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Die Augenheilkunde
Info
Publiziert am: 16.10.2023

Ophthalmologische Begutachtung

Verfasst von: Frank Tost
Die ophthalmologische Begutachtung ist ein umfangreiches Spezialgebiet der medizinischen Begutachtung. In diesem Beitrag werden dem Augenarzt wichtige allgemeine Inhalte zur medizinischen Begutachtung aus den verschiedenen Rechtsbereichen unter ophthalmologischen Aspekten vermittelt. Wodurch unterscheiden sich Gutachtenaufträge mit finaler und kausaler Fragestellung, wann kommt es bei vermutetem ärztlichen Behandlungsfehler zur Beweislastumkehr, welches Beweismaß wird bei der medizinischen Zusammenhangsbegutachtung gefordert? Die Vorgaben für diesen Beitrag erlauben es nicht, die Thematik in angemessener Ausführlichkeit darzulegen. Letzteres ist auch nicht nötig, weil hierzu auf die weiter unten genannten Standardwerke verwiesen werden kann. Zudem zeigt die alltägliche Begutachtungspraxis, wie wichtig auch allgemeine Kenntnisse zu den Grundlagen der medizinischen Begutachtung und zur Definition rechtlicher Begriffe wie Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE), Minderung der Gebrauchsfähigkeit (MdG), Grad der Schädigungsfolgen/ Grad der Behinderung (GdS/GdB) oder Facharztstandard sind.

Einleitung

Der Augenarzt vollzieht den Rollenwechsel vom helfenden Arzt zum ärztlichen Sachverständigen erfolgreich, wenn er die oft komplexe gutachtliche Problemstellung neutral und sachlich analysiert. Dem augenärztlichen Gutachter sollte ebenso bewusst sein, dass die besondere fachspezifische Leistung des Sachverständigen nicht nur die Prüfung der Übereinstimmungsvalidität der gewonnenen Ergebnisse der Funktionsprüfungen beispielsweise bei der Gesichtsfelduntersuchung umfasst, sondern bei Beantwortung der Fragestellung auch die Angemessenheit der gutachtlichen Schlussfolgerungen im Hinblick auf deren medizinische Plausibilität vor allem zwischen objektiven pathomorphologischen Befunden am Sehorgan und den Resultaten der Funktionsprüfung unter Beachtung der subjektiven Beschwerdeschilderung unaufgefordert beinhaltet.
Für Einzelheiten der medizinischen Begutachtung sei auf die Fachliteratur zur Begutachtung in der Augenheilkunde (z. B. Gramberg-Danielsen 2010; Lachenmayr et al. 2019) und das interdisziplinäre Standardwerk über „Die Ärztliche Begutachtung“ von Breuer, Fritze et al. 2024 verwiesen. Allen augenärztlichen Sachverständigen sei empfohlen, die Möglichkeit der Fortbildung im Rahmen des BÄK (Bundesärztekammer)-Curriculums „Medizinische Begutachtung“ mit dem fachspezifischen Modul III Augenheilkunde zu nutzen. Aktuelle Informationen zu Fragen der ophthalmologischen Begutachtung erscheinen zudem in größeren Abständen als Stellungnahmen der gemeinsamen Rechtskommission von DOG und BVA oder als Kommentare in Fachjournalen.

Allgemeines

Die Berufsordnung für die Ärztinnen und Ärzte der einzelnen Bundesländer führt unter § 25 Ärztliche Gutachten und Zeugnisse aus: Bei der Ausstellung ärztlicher Gutachten und Zeugnisse haben Ärztinnen und Ärzte mit der notwendigen Sorgfalt zu verfahren und nach bestem Wissen ihre ärztliche Überzeugung auszusprechen. Gutachten und Zeugnisse, zu deren Ausstellung Ärztinnen und Ärzte verpflichtet sind oder die auszustellen sie übernommen haben, sind innerhalb einer angemessenen Frist abzugeben. (Amtsblatt M-V/AAz. 2005, S. 917, zuletzt geändert durch Satzung vom 12.05.2022)
Vorbemerkungen
Die medizinische Begutachtung gehört – wie oben aufgeführt – zum allgemeinen Tätigkeitsspektrum eines jeden Augenarztes. Für häufig wiederkehrende ophthalmologische Problemstellungen steht dem augenärztlichen Sachverständigen die umfangreiche Fachliteratur (z. B. Gramberg-Danielsen 1996; Lachenmayr et al. 2019) zur Verfügung, die fast alle Details und vor allem sämtliche Tabellen mit Einzelwerten nach Rechtsbereichen als Grundlage für die Bewertung von Funktionsbeeinträchtigungen infolge dauerhafter Gesundheitsstörungen enthalten.
In Ergänzung dazu, soll der anschließende Beitrag allgemeine grundlegende Aspekte der medizinischen Begutachtung erläutern (Abschn. 2.2, 2.3, 2.4, 2.5, 2.6, 2.7, 2.8, 2.9 und 2.10). Nicht selten sind es scheinbar kleine allgemeine Nachlässigkeiten, die ein Fachgutachten entwerten. Nur weil der Augenarzt den Gutachtenauftrag nicht der richtigen Rechtsgrundlage zugeordnet und damit mit der für die individuelle Begutachtung ungültigen Kausalitätstheorie und Bemessungsgrundlage gearbeitet hat oder rechtliche Begriffe inadäquat verwendet wurden. Wichtige Rechtsbegriffe im Zusammenhang mit Arzthaftungsangelegenheiten z. B. des Behandlungsfehlers werden besprochen (Abschn. 2.11) und eine Checkliste für die medizinische Begutachtung (Abschn. 2.12) mit den wichtigsten Gesichtspunkten nach Rechtsbereichen vorgestellt.
Ausgewählte Detailfragen, die entweder wiederkehrende besondere gutachtliche Beurteilungsschwierigkeiten darstellen (Abschn. 4.1 und 4.2) oder in der augenärztlichen Begutachtungsliteratur noch keine Verbreitung erfahren konnten, schließen sich an (Abschn. 4.3.1, „Strafrecht“).
Der (Abschn. 4.4) zur Kraftfahreignung macht deutlich, dass der Augenarzt den Rollenwechsel vom helfenden Arzt in der Krankenversorgung zum ärztlichen Sachverständigen bei Tauglichkeitsprüfungen immer konsequent umsetzen muss, um haftungsrechtliche Fallstricke sicher zu vermeiden.

Ausnahmen – Rückgabe eines Gutachtenauftrages

Ein Gutachtenauftrag ist vom Arzt zeitnah an den Auftraggeber zurückzugeben, also unerledigt abzulehnen, falls objektive Gründe für eine Befangenheit vorliegen. Besorgnis zur Befangenheit besteht, wenn zu einer der Verfahrensparteien ein persönliches oder wirtschaftliches Näheverhältnis angenommen werden muss. Regelmäßig ist das für die nachfolgenden Konstellationen anzunehmen:
  • Als angeforderter Gutachter sind Sie gegenwärtig oder waren früher behandelnder Arzt einer Verfahrenspartei
  • Es wurde von Ihnen bereits ein Privatgutachten erstattet oder Sie waren am Schlichtungsverfahren beratend beteiligt
  • Persönliche Freundschaft oder Abhängigkeit zu einer Verfahrenspartei
  • Persönliche, engere berufliche Beziehungen zu den am Verfahren beteiligten Ärzten z. B. Tätigkeit im gleichen Klinikverbund, unmittelbares Konkurrenzverhältnis, intensive Kontakte durch gemeinsame Weiterbildungszeiten, Publikation von Fachliteratur, Fortbildungskurse

Besonderheiten der Begutachtung im Vergleich zur Krankenversorgung

Im Unterschied zur allgemeinen ärztlichen Tätigkeit hat der Augenarzt als Gutachter keine einem Patienten helfende, unterstützende therapeutische Aufgabe.
In seiner Funktion als fachkundiger Berater der Auftraggeber oder des Gerichtes ist er streng zur Neutralität und einer an objektiven medizinischen Befunden orientierten Begutachtung sowie zur Klärung von Beweisfragen verpflichtet.
Anhand der medizinischen Sachverhalte soll er mit medizinischem Erfahrungswissen durch das Zusammentragen fachmedizinischer Argumente eine medizinisch schlüssige und plausible Beweisführung unterstützen (Tab. 1).
Tab. 1
Rollenunterschiede zwischen dem Augenarzt in der Krankenversorgung und als Sachverständiger
Augenarzt in der Krankenversorgung
Augenarzt als Sachverständiger
Sämtliche subjektive Beschwerden und objektive Befunde werden akzeptiert, werden nur hinterfragt bei Therapieresistenz, Verdacht auf Aggravation o. Ä.
Objektiven Befunden kommt der entscheidende Stellenwert zu, subjektive Angaben sollten plausibel dazu passen
Zweck: medizinische Behandlung
Zweck: Beweiserhebung und Beweissicherung
Fokus: Patient
Fokus: Proband
Auftraggeber: Patient, Krankenversicherung
Auftraggeber: Berufsgenossenschaften, Unfallkasse, Versicherungen, Gerichte, Schlichtungsstelle, Staatsanwaltschaft usw.

Anforderungen an den Augenarzt als Gutachter

  • Unabhängig und neutral, objektiv nach dem naturwissenschaftlichen Erkenntnisstand und dem Erfahrungsstand der Medizin
  • Persönlich erworbene Fachkompetenz (gemäß § 407a Abs. 1 ZPO Zivilprozessordnung) und eigenverantwortliches Urteilsvermögen
  • Unaufgefordert hat der Gutachter zu prüfen, ob die Fragestellung des Auftraggebers die inhaltliche medizinische Kernproblematik erfasst
  • Beachtung der jeweiligen Rechtsgrundlagen
  • Vermeidung von Interaktionsfehlern
Keine vertraute Arzt-Patienten-Kommunikation, kein eigenes Ermittlungsrecht außerhalb der üblichen medizinischen Untersuchung
  • Einhaltung der Schweigepflicht

Haftung des Gutachters

  • Fehlerhafte gutachtliche Tätigkeit bedingt eine Schadensersatzpflicht gegenüber der geschädigten Verfahrenspartei(en)
    Zivilrechtliche Haftungsansprüche aus Verletzung von Vertragspflichten gemäß § 280 BGB (Bürgerliches Gesetzbuch) oder Haftbarmachung per Delikt bzw. unerlaubter Handlung gemäß §§ 823 ff. BGB
  • Die Erteilung eines Falschzeugnisses ist mit bis zu 2 Jahren Freiheitsentzug bewehrt
  • Mit Annahme des Gutachtens ist die Erledigung des Auftrages in angemessener Zeit, sofern nicht anders vereinbart, innerhalb von maximal 3–6 Monaten zu erstellen
  • Augenärztliche Sachverständige vor Gericht unterliegen zudem der speziellen Regelung des BGB im § 839a Abs. 1 zur Haftung des gerichtlichen Sachverständigen: Erstattet ein vom Gericht ernannter Sachverständiger vorsätzlich oder grob fahrlässig ein unrichtiges Gutachten, so ist er zum Ersatz des Schadens verpflichtet, der einem Verfahrensbeteiligten durch eine gerichtliche Entscheidung entsteht, die auf diesem Gutachten beruht

Art des Gutachtens

Medizinische Gutachten werden vom Augenarzt in nachfolgender Form erstattet:
  • (Augen-)ärztliche Atteste
  • Befund- und Verlaufsberichte mit gutachterlicher Äußerung
  • Formulargutachten zu standardisierten Aufgabenstellungen
  • Freie Gutachten
Formulargutachten geben regelmäßig die Berufsgenossenschaften und gesetzlichen Unfallkassen sowie private Unfallversicherungen oder Lebensversicherungen in Auftrag. Falls der Augenarzt bei Erledigung des Gutachtenauftrages feststellt, dass eine angemessene Bearbeitung im vorgegebenen Fragenformat nicht unmissverständlich möglich ist, muss er das dem Auftraggeber mitteilen, verbunden mit der Empfehlung ein freies Gutachten anzufordern.
Freie Gutachten sind zu komplexen oder seltenen Fragestellungen zu verfassen.
Gutachten mit finaler Fragestellung (sog. Zustandsgutachten) beschreiben das Vorhandensein einer Gesundheitsstörung mit Krankheitswert und die medizinischen Befunde, nach denen die vorliegenden Krankheitsbezeichnungen, also die Diagnose, ohne vernünftigen Zweifel anzunehmen ist.
Gutachten mit kausaler Fragestellung (sog. Zusammenhangsgutachten) beschreiben nicht nur die objektiven medizinischen Befunde und Funktionsstörungen am Sehorgan, sondern erfordern zusätzlich auch die Beurteilung, auf welche Ursachen die Gesundheitsstörung bzw. eine festgestellte Funktionsstörung des Auges/der Augen zurückzuführen ist (Klärung der Ursache-Wirkungs-Beziehung und Abgrenzung gegen Gesundheitsschäden, die nicht auf das konkretbenannte Ereignis zurückzuführen sind).

Auftraggeber

Vor Beginn der Begutachtungstätigkeit muss der Gutachtenauftrag dem jeweils geltenden Rechtsbereich und den damit heranzuziehenden Rechtsgrundlagen und Bemessungsgrundlagen zugordnet werden (Tab. 2).
Tab. 2
Kenntnis der Begriffe aus verschiedenen Rechtsbereichen erleichtern die Einordnung des Gutachtenauftrages
Rechtsbereiche
Rechtsgrundlage
Kausalitätstheorie
Bemessungsgrundlage
Sozialrecht
Gesetzliche Unfallversicherung
Sozialgesetzbuch (SGB)
Relevanztheorie
Stand der Medizin in der Fachliteratur, Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE)
Soziales Entschädigungsrecht
-Bundesversorgungsgesetz (BVG)
-Opferentschädigungsgesetz (OEG) usw.
„Versorgungsmedizinische Grundsätze“
Verwaltungsrecht
Beamtenrecht
(Dienstunfallfürsorge)
Beamtenversorgungsgesetz (BeamtVG)
„Versorgungsmedizinische Grundsätze“
Zivilrecht
Private Unfallversicherung
Berufsunfähigkeitsversicherung (BU-Versicherung)
Risikolebensversicherung
Allgemeine Unfallversicherungs-bedingungen (AUB), individuelle Sonderklauseln und Versionen
Adäquanztheorie
Gliedertaxe, Invaliditätsgrad (IG), Minderung der Gebrauchsfähigkeit (MdG)
(außerhalb der Gliedertaxe keine obligatorischen Vorgaben
Cave: Brillenabschlag)
Haftpflichtversicherung
Versicherungsbedingungen (Allgemeine Bedingungen für die Kraftfahrzeugversicherung AKB, Allgemeine Haftpflichtbedingungen AHB)
Versicherungsvertragsgesetz (VVG)
Freie Einschätzung
Strafrecht
StGB § 226 Schwere Körperverletzung
Arzthaftung
Äquivalenztheorie
 

Inhalt und Form

Grundprinzip

  • Aufgabenstellung: Was ist der konkrete Auftrag? Welche subjektiven Beschwerden gibt der Proband an? Welche objektiven medizinischen Befunde sind erhebbar? Welche Funktionsstörungen lassen sich am Sehorgan mittels standardisierter Sehschärfeprüfung und Gesichtsfeldbestimmung ermitteln?

Grundform

  • Auftraggeber, Verfahrensparteien, Aktenzeichen
  • Verzeichnis aller in die medizinische Begutachtung einbezogenen Behandlungsunterlagen (Patientenakte, Bildgebung)
Cave
Vorsicht bei unvollständigen Unterlagen, diese schränken die Beurteilbarkeit erheblich ein (Nachforderung oder Hinweis an den Auftraggeber)
  • Grundsätzlich immer: Darstellung wesentlicher Inhalte zum Sachverhalt bzw. relevanten Krankheitsverlauf auf den sich die medizinische Bewertung bezieht
  • Aufführung der Fragestellung aus dem Gutachten-Auftrag
  • Ergebnisse der augenärztlichen Untersuchung – klare Unterscheidung objektiver Befunde und subjektiver Beschwerden
  • Medizinische Beurteilung mit Beantwortung sämtlicher Fragen, ggf. kurze Erläuterung, weshalb eine Frage keiner eindeutigen Klärung zugeführt werden konnte, z. B. Unvollständigkeit der Unterlagen, Notwendigkeit der Einbeziehung einer erläuternden Stellungnahme der Verfahrensparteien
  • Besonderheiten

Medizinische Qualität

Stand der Medizin versus persönliche Meinung

Der medizinische Standard zum Zeitpunkt der Durchführung einer ärztlichen Maßnahme ist der wesentliche Maßstab für eine gutachtliche Beurteilung.
Unter Facharztstandard ist dabei die ärztliche Vorgehensweise zu verstehen, wie sie die überwältigende Mehrheit aller Fachärzte zum Zeitpunkt der Behandlung nach den allgemein akzeptierten medizinischen Kenntnissen durchgeführt hätte. Damit werden die Kenntnisse und Fertigkeiten eines gewissenhaft arbeitenden und aufmerksam agierenden Facharztes verlangt.
Als Facharztstandard nicht gemeint sind
1.
besondere Fähigkeiten eines Subspezialisten.
 
2.
allein nur die standesgemäße Anerkennung als Facharzt.
 
Für die medizinisch-rechtliche Bewertung ausschlaggebend ist die fachlich-qualitative Erfüllung des sog. Facharztstandards.
Demnach kann auch ein Nichtfacharzt, z. B. ein Assistenzarzt, nach entsprechender Weiterbildung ohne Weiteres den Facharztstandard erfüllen.
Die Feststellung einer Abweichung vom Facharztstandard bedingt nicht allein von sich aus bereits einen Behandlungsfehler. Anhand der Behandlungsdokumentation sollte allerdings nachvollziehbar sein, weshalb von einer standardgerechten Maßnahmedurchführung abgewichen wurde.

Richtlinie

Eine Richtlinie ist eine generelle abstrakte Handlungsanweisung und schränkt die Methodenfreiheit drastisch ein. In der Augenheilkunde existieren solche Richtlinienvorgaben für die Gewinnung von Spenderhornhäuten und zum Führen einer Augenhornhautbank (Deutsches Ärzteblatt | 24.01.2018 | DOI: 10.3238/arztebl.2018.rl_augenhornhautbank_02).

Leitlinie

Leitlinien, z. B. von BVA und DOG beschreiben den geltenden medizinischen Standard im Fachgebiet zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung, ohne dass dadurch die Methodenfreiheit strikt eingeschränkt wird. Empfehlungen aus Leitlinien sind bei einer juristischen Prüfung allerdings ein starker Hinweis (Indizienwirkung) darauf, dass die erforderliche ärztliche Sorgfalt eingehalten wurde. Beim Abweichen von einer Leitlinie bei der ärztlichen Behandlung einer Augenerkrankung sollte eine nachvollziehbare Begründung dokumentiert werden.

Untersuchungsmethoden

  • Klinische ophthalmologische Untersuchung
  • Psychophysische Funktionsprüfungen
  • Nichtinvasive bildgebende Untersuchung
Cave
Funktionsprüfungen unterliegen einer größeren Schwankungsbreite als objektiv feststellbare morphologische Befunde am Auge. Die medizinische gutachtliche Beurteilung muss daher immer die Plausibilität und medizinische Schlüssigkeit von beklagten subjektiven Beschwerden, objektiven medizinischen Befunden und Resultaten der Funktionsprüfungen beachten!
  • Invasive apparative Untersuchung wie z. B. eine Fluoreszenzangiografie nur bei Genehmigung durch den Auftraggeber und gleichzeitig vorliegender Einwilligung des zu Begutachtenden

Klassifikation körperlicher Einschränkungen nach Rechtsgebieten (Tab. 3)

Tab. 3
Begriffsdefinitionen und ihr Bezugszweck nach dem jeweiligen Rechtsgebiet
Bezeichnung
Rechtsgebiet
Schutz/Bezugszweck
Invaliditätsgrad (IG)
Minderung der Gebrauchsfähigkeit (MdG)
Private Unfallversicherung
(Zivilrecht)
Individuelle abstrakte Beurteilung der Leistungsminderung des Auges im Vergleich zur durchschnittlichen Leistungsfähigkeit des Auges normaler, gesunder Personen etwa gleichen Lebensalters
Grad der Behinderung (GdB)
Schwerbehindertenrecht
Beurteilung der Leistungsminderung der Augen im Vergleich mit den gesamten Lebensumständen normaler, gesunder Personen etwa gleichen Lebensalters ohne Bezug auf individuelle Lebensbefindlichkeiten
Grad der Schädigungsfolge (GdS)
Soziales Entschädigungsrecht
(Sozialrecht)
Beurteilung der Leistungsminderung der Augen infolge definierter Schädigungsereignisse im Vergleich mit den gesamten Lebensumständen normaler, gesunder Personen etwa gleichen Lebensalters ohne Bezug auf individuelle Lebensbefindlichkeiten
Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE)
Gesetzliche Unfallversicherung
Beurteilung der Leistungsminderung der Augen in Bezug auf den allgemeinen Arbeitsmarkt (kompletter Bereich des sog. „Erwerbslebens“)
Dienstunfallfürsorge bei Beamten
Haftpflichtversicherung
Zuletzt ausgeübte Berufstätigkeit inklusive der Aspekte beruflichen Vorwärtskommens (Beförderung)

Behandlungsfehler

Der juristische Begriff des „Behandlungsfehlers“ umfasst sämtliche Bereiche der ärztlichen Tätigkeit, also nicht nur die medizinische Therapie, sondern auch alle diagnostischen Maßnahmen. Ein Behandlungsfehler liegt vor, wenn eine ärztliche Maßnahme zum Zeitpunkt ihrer Durchführung (oder auch das Unterlassen einer Maßnahme) nicht dem Stand der Medizin entsprach. Wesentlicher Maßstab dafür ist jeweils das Verhalten der Mehrzahl aller Fachärzte in einer vergleichbaren konkreten Behandlungssituation zum selben Zeitpunkt. Die Veränderungen der ärztlichen Tätigkeit, bedingt durch den medizinischen Fortschritt, sind zum konkreten Behandlungszeitpunkt zu berücksichtigen. Ausdrücklich sei hier auf die besondere Schwierigkeit hingewiesen, dass der Sachverständige das medizinische Handlungsgeschehen ex post (also im Nachgang) betrachtet, die Bewertung aber immer aus der Ex-ante-Perspektive (also der Vorher-Sicht zum früheren Zeitpunkt, eben der Behandlung) zu erfolgen hat.
Einfacher Behandlungsfehler
Ein ärztliches Verhalten, das nach dem Facharztstandard nicht der gebotenen ärztlichen Sorgfalt entsprochen hat und deshalb zu einem Versagen geführt hat, wie es einem hinreichend befähigten und allgemein verantwortungsbewussten Arzt zum Verschulden gereicht, aber noch passieren kann.
Grober Behandlungsfehler
Ein ärztliches Verhalten, das aus objektiv ärztlicher Betrachtungsweise bei Anlegung des für einen Arzt geltenden Ausbildungs- und Wissensmaßstabes nicht mehr verständlich und verantwortbar erscheint, weil ein solcher Fehler dem behandelnden Augenarzt aus dieser Sicht schlechterdings nicht unterlaufen darf.
Der Einstufung eines Behandlungsfehlers als grob kommt eine verfahrensentscheidende Bedeutung zu. Der grobe Behandlungsfehler bedingt eine Umkehr in der Beweislast.
Eine Beweiserleichterung oder gar die Beweislastumkehr zu Gunsten des Patienten droht dem Augenarzt bei:
  • Dokumentationsmangel
  • Anfängerfehler, Übernahmeverschulden
  • Verwirklichung voll beherrschbarer Risiken (§ 630 h BGB)
  • Grobem Behandlungsfehler (auch in der Diagnostik)
  • Grobem Befunderhebungsfehler

Bedeutung der medizinischen Indikation

Die medizinische Indikationsstellung ist ein vielfältiger hochkomplexer Vorgang und erfolgt unter Bezug auf das personalisierte Behandlungsziel. Eine Stellungnahme der Bundesärztekammer hebt 3 Aspekte einer medizinischen Indikation hervor:
  • Medizinisch-fachliche Ebene mit ärztlicher Evaluierung von Nutzen und Risiko vor dem Hintergrund bestehender Handlungsorientierungen in Form von Leitlinien oder anderen kodifizierten Behandlungsstandards
  • Rückspiegelung objektiver Befunde und Standards auf allgemein anerkannte Zielsetzungen medizinischen Handelns
  • Zusammenführen von standardisiertem Wissen und einzelfallbezogenen Erwägungs- und Ermessensprozessen (Individualität des Patienten)
Sofern im Nachgang einer invasiven Behandlung die Einhaltung des medizinischen Standards evaluiert wird, erfolgt im ersten Schritt regelmäßig eine juristische Prüfung der ärztlichen Legitimation für den Eingriff, nämlich der medizinischen Indikation und des Vorliegens einer wirksamen Einwilligung des Patienten (Aufklärungsprotokoll). Die Indikation zu einer Behandlung hat sich an dem zum Zeitpunkt der Durchführung vorliegenden Erkenntnisstand der Medizin zu orientieren.
Medizinische Indikationsstellung
  • Absolute medizinische Indikation
  • Relative medizinische Indikation
  • Zu weit gestellt
  • Unzureichend gestellt
Die Indikation muss dem Facharztstandard entsprechend nachvollziehbar sein und ist anhand objektiver und subjektiver Befunde zu dokumentieren.

Aufklärung

(Risiko-)Eingriffsaufklärung (Selbstbestimmungsaufklärung):
Die Notwendigkeit einer ärztlichen Aufklärung vor Operationen ist im Paragrafen § 630 BGB geregelt. Dieser führt zur ordnungsgemäßen ärztlichen Aufklärung aus, dass diese „sämtliche für die Einwilligung wesentlichen Umstände“ beinhalten muss und über „Notwendigkeit, Dringlichkeit, Eignung und Erfolgsaussichten“ im Hinblick auf die durchzuführende Augenoperation zu informieren hat.
Allgemeine förmliche Anforderungen an die Selbstbestimmungsaufklärung vor Augenoperationen (Tost und Lichtschlag-Traut 2022):
  • Aufklärung durch den Arzt
  • Mündliches Gespräch in angemessener Atmosphäre
  • Rechtzeitigkeit
  • Laienverständlich
  • Klärung individueller Fragen, Besonderheiten und Probleme
  • Selbstbestimmte Entscheidungsfindung durch den Patienten
  • Dokumentation der Gesprächsinhalte
  • Aushändigung einer Kopie der Aufklärungsdokumentation an den Patienten,
    bei Verzicht auch Dokumentation derselben, ggf. mittels Zeugen
Beweiskraft ärztlicher Aufklärungsbögen
Der Vorlage von medizinrechtlich geprüften Aufklärungsbögen mit individuellen Anmerkungen zum Gesprächsinhalt als sachlichem Beweismittel ist gerade aus ärztlicher Sicht eine enorme Bedeutung beizumessen (s. oben). Unterstreichungen im Aufklärungstext, Markierungen, Notizen zu den eigentlichen Gesprächsinhalten sind vor Gericht wichtige Indizien dafür, dass ein aufklärungspflichtiger Aspekt tatsächlich erörtert worden ist.
Aufklärungsbogen zum Nachweis einer stattgehabten Aufklärung fehlt
Sofern dieser wichtige Beleg einer ordnungsgemäßen Aufklärung fehlt, bleibt dem Augenarzt nur noch die Möglichkeit, sich auf den § 630 h Abs. 2 BGB berufen, „dass der Patient auch im Fall einer ordnungsgemäßen Aufklärung in die Maßnahme eingewilligt hätte.“ Dieser Einwand ist insbesondere überzeugend, bei gegebener medizinischer Indikation einer Maßnahme sowie dem Fehlen echter Behandlungsalternativen. Sofern die Dokumentation tatsächlich lückenhaft ist, der Augenarzt sich seiner routinemäßigen Abläufe in vergleichbaren Behandlungssituationen aber absolut sicher ist, kann es auch gelingen z. B. mit Benennung von Zeugen vor Gericht erfolgreich deutlich zu machen, dass „immer so aufgeklärt“ würde. Zudem hat das Gericht zu prüfen, wie sich eine durchschnittliche Person in gleicher Angelegenheit sehr wahrscheinlich verhalten hätte (sog. hypothetische Einwilligung).
Sicherungsaufklärung (therapeutische Aufklärung)
Die Sicherungsaufklärung umfasst die Pflicht des Arztes über ein therapiegerechtes Verhalten und ggf. zu ergreifende Maßnahmen zur Schadensabwehr zu informieren. Die Informationspflichten sind im § 630c BGB geregelt. Der behandelnde Augenarzt ist danach unaufgefordert verpflichtet, den Patienten nach einer medizinischen Behandlung oder Augen-Operation über Verhaltensregeln oder begleitende Maßnahmen zu unterrichten, um ihn vor eventuellen Gesundheitschäden zu bewahren (z. B. behandlungsbedingte Einschränkung der Fahrsicherheit, Termine notwendiger Nachkontrollen, Sicherheit der Medikamenteneinnahme). Im Unterschied zur Risikoaufklärung liegt die Beweislast bei Verletzung der ärztlichen Behandlungspflichten in der therapeutischen Aufklärung beim Patienten. Bei mangelhaft durchgeführter und/oder dokumentierter therapeutischer Information (Sicherungsaufklärung) besteht aber die Gefahr, dass der Augenarzt den Vorwurf eines Behandlungsfehlers nicht entkräften kann.

Durchführung eines Eingriffs

  • Einhaltung grundsätzlich anerkannter Standardmaßnahmen im Fachgebiet
  • Dokumentation individueller Vorkehrungen bei möglichen voll beherrschbaren Risiken
  • Abweichungen vom Standardvorgehen erfordern eine Begründung und personalisierte Dokumentation

Komplikationen

  • Komplikationen erfordern allgemein das rechtzeitige Erkennen und eine sofortige angemessene Handlungsweise zur Beseitigung oder Abmilderung der Nebenwirkungen.
  • Komplikationen und Nebenwirkungen sind unerwünschte Ereignisse als Folge einer ärztlichen Tätigkeit, die trotz Einhaltung der gebotenen Sorgfalt und medizinischen Standards eintreten können (sog. eingriffstypische Risiken, nicht vermeidbare Komplikationen).
  • Das Auftreten von Komplikationen gerade nach chirurgischen Eingriffen weist nicht automatisch auf einen Behandlungsfehler hin. Für jeden Sachverhalt ist ggf. der kausale Zusammenhang zwischen einem Fehler und dem Gesundheitsschaden (durch eine Komplikation) konkret zu prüfen.
  • Eine Komplikation kann aber auch Folge eines Behandlungsfehlers sein, weil sich eine derartige Nebenwirkung bei einem ordnungsgemäß vorgenommenen Eingriff typischerweise nicht manifestiert, z. B. Abweichung von der Zielrefraktion um 8,0 Dioptrien (dpt) bei einem Linsenaustausch ohne besondere anatomische Auffälligkeiten des betroffenen Auges.
  • Voll beherrschbare Risiken sind Komplikationen mit Gesundheitsschäden, die auf Gefahren zurückzuführen sind, die ärztlicherseits objektiv voll ausgeschlossen werden können, z. B. Verätzung durch Desinfektionsmittel oder fehlerhafte Apparatetechnik, z. B. schwere Diathermieschäden.
Bei Eintreten eines voll beherrschbaren Risikos genügt dann bereits der Anscheinsbeweis und der Beweis eines Behandlungsfehlers ist nicht weiter vonnöten.

Sicherungsaufklärung und Nachbehandlung

Sicherungsaufklärung (therapeutische Aufklärung):
Unter Sicherungsaufklärung wird die Informationspflicht des Arztes verstanden, den Patienten über ein therapiegerechtes, den Behandlungserfolg sicherndes Verhalten und ggf. zu ergreifende Maßnahmen zur Schadensabwehr zu informieren. Die Informationspflichten sind im § 630c BGB geregelt. Sie sollen den Erfolg medizinischer Maßnahmen im Behandlungsverlauf gewährleisten (z. B. bei wiederholter Verordnung einer Lokaltherapie mit Kortikosteroiden ist der Patient über die Gefahr eines Steroid-Glaukoms zu informieren und auf die Notwendigkeit der Augeninnendruckkontrolle, Sehnervbeurteilung hinzuweisen). Im Unterschied zur Risikoaufklärung liegt die Beweislast bei Verletzung der ärztlichen Behandlungspflichten in der therapeutischen Aufklärung beim Patienten. Die Sicherungsaufklärung sollte dokumentiert werden.
  • Bei horizontaler Arbeitsteilung hat der Operateur die Sicherungsaufklärung von Patienten und Nachbehandler vorzunehmen.
Nachbehandlung umfasst
  • die medikamentöse Begleitbehandlung,
  • Festlegung von Kontrollintervallen.

Aufbewahrung der Dokumentation

  • Die Aufbewahrungsfrist ist abhängig von der Unterlagenart.
  • Nach § 630 f BGB sind Patientenakten nach Abschluss der Behandlung 10 Jahre aufzubewahren.
  • Vorsicht bei chronischen Augenerkrankungen, solange sich der Patient in Behandlung befindet, ist die längere Aufbewahrung über 10 Jahre empfehlenswert.
  • Bei zivilrechtlichen Schadensansprüchen kann sogar ein Zeitraum von 30 Jahren nach dem letzten Behandlungsereignis von Bedeutung sein, um den Behandlungsverlauf nachvollziehen zu können.
Die Verjährungsfrist beginnt ab dem Zeitpunkt, ab dem der Patient von einem möglichen Behandlungsfehler erstmals Kenntnis hatte!

Checkliste medizinische Gutachten

Auftragseingang, Prüfung, Gutachtenauftragsannahme oder -ablehnung

Nach erster Durchsicht der Unterlagen muss der Gutachter für sich klären:
  • Sind meine medizinischen und rechtlichen Kompetenzen ausreichend?
  • Bestehen objektive Gründe einer Befangenheit (z. B. früher selbst behandelnder Arzt)?
  • Kann die Gutachtenerstellung in angemessener Frist erledigt werden?
  • Wurden die Behandlungsunterlagen vollständig übermittelt? (Nachforderung?)
  • Wurde eine den medizinischen Sachverhalt angemessene Fragestellung vom Auftraggeber formuliert?
  • Ist der mitgeteilte Kostenrahmen angemessen?
  • Erfordert der Gutachtenauftrag die Einbeziehung weiterer Mitarbeiter?

Formalien

  • Deckblattgestaltung mit Angabe von Institution und fachlicher Qualifikation
  • Auftraggeber
  • Probandenangaben (Name, Vorname, Geburtsdatum, Adresse)
  • Aktenzeichen des Auftraggebers
  • Sämtliche Daten, auf denen die Erstellung des Gutachtens basiert (Behandlungsakten, klinische Untersuchung, Zusatzbefunde)
  • Datum der gutachtlichen Untersuchung und der Fertigstellung des Gutachtens
  • Aufzählen einbezogener Mitarbeiter, Art deren Tätigkeit
  • Wiedergabe der zu beantwortenden Fragestellung aus dem Gutachtenauftrag
  • Interaktion mit Verfahrensparteien – außerhalb der gutachtlichen Untersuchung – lediglich über den Auftraggeber

Sachverhaltsdarstellung

  • Vorgeschichte nach Aktenlage
  • Befragung des zu Begutachtenden (anamnestische Befragungsthemen nach Problemstellung: spezielle, allgemeine und biografische Anamnese)
    Besonders wichtig: Dokumentation beklagter Beschwerden und subjektiver Beeinträchtigungen
  • Fremdanamnese nur nach Rücksprache mit dem Auftraggeber (und Einwilligung des Probanden)
  • Befunddokumentation
    • Fachspezifischer Befund
    • Allgemeiner Befund
    • Zusatzbefunde (apparative Befunde, Labor, Testbefunde)
    Gegebenenfalls erforderlich: psychischer Befund mit Verhaltensschilderung, Erwähnung fehlender Unterlagen
  • Krankheitsbezeichnungen gemäß ICD-10-Verschlüsselung
  • Qualitative und quantitative Beschreibung der Funktionsstörungen, der Beeinträchtigungen und der Partizipation gemäß der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF-Kontextfaktoren)

Gutachtliche Würdigung

  • Herausarbeiten der gutachtlich wesentlichen Gegebenheiten aus dem vorn geschilderten Sachverhalt
  • Laienverständliche Erklärung der vorliegenden Krankheitsbezeichnungen
  • Beschreibung der aus den objektiven Befunden und festgestellten Krankheitsbezeichnungen resultierenden Leistungseinschränkungen und Beeinträchtigungen auf dem Hintergrund der persönlichen und umweltbedingten Kontextfaktoren
  • Bei unzureichender Plausibilität zwischen subjektiven Beschwerden, objektiven Befunden und den Resultaten der psychophysischen Funktionsprüfungen Erörterung der medizinischen Schlüssigkeit unter Bezugnahme auf den geschilderten Sachverhalt
  • Gegebenenfalls bei Hinweis auf inadäquate Beschwerdevorbringungen (inadäquate Kausalisierungen, Aggravation, Simulation) Durchführung objektiver Funktionsprüfungen und Plausibilitätstest
Jede vermeidbare gutachtliche Nachuntersuchung erhöht den Kostenaufwand für den Auftraggeber und erschwert weiteren Sachverständigen die Vorgehensweise.
  • Bei kausalitätsbezogenen Gutachten Erörterung der Kausalzusammenhänge unter Beachtung des geforderten Beweismaßes von Wahrscheinlichkeit/Sicherheit
  • Bei Vorgutachten oder Attesten konkrete inhaltliche Auseinandersetzung mit den vorliegenden Stellungnahmen. Vermeiden von pauschaler Kritik am Vorgutachter

Festlegung der Funktionsbeeinträchtigungen

  • Schwerbehindertenrecht: GdB (Grad der Behinderung) und bei besonderen Beeinträchtigungen Empfehlung von Merkzeichen
  • Soziales Entschädigungsrecht: GdS (Grad der Schädigungsfolgen)
  • Rentenversicherung: Erwerbsminderung nach Stundenzahl der täglich möglichen Arbeitszeit, qualitative Leistungsfähigkeitseinschränkungen, z. B. fehlendes körperliches Sehen
  • Gesetzliche Unfallversicherung: MdE (Minderung der Erwerbsfähigkeit)
  • Private Unfallversicherung: Beeinträchtigung in der Funktionsfähigkeit eines oder beider Augen bzw. des Zusammenwirkens beider Augen gemäß der geltenden Gliedertaxe, Minderung der Gebrauchsfähigkeit (MdG) oder Invaliditätsgrad (IG)
  • Haftpflichtversicherung: Ausgleich aller konkreten Schäden, (Verdienstausfall, Umschulungs- und Umbaukosten, Rente etc.), evtl. MdE (dann als Plausibilitätsindikator oder in Bezug auf die konkrete Erwerbstätigkeit)

Beantwortung der vom Auftraggeber oder im Beweisbeschluss eines Gerichtes gestellten Fragen

Beantwortung des gestellten Fragenkataloges.
Insbesondere bei Gerichtsgutachten setzt die konkrete Beantwortung regelmäßig eine umfassende Beweiserhebung voraus. Sofern der Sachverständige hier noch Klärungsbedarf erkennt, muss er darauf hinweisen. Seine medizinische Bewertung darf sich nur auf festgestellte medizinische Befundtatsachen und medizinische Hinweise beziehen, ggf. sind alternativ alle „nach einem für das praktische Leben brauchbaren Grad an Gewissheit“ vorstellbaren Hergangsvarianten zu erläutern.
Keine Darlegungen zu Sachverhalten außerhalb der Fragestellung/Beweisanordnung:
Bei medizinischen Gutachten zu möglichen Behandlungsfehlern wird beispielsweise eine Beurteilung der Risikoaufklärung durch den Sachverständigen nur beim gleichzeitigen Vorliegen einer Aufklärungsrüge erwartet.

Erkrankungen des Sehorgans

Anforderungen

  • Eindeutige Unterscheidung der Krankheitsbezeichnungen anhand objektiver Befunde.
  • Dokumentation der angegebenen subjektiven Beschwerden des Probanden und seiner Schilderung über den Entstehungshergang.
  • Erfassung subjektiver Angaben zu Einschränkungen der Leistungsfähigkeit sowohl im privaten als auch beruflichen Bereich.
  • Falls Ursachenabklärung gefordert, gutachtliche Beurteilung des Kausalzusammenhangs.
  • Bestimmung der individuellen Funktionsbeeinträchtigungen des Sehorgans.
  • Anwendung der ophthalmologischen Untersuchungsmethodik gemäß der einzuhaltenden DIN-Normen z. B. bei der Sehschärfeprüfung (EN ISO 8596 und DIN 58220-Teil 3 gutachtliche Sehschärfebestimmung), etablierten Vereinbarungen oder teilweise sogar gesetzlicher Ausführungsbestimmungen (VersmedV) z. B. zur Gesichtsfeldbestimmung.
  • Disproportionalitäten zwischen objektiven Befunden, geschilderten subjektiven Symptomen oder Differenzen zwischen Probandenangaben und fremdanamnestischen Informationen sind auf medizinische Plausibilität hin zu prüfen und im Gutachten darzustellen.

Klassifikation

Erkrankungstyp

  • Fachgutachten müssen gesicherte Krankheitsbezeichnungen (medizinische Diagnosen) enthalten, fachmedizinische Unterstützung bietet der Kodierleitfaden der gemeinsamen Kommission „DRG“ von DOG und BVA auf Grundlage der ICD = International Statistical Classification of Diseases and Related Health.
  • Umgangssprachliche Erläuterung der gesicherten medizinischen Diagnosen.
  • Bezeichnungen wie „Verdacht auf“ oder „Zustand nach“ sind für augenärztliche Gutachten wertlos und sollten unterlassen werden.

Krankheitsfolgebeurteilung

Dem Augenarzt ist eine Bewertung der Leistungsfähigkeit seitens der Augen anhand der Resultate aus den Funktionsprüfungen von Sehschärfe und Gesichtsfeld bestens vertraut z. B. dezimaler Visus < 0,32 mit Verlust der Lesefähigkeit oder des körperlichen Sehens. Allerdings kann dies naturgemäß auf die nichtmedizinischen Auftraggeber nicht in gleicher Weise übertragen werden. Um diese sich für alle medizinischen Fachbereiche stellende Problematik zu lösen, wird zunehmend eine Beurteilung nach dem „biopsychosozialen Krankheitsfolgenmodell“ der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) verwendet. Die ICF-Klassifikation berücksichtigt folgernde Komponenten:
Komponenten der Funktionsfähigkeit und Behinderung:
  • Körperfunktionen und -strukturen
  • Beeinträchtigung der Aktivitäten
  • Beeinträchtigung der Partizipation (Teilhabe)
Komponenten der Kontextfaktoren:
  • Umweltfaktoren mittels Klassifizierung
  • Personenbezogene Faktoren ohne Klassifikation
Für die vollständige Beschreibung ist eine Befragung erforderlich zum
  • individuellen Tagesablauf,
  • sozialen Interaktionen sowie zu den
  • Freizeitaktivitäten.
Wesentlich sind für die gutachtliche Bewertung der Krankheitsfolgen die Störungen der Teilfunktionen des Sehorgans und weniger die Krankheitsbezeichnungen (Tab. 4).
Tab. 4
Funktion des Sehens und wichtige Bereiche von Aktivitäten und Partizipation aus der ICF-Klassifikation. (Mod. nach Widder 2018)
Domänen
Gutachtlich wichtigste Komponenten
Kapitel 1
Lernen und Wissensanwendung
Bewusste sinnliche Wahrnehmungen Zuschauen d110 Nachmachen, nachahmen d130 Aneignen von Fertigkeiten, Fokussieren der Aufmerksamkeit, Lesen d166, Schreiben d170, Rechnen, Probleme lösen, Entscheidungen treffen
Kapitel 2
Allgemeine Aufgaben und Anforderungen
Übernehmen von Aufgaben, Durchführung der täglichen Routine, Umgang mit Stress und anderen psychischen Anforderungen
Kapitel 3
Kommunikation
Fähigkeit zur Vermittlung und zum Empfang von gesprochenen, schriftlichen und nonverbalen Mitteilungen, d315 Kommunizieren als Empfänger non-verbaler Informationen, d335 Non-verbale Mitteilungen produzieren Gesten oder Gebärden d3150, Möglichkeiten zur Konversation und Diskussion
Kapitel 4
Mobilität
Bewegen und Handhaben von Gegenständen, feinmotorischer Handgebrauch, Fortbewegungsfähigkeit, Hindernisse umgehen d4503, Benutzung von Transportmitteln, Fahrzeug fahren d475
Kapitel 5
Selbstversorgung
Waschen, Körperpflege, Benutzen der Toilette, An- und Auskleiden, Essen, Trinken, Beachtung der eigenen Gesundheit d570, d520 Körperteile pflegen (Fingernägel, Fußnägel pflegen – also feinmotorische Tätigkeiten mit guten visuellen Fähigkeiten)
Kapitel 6
Häusliches Leben
Leben Beschaffung von Waren und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs, Vorbereitung von Mahlzeiten, Erledigen von Hausarbeiten d640, Pflegen von Haushaltsgegenständen, Möglichkeit zur Erbringung von Hilfeleistungen für andere
Kapitel 7
Interpersonelle Interaktionen und Beziehungen
Umgang mit Fremden, formelle und informelle Beziehungen d740/d750, Familienbeziehungen, intime Beziehungen, d7104 Soziale Zeichen in Beziehungen
Kapitel 8
Bedeutende Lebensbereiche
Erhalt und Beendung von Arbeit, Durchführung wirtschaftlicher Transaktionen, Erhalt der wirtschaftlichen Eigenständigkeit
Kapitel 9
Gemeinschafts-, soziales und staatsbürgerliches Leben
Teilnahme an Gemeinschaftsleben d910, Erholung und Freizeit d920, Religion und Spiritualität, politischem Leben

Ausgewählte Aspekte der medizinischen Zusammenhangsbegutachtung bei Gesundheitsstörungen des vorderen und hinteren Augenabschnittes

Hierzu muss grundsätzlich eine ausführliche Feststellung der medizinischen Tatsachen aus ophthalmologischer Betrachtungsweise vorgenommen werden (Tost und Stahl 2020).
Dazu gehören:
  • eine verbale Beschreibung des nichtmedizinischen Sachverhaltes (Unfallhergang) durch den Betroffenen selbst,
  • die vollständige Beschreibung des Lebensvorganges, der zum Unfall geführt hat,
  • eine Dokumentation sämtlicher (u. a. Begleitumstände, Datum, Zeit und Ort des Unfalles, beteiligte Personen, Tätigkeit und Arbeitsmittel, Materialien und verwendete Substanzen, Nutzung einer Gleitsicht- oder Schutzbrille, Kontaktlinsen),
  • Erfassung objektiver Verletzungszeichen, die als medizinische Hinweise (Indizien) für ein stattgehabtes Augentrauma dienen können,
  • sachlich beschreibende und vorzugsweise fotografische Erfassung sämtlicher objektiver anatomisch-morphologischer Abweichungen vom Normalbefund (Tab. 5).
Tab. 5
Gefordertes Beweismaß in der Zusammenhangsbegutachtung nach Rechtsbereichen
Prüfungsschritte der Kausalkette
Erledigung durch
Private Unfallversicherung
Haftpflicht-versicherung
Gesetzliche Unfallversicherung, SER
Rechtsbereich der Zusammenhangsbeurteilung
 
Zivilrecht
Zivilrecht
Öffentliches Recht
Unfall- oder Schädigungsereignis
Auftraggeber
Vollbeweis
Vollbeweis
Vollbeweis
Gesundheitsschädigung
(Erstschaden)
Augenarzt
Vollbeweis
Vollbeweis
Vollbeweis
Funktionsbeeinträchtigung
(Sekundär- oder Folgeschaden)
Augenarzt
Vollbeweis
Wahrscheinlichkeit
Vollbeweis
Verknüpfung Schädigungsereignis – Erstschaden
Augenarzt
Vollbeweis
Vollbeweis
Wahrscheinlichkeit
Verknüpfung Erstschaden – (Sekundär- oder Folgeschaden)
Augenarzt
Wahrscheinlichkeit
Wahrscheinlichkeit
Wahrscheinlichkeit

Augenprellung (Contusio bulbi)

  • Mit Contusio bulbi wird die weit überwiegende stumpfe strukturschädigende Krafteinwirkung auf ein Auge bezeichnet. Das Spektrum reicht vom Bagatelltrauma bis hin zur schwersten Augenschädigung mit Bulbusberstung. Dementsprechend können die klinischen objektiven Befunde sehr variabel ausgeprägt sein. Auch wenn sämtliche Augenabschnitte betroffen sein können, überwiegen meistens Schadensmuster am vorderen Augenabschnitt.
  • Aufgabe des Gutachters ist die Klärung des ursächlichen Zusammenhanges zwischen dem Unfallereignis (Primärschaden) und einem möglichen Folgeschaden (Sekundärschaden).
Hierzu muss die augenärztliche Untersuchung den Erstschaden (Primärschaden) im Vollbeweis anhand objektiver medizinischer Befunde sichern.
Feststellung typischer objektiver Befunde eines Primärschadens bei Augenprellung, z. B. Hyphäma, Kammerwinkelrezessus, Phakodonesis, Glaskörperblutung, Commotio retinae.
Bei augenärztlicher Begutachtung von Kontusionsfolgen am Auge immer eine gonioskopische Untersuchung der Kammerwinkelregion in den Untersuchungsablauf einplanen.
Nur wenn sich charakteristische morphologische Schadensmuster eines Unfall- oder anderweitigen Schädigungsereignisses „ohne vernünftige Zweifel“ dokumentieren lassen ist der sog. Vollbeweis für den Erstschaden erbracht.
Erfassung von Funktionsstörungen als Folge des Erstschadens (Sekundärschaden) z. B. Sehschärfeverlust durch eine Cataracta traumatica oder chronische Druckdekompensation bei Iridodialyse.
Zusammenfassende medizinische Begutachtung der Ursache-Wirkungs-Beziehung bei Augenprellung
Keine medizinische „Im-Nachhinein-Bestätigung“ einer geschehenen unfallbedingten Gesundheitsschädigung (Erstschaden) allein nur auf Grundlage einer späterhin festgestellten Funktionsstörung.
Nur wenn sich Erstschaden, z. B. Kontusionsrosette bei Contusio bulbi und Folgeschaden, z. B. Sehschärfeverlust, „ohne vernünftige“ Zweifel, dokumentieren lassen, kann ein zu hoher Anspruch an das Beweismaß reduziert werden.

Traumatische Netzhautablösung (Amotio retinae)

  • Eine Netzhautablösung ist nur als unfallbedingt in Betracht zu ziehen, wenn ein schädigendes Ereignis von außen so auf den Körper eingewirkt hat, dass ein Gewebeschaden (Strukturschädigung) eintreten konnte, der mit einer Abhebung der neurosensorischen Netzhaut vom retinalen Pigmentepithel verbunden ist.
  • Entstehungsmechanismen, die eine Ursache-Wirkungs-Beziehung zur Netzhautablösung mit hoher Wahrscheinlichkeit unterstützen, sind:
    • Gewaltsamer Abriss der Glaskörperbasis entweder anterior oder im Bereich des posterioren Ansatzes der Glaskörperbasis,
    • vitreoretinale Adhäsionen (z. B. Glaskörperverdichtungen, -stränge, Membranbildung), die in ihrer Ausprägung wie eine diabetische proliferative Vitreoretinopathie (PVR) einzustufen sind,
    • dokumentiertes örtliches Trauma mit skleraler Aufschlagsstelle und Nekrose im korrespondierenden Netzhautareal,
    • dokumentiertes lokales Trauma in einem Netzhautareal gegenüber der skleralen Aufschlagsstelle (Contrecoup),
    • naturwissenschaftlich nachvollziehbare heftige abrupte Start-Stopp-Reaktion mit besonderer Beanspruchung der Gewebemechanik (akute hintere Glaskörperabhebung (Tab. 6)).
  • Pathomechanismen, bei denen eine Ursache-Wirkungs-Beziehung zur Netzhautablösung unwahrscheinlich ist:
    • Indirektes Trauma ohne direkte Krafteinwirkung auf das Augeninnere,
    • Schadensmechanismen ohne eindeutige punktuelle Einwirkung auf Glaskörper und Netzhaut bzw. ohne nachweisliche plötzliche massive Verformung des betroffenen Auges.
Tab. 6
Kausalitätsbeurteilung der traumatischen Netzhautablösung
 
Pro Zusammenhang
Anti Zusammenhang
Lokalisation des Traumas
intraokular
Entfernt vom Auge
Manifestation, Zeitpunkt
Zeitgleich mit Unfall
Längeres Intervall
Lebensalter
< 45–50 Jahre
> 45–50 Jahre
Spätschäden
Brückensymptome
Keine Brückensymptome
Risikofaktoren
keine
Achsenmyopie, Frühgeburtlichtkeit, genetische Prädisposition, Amotio des Partnerauges
Vorschädigungen
keine
Vitreoretinale Veränderungen o. Degenerationen bds., Pseudophakie, alte Foramina, Zustand nach Glaskörper-Netzhautchirurgie
Begleitschäden im/am Bulbus oculi
Ja
Nein
Unfallmechanismus
Häufig und typisch
Selten und untypisch
Zusammenfassende medizinische Begutachtung der Ursache-Wirkungs-Beziehung bei traumatischer Netzhautablösung
  • Voraussetzung: vollständige Erfassung aller objektiven Befunde (Befundtatsachen) und medizinischen Hinweise (Indizien)
  • Aufgabe des Sachverständigen: abwägende Begründung unter Beachtung der im Rechtsgebiet gültigen Beweisregeln und des geforderten Beweismaßes
Zivilrecht: Private Unfallversicherung (PUV):
  • Adäquanztheorie: War das Unfallereignis überhaupt praktisch geeignet, die Netzhautablösung hervorzurufen?
  • Beweismaß: überwiegende Wahrscheinlichkeit
  • Mitwirkung anderer Risiken oder Krankheiten muss berücksichtigt werden (Partialkausalität von 25, 50 oder 75 %)
Sozialrecht: Gesetzliche Unfallversicherung (GUV):
  • Theorie der „rechtlich wesentlichen Bedingung“: Hat das Unfallereignis wesentlich zur Entstehung der Netzhautablösung beigetragen?
  • Beweismaß: Einfache Wahrscheinlichkeit, gerade bei mehreren Ursachen kann selbst eine geringere Wahrscheinlichkeit um 30 % bereits als „rechtlich wesentliche Wirkursache“ zu betrachten sein.
  • Eine Mitwirkung gibt es nicht (Alles-oder-nichts-Prinzip).
Zuerst sämtliche Gelegenheitsursachen ausgrenzen. Gelegenheitsursachen sind sämtliche Vorschäden oder Gebrechen, die schon infolge alltagsüblicher Belastungen im nahezu demselben Ausmaß und ähnlichen Zeitpunkt zum Gesundheitsschaden hätten führen können.

Berufskrankheiten

Augenerkrankungen sind als Berufskrankheiten in Betracht zu ziehen, wenn sie in die Berufskrankheitenliste zur Berufskrankheitenverordnung (BKV), aufgenommen wurden (BKV Anlage 1 sog. Listenprinzip, letzte Ergänzung mit 5. BKVÄndV vom 29.06.2021 BGBl. I S. 2245, Nr. 38) oder im besonderen Einzelfall aufgrund einer nachvollziehbaren medizinischen Begründung Anerkennung finden. Es muss ein naturwissenschaftlicher Zusammenhang zwischen der Einwirkung und der Krankheit im Sinne einer objektiven Verursachung gegeben und nachvollziehbar begründet werden, dass für eine bestimmte Personengruppe arbeitsbedingt deutlich erhöhte Risiken entstanden sind von einer bestimmten Gesundheitsstörung betroffen zu sein. Klinische Bedeutung für die augenärztliche Tätigkeit haben die Berufskrankheiten (BK) Nr. 1108, 1302, 1310, 1313, 2401, 2402, 5101, 5103 und 6101:
  • BK Nr. 1108 Erkrankungen durch Arsen oder seine Verbindungen
  • BK Nr. 1302 Erkrankungen durch Halogenkohlenwasserstoffe
  • BK Nr. 1313 Hornhautschädigungen des Auges durch Benzochinon
  • BK Nr. 2401 Grauer Star durch Wärmestrahlung
  • BK Nr. 5101 Schwere oder wiederholt rückfällige Hauterkrankungen, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können
  • BK Nr. 6101 Augenzittern der Bergleute
  • BK Nr. 5103 Plattenepithelkarzinome oder multiple aktinische Keratosen der Haut durch natürliche UV-Strahlung
Plattenepithelkarzinome und multiple aktinische Keratosen der Haut (also einschließlich der periokulären Region) werden bei berufsbedingter UV-Exposition als Berufskrankheit anerkannt. Nach dem Stand der Medizin haben beruflich exponierte Arbeitstätige ein im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung 2- bis 3-mal höheres Risiko für die Manifestation dieser Hautveränderungen.
Bereits den Verdacht auf das Vorliegen einer Berufskrankheit muss der Augenarzt an den Unfallversicherungsträger melden.
Beim histologischen Nachweis eines Plattenepithelkarzinoms, einer aktinischen Keratose oder eines Morbus Bowen (Präkanzerosen) in der periokulären Region (Augenlider und Bindehautoberfläche gehören zu den besonders von der UV-Strahlung betroffenen Arealen der Körperoberfläche) müssen Betroffene regelmäßig nach ihrer Berufstätigkeit befragt werden. Bei überwiegender Berufstätigkeit im Freien, z. B. Landschaftsbau, Bauwirtschaft, Seeleute, ergibt sich bereits eine ärztliche Mitwirkungspflicht, weil bereits der ärztliche Verdacht auf eine Berufskrankheit meldepflichtig ist.
Formtexte wie den F 6000 „Ärztliche Anzeige bei Verdacht auf eine Berufskrankheit“ für die Meldung bei einem Unfallversicherungsträger findet man unter https://www.dguv.de/bk-info/service/index.jsp
Die Aufwandserstattung für die Übermittlung einer BK-Verdachtsanzeige mittels Vordruck F 6000 beträgt 17,96 € gemäß UV-GOÄ 2017 mit Stand: 01.01.2021.
Bei unterlassener Verdachtsanzeige kann sogar ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch durch die Kinder des betroffenen Patienten als Sonderrechtsnachfolger resultieren, falls dieser zwischenzeitlich verstirbt (siehe auch Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 08.10.1998 – B 8 KN 1/97 U R).

Strahlenkatarakt – durch kumulative chronische Schädigung

  • Krankhafte Trübungen der Augenlinse durch ionisierende Strahlung (Strahlenkatarakt) sind in der Ophthalmologie seit Langem bekannt und in der Fachliteratur ausführlich beschrieben (Gramberg-Danielsen 1996). Verändert hat sich aber das Verständnis spezieller Schadensmechanismen an der menschlichen Augenlinse durch chronisch regelmäßig erneut einwirkende niedrige Strahlendosen (unter 0,5 Gy). Deshalb wird heute ein gewebespezifisches Reaktionsmodell der körpereigenen Augenlinse zugrunde gelegt (De Stefano et al. 2022; Tost und Rohrschneider 2022).
  • Das Strahlenschutzgesetz wurde zum 01.01.2019 angepasst und der Grenzwert der Organäquivalentdosis der Augenlinse für beruflich exponierte Personen von 150 Millisievert (mSv) auf 20 mSv im Kalenderjahr herabgesetzt (StrlSchG § 78, Abs. 2, Punkt 1).
  • Insbesondere bei medizinischem Personal mit langjähriger Berufstätigkeit im Strahlenbereich z. B. bestimmte Verfahren der interventionellen Kardiologie, Strahlenbelastung bei intraoperativer Durchleuchtung im unfallchirurgischen Operationssaal ist für den Zeitraum vor 2019 bis zur Optimierung von Schutzmaßnahmen für die Augenregion zumindest von einer Gefährdung betroffener Personen im Sinne der BK 2402 daher auszugehen (Görtz und Al Halabi 2020; Krieger 2019).
Die augenärztliche Begutachtung bei möglicher berufsbedingter chronischer Strahlenexposition erfordert dann: unabhängig von einer Schwellendosis die Anerkennung einer Strahlenkatarakt als Berufskrankheit individuell zu erörtern und abzuwägen, sofern dem medizinischen Sachverständigen keinerlei konkurrierende medizinische Befundtatsachen bekannt werden. Für die medizinische Begutachtung heranzuziehen sind
  • Mitteilung durch den Gutachtenauftraggeber zur beruflichen Tätigkeit mit Stellungnahme zur Arbeitsplatzexposition für die Berufslebensdauer unter Angabe der maximal anzunehmenden Strahlenexposition an der Augenlinse.
  • Allgemeine und berufliche Anamnese durch den Sachverständigen und Feststellung sämtlicher subjektiver Beschwerden und vor allem objektiver medizinischer Befunde. Klare Beschreibung der baulichen Linsenveränderungen sowie Fotodokumentation des Lokalbefundes.
  • Unterscheidung zwischen Gesundheitsstörungen, die durch ionisierende Strahlen entstehen können, und nichtberufsbedingten Erkrankungen sowie altersbedingten Veränderungen.
  • Medizinische Bewertung, ob aufgrund der nachgewiesenen Strahlenexposition die Verdopplungsdosis erreicht wurde (Tab. 7).
Tab. 7
Kausalitätsbeurteilung bei Strahlenkatarakt durch kumulative Wirkung chronischer niedriger Strahlungsexposition
 
Pro Zusammenhang
Anti Zusammenhang
Lokalisation der Linsentrübung
Posteriore subkapsuläre Rindentrübung/Kapseltrübung, seltener andere Trübungsformen wie Kernsklerose
Andere Lokalisationen,
Wasserspalten-Speichenstar, Kranzstar, punktförmige Trübungen, Pyramiden- oder Spindelstar
Lebensalter bei Erstmanifestation
< 65 Jahre
> 65 Jahre
Risikofaktoren
Keine
Kataraktogene Medikamente
Genetische Prädisposition, Haut- und Allgemeinerkrankungen
Vorschädigungen
- okulär
Keine
Phakolentodonesis, Kammerwinkelrezessus Traumaanamnese, Uveitiszeichen usw.
Vorschädigungen
- allgemein
Keine
Chemotherapie,
Nikotinabusus,
Stoffwechselkrankheiten
Medizinische Strahlenbelastung, z. B. Computertomografien des Kopfes
Verdopplungsdosisa erreicht
Ja
Nein
Bestätigte langjährige berufliche Strahlenexposition
Ja
Nein
aDas Erreichen der Verdopplungsdosis kann in der abwägenden medizinischen Gesamtbetrachtung bei der Diagnose Katarakt nur ein Teilaspekt sein (Tost und Rohrschneider 2022)
Zusammenfassende medizinische Begutachtung der Ursache-Wirkungs-Beziehung bei Strahlenkatarakt durch chronisch wiederkehrende niedrige Strahlungsexposition:
  • Erläuterung sämtlicher festgestellter Diagnosen und deren medizinischer Mitwirkungsanteile an der vorzeitigen Entstehung krankhafter Linsentrübungen.
  • Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der krankhaften Linsentrübung (Katarakt) und der nachgewiesenen Strahlenexposition ist anzunehmen, wenn der schädigende Einfluss der chronischen Strahlungsexposition im Vergleich zu anderen konkurrierenden Einflussfaktoren oder Krankheitsbildern eine medizinisch überragende Bedeutung beizumessen ist. Das ist gewöhnlich gegeben, wenn sich ein berufliches Risiko verwirklicht und sich eben gerade nicht ein allgemeines Lebensrisiko damit manifestiert hat.
Vorweg sind alle Gelegenheitsursachen auszugrenzen.
Das Erreichen der Verdopplungsdosis kann in der abwägenden medizinischen Gesamtbetrachtung nur ein Teilaspekt sein. Die zeitliche Vorverlagerung typischer krankhafter Linsentrübungen ist als wesentlich tragfähigere objektive medizinische Befundtatsache für ein medizinisch schlüssiges berufsbedingtes Kausalgeschehen zu bewerten.

Bewertungseinschätzung nach Rechtsgebieten

Sozialrecht

  • Gesetzliche Unfallversicherung, Sozialgesetzbuch (SGB) VII
    • Zuerst Klärung des ursächlichen Zusammenhanges zwischen dem Unfallereignis und der mutmaßlichen Schädigungsfolge nach der Theorie der wesentlichen Bedingung.
    • Nutzung der tabellarischen Hilfen zur Bewertung der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE), s. auch MdE-Tabelle der DOG
Eine MdE von weniger als 10 % wird nicht entschädigt und eine Änderung der MdE um weniger als 10 % wird als unwesentliche Änderung nicht anerkannt. Letzteres muss insbesondere beim Ersten Rentengutachten beachtet werden, falls der Krankheitsverlauf noch nicht sicher einschätzbar ist (dann abwägen ob eine 5er Stufe der MdE-Tabelle prognostisch zweckmäßig ist oder eher nicht).
  • Schwerbehindertenrecht
    • Vorschlag des GdB und von Nachteilsausgleichen auf Grundlage der Festlegungen in der „Versorgungsmedizin-Verordnung“ (VersMedV)
  • Soziales Entschädigungsrecht (SER) SGB XIV
    Hinweis: Mit dem am 01.01.2024 in Kraft tretenden SGB XIV wird das SER erneuert.
    • Klärung des ursächlichen Zusammenhanges zwischen Gesundheitsschaden und definiertem Schadensereignis, anschließende Bewertung von GdS/GdB anhand des Kataloges der „Versorgungsmedizinischen Grundsätze“ aus der „Versorgungsmedizin-Verordnung“ (VersMedV)
  • Rentenversicherung
    • Beantwortung des Fragenkataloges zum positiven und negativen Leistungsspektrum (Was ist möglich und zumutbar? Was muss vermieden werden? Sind Arbeitszeitbegrenzungen oder zusätzliche Pausen nötig?)
    • Beurteilung
    • Erwerbsfähigkeit oder Erwerbsminderung
    • Erwerbsfähig bleiben Personen, die regelmäßig länger als 6 h täglich einer Arbeit nachgehen können
    • Erwerbsminderung ist anzunehmen, sofern für die Person eine regelmäßige Begrenzung der Arbeitszeit auf täglich 3–6 h täglich nötig wird
    • Erwerbsunfähigkeit besteht, falls die regelmäßige Arbeitszeit auf weniger als 3 h täglich einzuschätzen ist oder Wegeunfähigkeit vorliegt

Verwaltungsrecht

  • Dienstunfallrecht
    • Vorgaben des Auftraggebers beachten und vor der Begutachtung Rücksprache halten. Bezugsmaßstab ist meist die MdE, kann aber auch der GdS und die „Versorgungsmedizinischen Grundsätze“ aus der „Versorgungsmedizin-Verordnung“ sein. Gegebenenfalls ist beim Auftraggeber nachzufragen.

Zivilrecht

  • Private Unfallversicherung
    • Beurteilung des kausalen Zusammenhanges zwischen Unfallereignis und der unterstellten Schädigungsfolge nach der Adäquanztheorie
    • Bemessung der Minderung der Gebrauchsfähigkeit eines Auges (MdG) und Empfehlung des Invaliditätsgrades (IG) gemäß der nach AUB personalisiert gültigen Gliedertaxe
    • Ausnahmen der Bewertungssystematik für das beidäugige Sehorgan bei gemeinsamen Beeinträchtigungen vom rechten und linken Auge beachten (zerebral verursachte Gesichtsfeldausfälle, Doppelbilder und beidäugiges Sehen, Brillenausgleich)
Vor Bemessung der Schädigungsfolgen sind eine etwaige Mitwirkung oder Vorinvalidität in der richtigen Reihenfolge zu berücksichtigen.
Empfehlungen zum Brillenabschlag erfolgen außerhalb der Gliedertaxe. Insbesondere bei Erreichen von Eckwerten z. B. IG 50 % hat der Brillenabschlag überproportionale Konsequenzen auf die Versicherungsleistung. Hier müssen die beidäugige Alltagssituation beachtet und ggf. Bemessungsvarianten mit nachvollziehbarer Begründung formuliert werden.
Bei Bemessung von MdG und IG zum Zeitpunkt der Begutachtung muss immer der prognostizierbare Dauerzustand berücksichtigt werden. Lediglich unvorhersehbare Änderungen bleiben unberücksichtigt.
  • Berufsunfähigkeitsversicherung
    • Allgemeine Versicherungsbedingungen und individuelle Sonderklauseln und Versionen beachten
  • Risikolebensversicherung
    • Allgemeine Versicherungsbedingungen und individuelle Sonderklauseln und Versionen beachten
  • Haftpflichtversicherung
    • Versicherungsbedingungen (AKB, AHB), Versicherungsvertragsgesetz (VVG)
      Bezugsmaßstab ist die MdE

Strafrecht

  • Spezielle Anforderungen an den augenärztlichen Sachverständigen stellt das StGB im § 226 Schwere Körperverletzung, jeweils dann, wenn es um eine Strafmaßverschärfung infolge einer Straftat geht, die zum Verlust des Sehvermögens auf mindestens einem Auge oder der Fähigkeit, Gegenstände zu erkennen usw. geführt hat (Tost und Rohrschneider 2021).
Welche Visusstufe dem Verlust auf 2 % oder 10 % des Sehvermögens gleich kommt, ist mit einer medizinisch-schlüssigen Begründung der Stellungnahme der gemeinsamen Rechtskommission von BVA und DOG von 2021 zu entnehmen.

Augenärztliche Beurteilung der Kraftfahreignung

  • Die augenärztliche Beurteilung der Kraftfahreignung richtet sich nach den Vorgaben der Fahrerlaubnisverordnung.
  • Zusätzlich sind verschiedene verwaltungsrechtliche und gesetzliche Vorgaben zu berücksichtigen
Wesentlicher Zweck der Fahrerlaubnisverordnung ist es, soweit es geht, allen Menschen ein personalisiertes Anrecht auf Teilnahme am motorisierten Individualverkehr vor dem Hintergrund des Schutzes der Allgemeinheit vor Schäden gemäß den verwaltungsrechtlichen Vorgaben zu ermöglichen.
Die allerbeste Orientierungshilfe geben dem Augenarzt die Empfehlungen der Fachverbände von DOG und BVA zur Fahreignungsbegutachtung.
Die Fahrerlaubnisverordnung (FeV) beschreibt eine ganze Reihe an Fahrerlaubnisklassen die sich in Bezug auf die medizinischen Tauglichkeitsanforderungen in 2 Gruppen gliedern lassen.
Fahrerlaubnisklassen nach Mindestanforderungen an das Sehvermögen
Gruppe 1 mit geringeren Mindestanforderungen an das Sehorgan
Führerscheine im Privatgebrauch für Personenkraftwagen, Krafträder usw. der Führerscheinklassen AM, A1, A2, A, B, BE, L und T
Gruppe 2 mit höheren Mindestanforderungen an das Sehorgan
Alle Fahrerlaubnisse von Berufskraftfahrern von Lastkraftwagen, Bussen, Taxen. Hierzu gehören die Führerscheinklassen: C, C1, CE, C1E, D, D1, DE oder D1E
Augenärztliche Angelegenheiten zur Fahrerlaubnisverordnung sind grundsätzlich immer nach 2 Aspekten zu ordnen:
  • Betrifft die Anfrage eine Angelegenheit der individuellen Fahrtauglichkeit oder Fahrsicherheit oder
  • steht die Anfrage im Zusammenhang mit der Krankenversorgung und zielt auf die orientierende medizinische Beratung bei Gesundheitsproblemen (Tost und Freißler 2019, 2023).
Fahreignung oder Fahrtauglichkeit
Die längerfristig zeitlich stabile Fähigkeit einer Person, Kraftfahrzeuge im Straßenverkehr führen zu können, wird als Fahreignung oder Fahrtauglichkeit beschrieben. Das setzt langfristig stabile psychophysische Leistungsfunktionen z. B. von Sehschärfe und Gesichtsfeld sowie verschiedenster Persönlichkeitseigenschaften voraus. Kurzfristig veränderbare Situations- und Befindlichkeitsparameter bleiben unberücksichtigt.
Fahrsicherheit oder Fahrtüchtigkeit
Diese Begriffe stehen für alle schnell veränderbaren situations- und zeitbezogenen Fähigkeiten beim Führen eines Kraftfahrzeugs. Äußere Faktoren wie die diagnostische Mydriasis, Medikamenteneinnahme usw. beeinflussen die Fahrsicherheit normalerweise nur vorübergehend. Auch unter Drogen wie Cannabis oder Alkohol kommt es gewöhnlich nur zu einer zeitlich begrenzt anhaltenden Fahruntüchtigkeit, ausgenommen beim chronischen Gebrauch.
Verbindliche medizinische Einschätzungen der personalisierten Fahrtauglichkeit setzen immer die ophthalmologische gutachtliche Untersuchung voraus.
Fahreignung oder Fahrtüchtigkeit beim Patienten (Aufgaben in der Krankenversorgung)
Nachfragen eines Patienten können seine Fahrtauglichkeit oder Fahrsicherheit betreffen. Die medizinische Beratung zur Fahrtüchtigkeit betrifft häufig zeitlich vorübergehende Einschränkungen infolge diagnostischer Mydriasis oder nach ambulanten Operationen. Letztlich muss der ärztlichen Beratung die individuelle medizinische Befundeinschätzung vorausgehen. So kann nach intravitrealer Injektion von anti-vaskulärem endothelialen Wachstumsfaktor (Anti-VEGF) bei medikamentös unbeeinflusster Pupillenreaktion die Fahrtüchtigkeit wieder gegeben sein, während sie in gleicher Situation nach Triamcinolongabe Einschränkungen unterliegt. Wichtig ist zu beachten, dass der Augenarzt regelmäßig auch unaufgefordert im Rahmen der Krankenversorgung zur medizinischen Verkehrssicherheitsberatung verpflichtet ist. Das betrifft den plötzlichen einseitigen Funktionsverlust nach okulären Gefäßerkrankungen (Anteriore ischämische Optikusneuropathie AION, Posteriore ischämische Optikusneuropathie PION)) oder Gesichtsfeldausfälle sowie Störungen der Okulomotorik nach Schlaganfällen bzw. Hirnnervenläsionen. Führt beispielsweise das einmalige Ereignis einer okulären Durchblutungsstörung infolge einer AION zu einer Herabsetzung der Sehschärfe auf 0,1 oder weniger, ist eine Gewöhnungsphase an das fehlende räumliche Sehen von 3 Monaten abzuwarten, bevor die Fahreignung wieder gegeben ist. In der Patientenakte ist zusätzlich der Inhalt des Aufklärungsgespräches zur neu aufgetretenen Funktionseinschränkung, z. B. reduziertes individuelles Vermögen zum Einschätzen von Verkehrsabständen bei funktioneller Einäugigkeit, zu vermerken.
Chronisch Augenkranke sind in mehrjährigen Abständen (ca. alle 5 Jahre) über eventuell absehbare Auswirkungen ihrer Augenerkrankung (wie Glaukom, altersabhängige Makuladegeneration AMD, Netzhautdystrophie) auf den Lebensalltag und die Fahrtauglichkeit orientierend in Kenntnis zu setzen.
Auch dieses verkehrsophthalmologische Beratungsgespräch ist in der Patientenakte zu dokumentieren.
Fahreignung oder Fahrtauglichkeitsfeststellung beim Probanden (Auftragsleistung für den Fahrerlaubnisantragsteller oder Inhaber mit Antrag auf Verlängerung)
Die Fahrerlaubnisverordnung sieht vor, dass jeder Antragsteller (bei Neuerwerb oder Verlängerungsantrag auf eine Führerscheinklasse) gegenüber der Fahrerlaubnisbehörde zunächst beweisen muss, dass er „die hierfür notwendigen körperlichen und geistigen Anforderungen erfüllt“. Für Bewerber um eine Fahrerlaubnis aus der Gruppe 1 z. B. Klasse B PKW reicht die einfache Prüfung der Sehschärfe irgendeiner amtlichen Sehteststelle. Sämtliche Gesundheitsmängel der Augen lassen sich damit nicht aufdecken. Der Augenarzt sollte immer das für jede Person medizinisch wertigere augenärztliche Zeugnis erstellen. Der Proband erhält viel umfangreichere Informationen zum Gesundheitszustand seiner Augen und der Augenarzt vermeidet haftungsrechtliche Risiken. Fahrerlaubnisantragsteller für die Gruppe 2 haben in Ergänzung zur Überprüfung des Sehvermögens ein Zeugnis über die allgemeine körperliche und geistige Eignung vorzulegen.
Den sichersten Weg geht der Augenarzt mit der Erstellung eines augenärztlichen Zeugnisses (Formular bei den Fachverbänden erhältlich).
Kraftfahreignung und Mindestanforderungen an die Augen
Die nach den Gruppen 1 und 2 unterschiedlichen Mindestanforderungen für die augenärztliche Feststellung der Fahrtauglichkeit seitens des Sehorgans sind am besten der Empfehlungsschrift der Fachverbände und den einschlägigen Stellungnahmen der Verkehrskommission zu entnehmen (ausführlich siehe: DOG und BVA 2019).
Allgemeingültige Festlegungen wie in Anlage 6 zu § 12 Sehvermögen der FeV, die über alle gesellschaftlichen Bereiche hinweg verständlich sein soll, kann nicht in allen Belangen etablierte fachmedizinische Definitionen berücksichtigen. Spezielle augenärztliche Aspekte werden daher in den einschlägigen Stellungnahmen der Verkehrskommission von DOG und BVA thematisiert.
Ein besonderes medizinisches Problem der Fahrtauglichkeitsprüfung seitens der Augen ist, dass dort festgestellte relevante Fahreignungsmängel mit Ausnahme der häufig ausgesprochenen Auflage des Tragens einer Sehhilfe (Brille, Kontaktlinsen) nicht zu kompensieren sind z. B. Unterschreitung der Mindestanforderungen an das Gesichtsfeld. Der Augenarzt muss bei neu festgestellten Beeinträchtigungen der Teilfunktionen des Auges besonders sorgfältig nach den Vorgaben und Möglichkeiten der FeV abwägen. Insbesondere bei Antragstellern der Gruppe 1 ist die eigentliche Zweckbestimmung der FeV zu bedenken. Mit der Formulierung in der Anlage 6 (zu den §§ 12, 48 Absatz 4 und 5) FeV 1,3, dass eine „Erteilung der Fahrerlaubnis … in Ausnahmefällen in Betracht gezogen werden [darf]“ vermeidet die FeV eine strikte und rigorose Grenzwertziehung. Letzteres ermöglicht dem Sachverständigen eine individuell begründete Empfehlung an die Verwaltungsbehörde abzugeben, falls beispielsweise die Visusstufe minimal unterschritten wurde. Eignungsmängel anderer Teilfunktionen der Augen dürfen dann aber gleichzeitig nicht noch vorliegen.
Bei Verlängerungsanträgen Altinhaberregelung prüfen
Im augenärztlichen Alltag immer zu beachten sind die Sonderregelungen für die Altinhaber einer vor dem 01. Januar 1999 erteilten Fahrerlaubnis. Hierzu muss vor Beginn der gutachtlichen Gesundheitsprüfung der Stichtag der Erteilung der konkreten Fahrerlaubnisklasse auf dem Führerschein (unter 10. Erteilungsdatum) eingesehen werden. Es gelten dann teilweise abweichende Mindestanforderungen, die unter dem Punkt 2.2.3 Sonderregelungen in der Anlage 6 zum § 12 Sehvermögen der FeV zusammengefasst sind. Auf dem augenärztlichen Zeugnis für die Verwaltungsbehörde ist es dann zu vermerken, wenn die medizinische Beurteilung nach der Altinhaberregelung erfolgte.
Eingeschränkte Einsichtsfähigkeit
Sofern bei augenkranken Personen im Rahmen der schrittweisen wiederholten Verkehrssicherheitsberatung Zweifel an der Einsichtsfähigkeit eines Betroffenen bestehen, sollte die Einbeziehung von Vertrauenspersonen (Angehörige) vorgeschlagen werden. Die Hinzuziehung darf allerdings nur mit Einwilligung des Patienten erfolgen. Da bei deutlicher Herabsetzung der Leistungsfunktionen des Auges oft gleichzeitig Allgemeinerkrankungen vorliegen, ist es zielführend, das Problem der Fahrtauglichkeit interdisziplinär mit den mitbehandelnden Fachdisziplinen (Hausarzt, Diabetologe, Neurologe) zu thematisieren. Auf die Einhaltung der ärztlichen Schweigepflicht ist sorgfältig zu achten.
Bei mangelhafter Adhärenz sollte man sich die wiederholten Bemühungen der Patientenaufklärung über eine Fahruntauglichkeit bezeugen lassen z. B. Mitarbeiteranwesenheit, Unterschrift.
Kompensation von Fahreignungsmängeln
Im § 46 der FeV ist festgelegt, sofern sich „der Inhaber einer Fahrerlaubnis noch als bedingt geeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen [erweist], schränkt die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis so weit wie notwendig ein oder ordnet die erforderlichen Auflagen an“.
Bei Feststellung einer bedingten Kraftfahreignung seitens der Augen muss der Augenarzt seine Beratungspflicht wahrnehmen und die Gesprächsinhalte dokumentieren. Zudem hat er der Fahrerlaubnisbehörde die Erteilung von geeigneten Auflagen und/oder Beschränkungen vorzuschlagen (Tab. 8).
  • Auflagen beinhalten Vorgaben an den Führerscheininhaber als Voraussetzung für seine Teilnahme am Straßenverkehr.
  • Beschränkungen sind immer auf das Fahrzeug bezogen, z. B. zwecks Ausstattung mit speziellen technischen Einrichtungen.
Tab. 8
Beschränkungen oder Auflagen infolge „bedingter Kraftfahreignung“ nach FeV
Beschränkungen
Auflagen
- Spezielle Schalteranordnungen
- Tragen einer Sehhilfe
- Automatikgetriebe
- Nachtfahrverbot
- Handgasbetätigung
- Verpflichtung zur Einhaltung einer maximalen Höchstgeschwindigkeit
 
- Begrenzung der Fahrtätigkeit auf den Wohnort bzw. näheren Umkreis
 
- Verpflichtung zu ärztlichen Nachuntersuchungen
Aktuelle weiterführende Informationen und Stellungnahmen zur medizinischen Begutachtung und zur Fahrerlaubnisverordnung jeweils unter
Literatur
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