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Die Ärztliche Begutachtung
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Publiziert am: 09.06.2022

Begutachtung chronischer Schmerzsyndrome

Verfasst von: Elena Enax-Krumova und Martin Tegenthoff
Schmerzen sind häufig, in unterschiedlichsten Formen zu finden und stellen von daher eine häufige Fragestellung in der medizinischen Begutachtung dar. Die Durchführung einer speziellen Begutachtung von Schmerzsyndromen ist vor allem dann erforderlich, wenn eine deutliche Diskrepanz zwischen dem Ausmaß und der Dauer der geklagten Schmerzen und der objektiv nachweisbaren Organschädigung besteht, wenn psychische Faktoren das Schmerzerleben mit Wahrscheinlichkeit mitbestimmen oder wenn ein sogenanntes „außergewöhnliches Schmerzsyndrom“ (z. B. Phantomschmerz, komplexes regionales Schmerzsyndrom etc.) vorliegt. Auf Grund der zunehmenden Bedeutung der speziellen schmerzmedizinischen Begutachtung eine „Interdisziplinäre AWMF-Leitlinie für die Begutachtung“ von Menschen mit chronischen Schmerzen erstellt, die vor allem der Qualitätssicherung dienen soll.

Einleitung

Schmerzen sind häufig, in unterschiedlichsten Formen zu finden und stellen von daher eine häufige Fragestellung in der medizinischen Begutachtung dar. Die Durchführung einer speziellen Begutachtung von Schmerzsyndromen ist vor allem dann erforderlich, wenn eine deutliche Diskrepanz zwischen dem Ausmaß und der Dauer der geklagten Schmerzen und der objektiv nachweisbaren Organschädigung besteht, wenn psychische Faktoren das Schmerzerleben mit Wahrscheinlichkeit mitbestimmen oder wenn ein sogenanntes „außergewöhnliches Schmerzsyndrom“ (z. B. Phantomschmerz, komplexes regionales Schmerzsyndrom etc.) vorliegt.
Auf Grund einer zunehmenden Bedeutung der speziellen schmerzmedizinischen Begutachtung wurde eine „Interdisziplinäre Leitlinie für die Begutachtung von Menschen mit chronischen Schmerzen (AWMF-Regnr. 094-003)“ mit dem Ziel einer Qualitätssicherung erstellt, die aktuell in der 4 aktualisierten Version als S2k-Leitlinie (2017) zur Verfügung steht (AWMF-Leitlinie Ärztliche (o. J.)).

Voraussetzungen für die Gutachterqualifikation

Als Voraussetzung für die Begutachtung von Menschen mit chronischen Schmerzsyndromen gelten zum einen Kenntnisse über die Schmerzentstehung, -verarbeitung und -chronifizierung, wie sie u. a. im Rahmen der ärztlichen Zusatzweiterbildung „Spezielle Schmerztherapie“ erworben werden. Das Gutachten soll sich auf schmerzmedizinische Erkenntnisse stützen, die in medizinisch-wissenschaftlichen Publikationen und Leitlinien als allgemein gesichert gelten. Zum anderen werden gutachtenrelevante Kenntnisse der verschiedenen Rechtsgebiete gefordert (Schönberger et al. 2017), wie sie u. a. im Rahmen der Zusatzqualifikation „Medizinische Begutachtung“ nach den Vorgaben der Bundesärztekammer vermittelt werden (Dertwinkel und Pielsticker 2018).
Die Begutachtung von Menschen mit chronischen Schmerzen stellt eine interdisziplinäre Aufgabe mit Beurteilung körperlicher sowie auch psychischer Gesundheitsstörungen dar. Basis jeder Begutachtung von Schmerzen ist eine ausführliche klinische Untersuchung. Damit ist die Begutachtung von Schmerzen primär eine ärztliche Aufgabe. Neben einer primären organbezogenen Begutachtung ist es allerdings häufig notwendig, auch psychische Begleitfaktoren zu beurteilen. Falls der Gutachter allein keine entsprechend umfassende Kompetenz aufweist, wird eine interdisziplinäre Begutachtung empfohlen, z. B. unter Hinzuziehung einer schmerzpsychologischen Mitbegutachtung.
Bei der Gutachtensbezeichnung ist die Fachgebietsbezeichnung des Sachverständigen an erster Stelle zu nennen, ggf. mit dem Zusatz „unter besonderer Berücksichtigung chronischer Schmerzen/der Schmerzsymptomatik“. Alternativ kann der Begriff „schmerzmedizinisches Gutachten“ verwendet werden, sofern der Gutachter über eine spezielle Qualifikation im Bereich „Schmerz“ verfügt. Es ist darauf zu achten, dass das Gutachten nicht als „schmerztherapeutisches“ Gutachten bezeichnet wird.

Einteilung chronischer Schmerzen aus gutachterlicher Sicht

Neben der bekannten pathophysiologischen Klassifikation von Schmerzen, ist bei der Begutachtung von Schmerzsyndromen eine vereinfachte Einteilung chronischer Schmerzen in drei große Kategorien bezüglich der Mitbeteiligung einer Gewebeschädigung und/oder einer psychischen Erkrankung in der Genese der Schmerzsyndrome sinnvoll (Abb. 1) (AWMF-Leitlinie Ärztliche (o. J.); Widder 2018). Diese Einteilung ist u. a. bei der Quantifizierung der schmerzbedingten Funktionsbeeinträchtigungen sowie auch für die Zusammenhangsbegutachtung zu berücksichtigen (Abb. 1).
Bei der gutachtlichen Beurteilung muss zwischen „üblichen Schmerzen“, die als typisches Begleitsymptom einer Gewebeschädigung (nozizeptiv, viszeral, neuropathisch) auftreten können und insofern in den gutachtlichen Bewertungstabellen der entsprechenden Fachgebiete bereits berücksichtigt sind, und „außergewöhnlichen Schmerzen“ differenziert werden. Zu den außergewöhnlichen Schmerzen zählen u. a. neuropathische Schmerzen zum Beispiel nach Extremitätenamputation (Phantomschmerzen) oder das komplexe regionale Schmerzsyndrom (AWMF-Leitlinie Ärztliche (o. J.)). In diesen Fällen ist nach einer eindeutigen diagnostischen Einordnung häufig eine eigenständige Bewertung der schmerzbedingten Funktionsbeeinträchtigungen nach dem jeweiligen Rechtsgebiet, z. B. Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) oder des Grades der Behinderung bzw. der Schädigungsfolge (GdB bzw. GdS).

Zustandsbegutachtung

Eine Zustandsbegutachtung erfolgt bei Fragen der beruflichen Leistungsfähigkeit, im Schwerbehindertenrecht und zur Bewertung geklagter Schmerzen bei gutachterlich geklärter Kausalität nach versicherten Schädigungsereignissen. Hierbei sind eine detaillierte Exploration der Beeinträchtigung der Alltagsaktivitäten und der sozialen Partizipation im zeitlichen Verlauf sowie eine eingehende körperliche Befunderhebung (mit Erfassung aller Schmerzlokalisationen, weiterer Körperbeschwerden, Exploration der Psychopathologie) unerlässlich. Soweit möglich und sinnvoll, sollen Fragebögen und Skalen eingesetzt werden, deren Ergebnisse im Kontext zu den übrigen Befunden im Rahmen der Beschwerdevalidierung kritisch diskutiert werden müssen. Fragebogenergebnisse oder Skalenwerte allein können niemals isoliert Grundlage einer gutachterlichen Bewertung sein. Differenzialdiagnostische Erwägungen unter Berücksichtigung somatischer, psychischer, sozialer Aspekte und eine umfassende Konsistenzprüfung der geklagten Beschwerden und Beeinträchtigungen (s. u.) sind ein wesentlicher Teil der Begutachtung. Letztlich soll die „willentliche Steuerbarkeit“ der geklagten Beschwerden und Beeinträchtigungen auf der Basis persönlicher Ressourcen diskutiert werden (AWMF-Leitlinie Ärztliche (o. J.); Widder 2018).

Zusammenhangsbegutachtung

Bei der Zusammenhangsbegutachtung wird der Nachweis eines körperlichen und/oder psychischen Erstschadens (Vollbeweis in allen Rechtsgebieten) gefordert. Des Weiteren ist der Nachweis des zeitlichen Zusammenhangs (bis auf wenige Ausnahmen, z. B. Entwicklung eines komplexen regionalen Schmerzsyndroms nach Extremitätenverletzung oder Entwicklung eines zentralen neuropathischen Schmerzsyndroms nach einer Hirnblutung) notwendig, wobei der alleinige zeitliche Zusammenhang jedoch nicht genügt, um eine Kausalität herzustellen. Ferner ist der Nachweis des typischen Schmerzverlaufs (abhängig vom Erstschaden, der mit den geklagten Beeinträchtigungen korrelieren muss) wichtig. Hierbei müssen auch Vorerkrankungen/Vorschäden sowie konkurrierende schädigungsunabhängige Erkrankungen berücksichtigt werden, insbesondere dann, wenn sich der Schmerzverlauf anders darstellt, als nach dem nachgewiesenen körperlichen Schädigungsereignis zu erwarten wäre.

Gutachterliche Untersuchung

Anamnese

Eine detaillierte Anamnese ist die Grundlage für die weitere gutachterliche Beurteilung von Schmerzsyndromen. Neben den üblichen anamnestischen Angaben sind eine spezielle Schmerzanamnese und eine Behandlungsanamnese bei der Schmerzbegutachtung von besonderer Bedeutung (Egle et al. 2014). Eine möglichst detaillierte Charakterisierung der Schmerzsymptomatik u. a. hinsichtlich Häufigkeit, Dauer, Lokalisation und Modifikationsmöglichkeiten ist für die Einordnung der Schmerzsymptomatik und für eine Konsistenzprüfung z. B. im Vergleich zur Darstellung in der Aktenlage, unabdingbar. Ebenso wichtig ist die Behandlungsanamnese, die die Art, Dauer und Effektivität aller verordneter und auch selbst initiierter bisheriger Behandlungsmaßnahmen einschließen muss. Hierbei muss erfragt werden, welche dieser Therapiemaßnahmen zu einer Veränderung, insbesondere einer Besserung der Schmerzsymptomatik geführt hat. Die vollständig fehlende Beeinflussbarkeit eines Schmerzsyndroms durch verschiedene therapeutische Maßnahmen über einen längeren Zeitraum sollte Anlass für eine kritische Überprüfung der subjektiv geklagten Beschwerden sein (s. u.).
Ein weiterer wesentlicher Teil der Anamnese besteht in der Abfrage der subjektiv empfundenen Einschränkungen in den täglichen Aktivitäten, in der sozialen Teilhabe sowie der beruflichen Leistungsfähigkeit durch das geklagte Schmerzsyndrom. Allein die subjektiv geschilderte Schmerzausprägung bzw. -intensität erlaubt noch keine Rückschlüsse bezüglich der resultierenden funktionellen Beeinträchtigungen, welche im Rahmen der Begutachtung letztlich von Bedeutung sind. Die Erhebung einer Fremdanamnese mit Einverständnis des Probanden kann gerade im Hinblick auf eine Konsistenzprüfung im Einzelfall hilfreich sein.

Klinische Untersuchung

Auch die gutachterliche klinische Untersuchung dient wesentlich der Konsistenzprüfung der vom Probanden angegebenen schmerzbedingten Funktionsbeeinträchtigungen. Der Gutachter muss beurteilen, ob die angegebenen Funktionsbeeinträchtigungen im Rahmen der körperlichen Befunderhebung und der Verhaltensbeobachtung während der Untersuchung plausibel sind. Dies betrifft z. B. die Spontanmotorik, die Fähigkeit längerfristig eine unveränderte Position beim Sitzen einzuhalten oder auch das Bewegungsmuster beim Eintreten sowie beim An- und Auskleiden. Im Rahmen der klinischen Befunderhebung wird z. B. untersucht, ob einseitig geklagte schmerzhafte Beschwerden mit einem subjektiv geschilderten Funktionsdefizit zu einer seitendifferenten Ausprägung z. B. der jeweiligen Muskulatur, der Hand- oder Fußbeschwielung oder auch der Gebrauchsspuren im Bereich der Schuhe geführt haben. Schwieriger zu bewerten sind sicherlich sekundäre Faktoren wie z. B. Inkonsistenzen zwischen dem äußeren Erscheinungsbild des Probanden und dessen psychophysischen Beschwerden, die bei chronischen Schmerzen neben der Funktionsstörung häufig beklagt werden.

Apparative Untersuchungen

Apparativ-zusatzdiagnostische Verfahren wie Röntgen-, CT- oder MRT-Untersuchungen sowie neurophysiologische Untersuchungsverfahren sind letztlich nicht geeignet Schmerzen zu objektivieren. Ihre wesentliche Bedeutung liegt eher im Nachweis oder im Ausschluss organischer Schmerzgrundlagen. Auch funktionelle Bildgebungsverfahren wie die funktionelle Kernspintomografie oder die Positronenemissionstomographie sind unter einer gutachtlichen Fragestellung nicht geeignet, Schmerzen beim einzelnen Individuum nachzuweisen bzw. zu objektivieren.

Fragebögen/Selbstbeurteilungsskalen

Fragebögen bzw. Selbstbeurteilungsskalen werden in der Schmerzbegutachtung häufig eingesetzt und werden zum Teil auch von der Rechtsprechung gefordert. Bei der Interpretation der Ergebnisse ist jedoch zu beachten, dass die Angaben vollständig subjektiv sind und ausdrücklich nicht als objektive Parameter verwendet werden können (Widder 2018). Dies betrifft sowohl das Ausmaß von Funktionsstörungen, als auch die häufig abgefragten Skalen zur Erfassung der Schmerzstärke (NRS, VAS). Eine wesentliche Rolle spielen die Selbstbeurteilungsskalen jedoch beim Abgleich ihrer Ergebnisse mit den Befunden aus Anamnese, klinischer Untersuchung und Aktenlage. Übereinstimmende Befunde können durchaus eine Validierung der Beschwerdeschilderung stützen, während diskrepante Befunde eine kritische Überprüfung der subjektiven Angaben zwingend erforderlich machen. Eine kritiklose Übernahme der Selbsteinschätzung des Probanden in die gutachterliche Beurteilung ist zu vermeiden.

Beschwerdenvalidierung/Konsistenzprüfung

Die Konsistenzprüfung bzw. Beschwerdenvalidierung ist ein wesentlicher Teil der Begutachtung von Schmerzen, da weder apparativ-technische Befunde, noch die klinischen Diagnosen oder die Stadieneinteilungen der Schmerzchronifizierung allein Rückschlüsse über das funktionelle Ausmaß schmerzbedingter Beeinträchtigungen erlauben. Vielmehr ist ein kritischer Abgleich aller vorhandenen Informationen aus der Krankengeschichte (Aktenlage), der Anamnese, der klinischen Befunderhebung und Verhaltensbeobachtung, den Selbstbeurteilungsskalen und gegebenenfalls vorhandener apparativer Zusatzbefunde im Rahmen der gutachterlichen Beurteilung vorzunehmen (AWMF-Leitlinie Ärztliche (o. J.); Merten 2014). Unter einer gezielten Fragestellung kann in diesem Rahmen ggf. auch eine Serumspiegelbestimmung der vom Probanden angegebenen Analgetika hilfreich sein, wobei quantitative Aussagen auf Grund individuell unterschiedlicher Metabolisierungsgeschwindigkeiten nur eingeschränkt beurteilbar sind. Demgegenüber ist ein nicht nachweisbarer Medikamentenspiegel im Blutserum bei Angabe einer regelhaft eingenommenen entsprechenden Medikamentendosis durchaus als nicht plausibel zu werten.
Die von neuropsychologischer Seite bei der Untersuchung von kognitiven Beeinträchtigungen zum Beispiel nach Schädelhirntraumen eingesetzten Beschwerdevalidierungsverfahren sind nicht direkt auf die Begutachtungssituation bei Schmerzsyndromen übertragbar (Merten 2014). Ihr Einsatz ist nur im Einzelfall bei gleichzeitig vorliegenden kognitiven Beeinträchtigungen des Probanden mit einer kritischen Wertung begründet.
Folgende diskrepanten Befunde stellen typische Konstellationen dar, bei denen das Ausmaß der subjektiv geklagten schmerzbedingten Funktionsbeeinträchtigungen kritisch diskutiert werden sollte
  • starke Intensität der subjektiven Beschwerdeschilderung bei einer weitgehend fehlenden körperlichen und/oder psychischen Beeinträchtigung in der Gutachtensituation;
  • starke Intensität der subjektiven Beschwerdeschilderung bei kurzer Dauer und/oder inkonsequenter Durchführung bisheriger therapeutischer Maßnahmen;
  • ausgeprägte subjektiv geschilderte Beeinträchtigung bei erhaltenen psychosozialen Kontakten und unbeeinträchtigter Alltagsbewältigung
  • subjektiv geschilderte starke Intensität der Beschwerden bei eher vager, unpräziser, ausweichender Beschreibung der Symptomatik.
Zu prüfen ist weiterhin, inwieweit der Proband in der Lage ist durch eine „zumutbare Willensanspannung“ eine vorhandene schmerzbedingte Funktionsbeeinträchtigung zu reduzieren oder zu überwinden (Widder 2018). In diesem Zusammenhang sind motivationale Faktoren und möglicherweise vorhandene Zielkonflikte, in denen die Schmerzsymptomatik für den Probanden einen sekundären Krankheitsgewinn begründet zu evaluieren.

Besonderheiten bei Menschen aus anderen Kulturkreisen

Der gutachterlichen Beurteilung von Schmerzsyndromen bei Probanden aus einem anderen Kulturkreis kann problematisch sein, da Schmerz kulturabhängig sehr unterschiedlich empfunden und ausgedrückt werden kann (Schiltenwolf und Pogatzki-Zahn 2015). Bei entsprechenden Begutachtungen durch nicht selbst sprachkompetente Untersucher sind neben der Einschaltung kompetenter externer Dolmetscher bzw. Sprachmittler, die nicht aus dem Familien- oder Freundeskreis stammen sollten, insofern beim einzelnen Probanden „Abweichungen“ vom üblichen mitteleuropäisch geprägten Schmerzverständnis in Betracht zu ziehen und gegebenenfalls kritisch zu prüfen.
Da Schmerz beim einzelnen Individuum apparativ/technisch weiterhin nicht objektiv messbar bzw. quantifizierbar ist besteht ein wesentlicher Teil der Schmerzbegutachtung im Zusammentragen unterschiedlicher Befunde bzw. Indizien und in deren Konsistenzprüfung. Schmerzbegutachtung ist insofern zeitaufwendig.

Gutachterliche Bewertung

Kommt der Gutachter auf der Basis der hier skizzierten Vorgehensweise zu dem Schluss, dass bei dem Probanden eine schmerzbedingte Funktionseinschränkung vorliegt, begründet dies in Abhängigkeit vom Ausmaß der Beeinträchtigung je nach dem Rechtssystem, in dem die Begutachtung stattfindet, eine eigenständige MdE/einen eigenständigen GdB/GdS. Hier empfiehlt sich, die anerkannten gutachterlichen Bewertungstabellen zum Beispiel für orthopädisch-chirurgische bzw. neurologische Gesundheitsstörungen im Bereich der Extremitäten oder der Wirbelsäule vergleichend heranzuziehen. In der Regel kann durch eine eigenständige schmerzbedingte Funktionsbeeinträchtigung eine zusätzliche MdE/ein zusätzlicher GdB/GdS von etwa 10–20 % begründet werden. Darüber hinausgehende Entschädigungswerte sind im Einzelfall durchaus möglich, bedürfen jedoch explizit einer intensiven Erläuterung und Begründung, um für den Auftraggeber nachvollziehbar zu sein.

Beispiele häufig strittiger Krankheitsbilder

Komplexes regionales Schmerzsyndrom (CRPS)

Die Begutachtung des CRPS kann häufig schwierig sein und zu kontroversen Beurteilungen führen. Ein wesentliches Problem dabei stellt die diagnostische Sicherung des CRPS dar, die weiterhin im Wesentlichen gestützt auf klinische Kriterien erfolgt, welche aktuell in den sog. „Budapest-Kriterien“ zusammengefasst sind (Enax-Krumova und Tegenthoff 2017). Zudem stehen das Ausmaß der Beschwerden und der Funktionsbeeinträchtigungen häufig in einem Missverhältnis zum Schweregrad der zugrunde liegenden organischen Traumatisierung. Die beklagten Schmerzen und Sensibilitätsstörungen und die motoirischen Defizite überschreiten per Definition die anatomischen Versorgungsgebiete einzelner peripherer Nerven und breiten sich demgegenüber generalisiert im Bereich einer distalen Extremität aus. Die Erfassung und Dokumentation objektivierbarer klinischer Auffälligkeiten zum Untersuchungszeitpunkt (Kriterium 3 der sog. „Budapest-Kriterien“), stellt dabei eine wesentliche Basis für die Diagnose des CRPS gerade im Rahmen der Begutachtung dar. Apparative Befunde wie eine generalisierte gelenknahe Mehranreicherung in der Spätphase einer Dreiphasen-Skelettszintigraphie oder Röntgenuntersuchungen zum Texturvergleich können die Diagnose zwar unterstützen, sind aber allein nicht ausreichend sensitiv genug, um ein CRPS im zeitlichen Verlauf auszuschließen. Eine rein auf subjektive Beschwerdeschilderungen gestützte Diagnose des CRPS ist im gutachtlichen Kontext nicht zu akzeptieren (AWMF-Leitlinie Ärztliche (o. J.); Widder und Tegenthoff 2014). Vielmehr müssen immer auch objektivierbare klinische Befunde (ggf. auch retrospektiv nachvollziehbar in der Aktenlage) vorliegen, um die Anerkennung persistierender CRPS-bedingter Funktionseinschränkungen zu ermöglichen, die nicht durch eine andere Erkrankung oder allein durch Immobilisation aus anderen Gründen zu erklären sind. (Vgl. AWMF-Leitlinie Reg. Nr. 094-003, (AWMF-Leitlinie Ärztliche (o. J.))).

Posttraumatische Kopfschmerzen

Bei anhaltenden Kopfschmerzen nach einem Trauma wird in der aktuellen 3. Auflage der Internationalen Klassifikation von Kopfschmerzerkrankungen, (ICHD-3) zwischen anhaltenden Kopfschmerzen infolge einer leichten (Ziffer 5.2.2), einer mittelgradigen oder einer schweren traumatischen Schädigung (Ziffer 5.2.1) unterschieden, bzw. solchen aufgrund einer Kraniotomie (Ziffer 5.6) oder eines HWS-Beschleunigungstraumas (Ziffer 5.4). Allen gemeinsam soll ein Auftreten des Kopfschmerzes innerhalb von 7 Tagen nach dem Primärtrauma (bzw. nach Wiedererlangen des Bewusstseins) und eine Persistenz über 3 Monate sein. Auf Grund des unterschiedlichen Schweregrades der Primärverletzung bei den o. g. Beispielen müssen jedoch unterschiedliche Pathomechanismen, die zur Schmerzchronifizierung beitragen, angenommen werden (Evers et al. 2010). Daher ist aus gutachterlicher Sicht die Anerkennung andauernder posttraumatischer Kopfschmerzen nach einer Kopfverletzung über einen Zeitraum von mehr als 6–12 Monaten nur dann zulässig, wenn ein geeignetes morphologisches Korrelat nachweisbar ist und die Kausalitätskriterien des jeweiligen Rechtsgebietes erfüllt sind (Vgl. AWMF-Leitlinie Reg.-Nr. 094-002, (Evers et al. 2010)).
Literatur
AWMF-Leitlinie „Begutachtung nach gedecktem Schädel-Hirntrauma im Erwachsenenalter“. https://​www.​awmf.​org/​leitlinien/​detail/​ll/​094-002.​html. Zugegriffen am 01.08.2021
AWMF-Leitlinie Ärztliche (o. J.) Begutachtung von Menschen mit chronischen Schmerzen. https://​www.​awmf.​org/​leitlinien/​detail/​ll/​094-003.​html. Zugegriffen am 01.08.2021
Dertwinkel R, Pielsticker (2018) Begutachtung in der Schmerzmedizin. In: Baron R et al (Hrsg) Praktische Schmerzmedizin. Springer, Berlin
Egle U, Kappis B, Schairer U, Stadtland C (Hrsg) (2014) Begutachtung chronischer Schmerzen. Urban & Fischer, München
Enax-Krumova E, Tegenthoff M (2017) Diagnosesicherung bei der Begutachtung des komplexen regionalen Schmerzsyndroms (CRPS). Med Sach 113:222–225
Evers S, May A, Heuft G, Husstedt IW, Keidel M, Malzacher V, Straube A, Widder B (2010) Die Begutachtung von idiopathischen und symptomatischen Kopfschmerzen. Nervenheilkunde 4:229–241
Merten T (2014) Beschwerdenvalidierung. Hogrefe, Göttingen
Schiltenwolf M, Pogatzki-Zahn EM (2015) Schmerzmedizin aus einer interkulturellen und geschlechterspezifischen Perspektive. Schmerz 29:569–575CrossRef
Schönberger A, Mehrtens G, Valentin H (2017) Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl. Erich Schmidt, Berlin
Widder B (2018) Schmerzsyndrome. In: Widder B, Gaidzik PW (Hrsg) Neurowissenschaftliche Begutachtung. Georg Thieme Verlag KG, Stuttgart, S 428–445
Widder B, Tegenthoff M (2014) Begutachtung komplexer regionaler Schmerzsyndrome (CRPS). Med Sach 110:26–31