener Erkrankungen, die neben den Nieren multiple andere Organsysteme betreffen und phänotypische Überschneidungen mit diversen zystischen Nierenerkrankungen aufweisen können. Voraussetzung für eine zeitgerechte, korrekte Diagnose sowie eine individuelle Beratung sind neben einer detaillierten Phänotypisierung die sorgfältige Beurteilung genetischer Veränderungen mittels moderner NGS-basierter Methoden. Darüber hinaus sollten aufgrund der Seltenheit der einzelnen Gendefekte möglichst alle Krankheitsverläufe zentral in einem klinischen Register erfasst werden. Die Betreuung betroffener Patienten erfordert zumeist einen hohen Grad an Interdisziplinarität und sollte an spezialisierten Zentren erfolgen.

Förderung

Dr. med. Jens König und Dr. med. univ. Andrea Titieni werden durch das BMBF im Rahmen des NEOCYST-Netzwerkes unterstützt (Förderkennzeichen 01GM1515A).

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

A. Titieni und J. König geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Dieser Beitrag beinhaltet keine von den Autoren durchgeführten Studien an Menschen oder Tieren. Für Bildmaterial oder anderweitige Angaben innerhalb des Manuskripts, über die Patienten zu identifizieren sind, liegt von ihnen und/oder ihren gesetzlichen Vertretern eine schriftliche Einwilligung vor.
Open Access. Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (http://​creativecommons.​org/​licenses/​by/​4.​0/​deed.​de) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.

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Literatur
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Metadaten
Titel
Nephronophthise und assoziierte Ziliopathien
verfasst von
Dr. med. univ. Andrea Titieni
Dr. med. Jens König
Publikationsdatum
22.11.2018
Verlag
Springer Medizin
Erschienen in
medizinische genetik / Ausgabe 4/2018
Print ISSN: 0936-5931
Elektronische ISSN: 1863-5490
DOI
https://doi.org/10.1007/s11825-018-0213-3

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