Allgemeines
Die Berufsordnung für die Ärztinnen und Ärzte der einzelnen Bundesländer führt unter § 25 Ärztliche Gutachten und Zeugnisse aus: Bei der Ausstellung ärztlicher Gutachten und Zeugnisse haben Ärztinnen und Ärzte mit der notwendigen Sorgfalt zu verfahren und nach bestem Wissen ihre ärztliche Überzeugung auszusprechen. Gutachten und Zeugnisse, zu deren Ausstellung Ärztinnen und Ärzte verpflichtet sind oder die auszustellen sie übernommen haben, sind innerhalb einer angemessenen Frist abzugeben. (Amtsblatt M-V/AAz. 2005, S. 917, zuletzt geändert durch Satzung vom 12.05.2022)
In Ergänzung dazu, soll der anschließende Beitrag allgemeine grundlegende Aspekte der medizinischen Begutachtung erläutern (Abschn.
2.2,
2.3,
2.4,
2.5,
2.6,
2.7,
2.8,
2.9 und
2.10). Nicht selten sind es scheinbar kleine allgemeine Nachlässigkeiten, die ein Fachgutachten entwerten. Nur weil der Augenarzt den Gutachtenauftrag nicht der richtigen Rechtsgrundlage zugeordnet und damit mit der für die individuelle Begutachtung ungültigen Kausalitätstheorie und Bemessungsgrundlage gearbeitet hat oder rechtliche Begriffe inadäquat verwendet wurden. Wichtige Rechtsbegriffe im Zusammenhang mit Arzthaftungsangelegenheiten z. B. des Behandlungsfehlers werden besprochen (Abschn.
2.11) und eine Checkliste für die medizinische Begutachtung (Abschn.
2.12) mit den wichtigsten Gesichtspunkten nach Rechtsbereichen vorgestellt.
Ausgewählte Detailfragen, die entweder wiederkehrende besondere gutachtliche Beurteilungsschwierigkeiten darstellen (Abschn.
4.1 und
4.2) oder in der augenärztlichen Begutachtungsliteratur noch keine Verbreitung erfahren konnten, schließen sich an (Abschn.
4.3.1, „
Strafrecht“).
Der (Abschn.
4.4) zur Kraftfahreignung macht deutlich, dass der Augenarzt den Rollenwechsel vom helfenden Arzt in der Krankenversorgung zum ärztlichen Sachverständigen bei Tauglichkeitsprüfungen immer konsequent umsetzen muss, um haftungsrechtliche Fallstricke sicher zu vermeiden.
Ausnahmen – Rückgabe eines Gutachtenauftrages
Ein Gutachtenauftrag ist vom Arzt zeitnah an den Auftraggeber zurückzugeben, also unerledigt abzulehnen, falls objektive Gründe für eine Befangenheit vorliegen. Besorgnis zur Befangenheit besteht, wenn zu einer der Verfahrensparteien ein persönliches oder wirtschaftliches Näheverhältnis angenommen werden muss. Regelmäßig ist das für die nachfolgenden Konstellationen anzunehmen:
-
Als angeforderter Gutachter sind Sie gegenwärtig oder waren früher behandelnder Arzt einer Verfahrenspartei
-
Es wurde von Ihnen bereits ein Privatgutachten erstattet oder Sie waren am Schlichtungsverfahren beratend beteiligt
-
Persönliche Freundschaft oder Abhängigkeit zu einer Verfahrenspartei
-
Persönliche, engere berufliche Beziehungen zu den am Verfahren beteiligten Ärzten z. B. Tätigkeit im gleichen Klinikverbund, unmittelbares Konkurrenzverhältnis, intensive Kontakte durch gemeinsame Weiterbildungszeiten, Publikation von Fachliteratur, Fortbildungskurse
Besonderheiten der Begutachtung im Vergleich zur Krankenversorgung
Im Unterschied zur allgemeinen ärztlichen Tätigkeit hat der Augenarzt als Gutachter keine einem Patienten helfende, unterstützende therapeutische Aufgabe.
In seiner Funktion als fachkundiger Berater der Auftraggeber oder des Gerichtes ist er streng zur Neutralität und einer an objektiven medizinischen Befunden orientierten Begutachtung sowie zur Klärung von Beweisfragen verpflichtet.
Anhand der medizinischen Sachverhalte soll er mit medizinischem Erfahrungswissen durch das Zusammentragen fachmedizinischer Argumente eine medizinisch schlüssige und plausible Beweisführung unterstützen (Tab.
1).
Tab. 1
Rollenunterschiede zwischen dem Augenarzt in der Krankenversorgung und als Sachverständiger
Sämtliche subjektive Beschwerden und objektive Befunde werden akzeptiert, werden nur hinterfragt bei Therapieresistenz, Verdacht auf Aggravation o. Ä. | Objektiven Befunden kommt der entscheidende Stellenwert zu, subjektive Angaben sollten plausibel dazu passen |
Zweck: medizinische Behandlung | Zweck: Beweiserhebung und Beweissicherung |
Fokus: Patient | Fokus: Proband |
Auftraggeber: Patient, Krankenversicherung | Auftraggeber: Berufsgenossenschaften, Unfallkasse, Versicherungen, Gerichte, Schlichtungsstelle, Staatsanwaltschaft usw. |
Anforderungen an den Augenarzt als Gutachter
-
Unabhängig und neutral, objektiv nach dem naturwissenschaftlichen Erkenntnisstand und dem Erfahrungsstand der Medizin
-
Persönlich erworbene Fachkompetenz (gemäß § 407a Abs. 1 ZPO Zivilprozessordnung) und eigenverantwortliches Urteilsvermögen
-
Unaufgefordert hat der Gutachter zu prüfen, ob die Fragestellung des Auftraggebers die inhaltliche medizinische Kernproblematik erfasst
-
Beachtung der jeweiligen Rechtsgrundlagen
-
Vermeidung von Interaktionsfehlern
Keine vertraute Arzt-Patienten-Kommunikation, kein eigenes Ermittlungsrecht außerhalb der üblichen medizinischen Untersuchung
Haftung des Gutachters
-
Fehlerhafte gutachtliche Tätigkeit bedingt eine Schadensersatzpflicht gegenüber der geschädigten Verfahrenspartei(en)
Zivilrechtliche Haftungsansprüche aus Verletzung von Vertragspflichten gemäß § 280 BGB (Bürgerliches Gesetzbuch) oder Haftbarmachung per Delikt bzw. unerlaubter Handlung gemäß §§ 823 ff. BGB
-
Die Erteilung eines Falschzeugnisses ist mit bis zu 2 Jahren Freiheitsentzug bewehrt
-
Mit Annahme des Gutachtens ist die Erledigung des Auftrages in angemessener Zeit, sofern nicht anders vereinbart, innerhalb von maximal 3–6 Monaten zu erstellen
-
Augenärztliche Sachverständige vor Gericht unterliegen zudem der speziellen Regelung des BGB im § 839a Abs. 1 zur Haftung des gerichtlichen Sachverständigen: Erstattet ein vom Gericht ernannter Sachverständiger vorsätzlich oder grob fahrlässig ein unrichtiges Gutachten, so ist er zum Ersatz des Schadens verpflichtet, der einem Verfahrensbeteiligten durch eine gerichtliche Entscheidung entsteht, die auf diesem Gutachten beruht
Art des Gutachtens
Medizinische Gutachten werden vom Augenarzt in nachfolgender Form erstattet:
-
(Augen-)ärztliche Atteste
-
Befund- und Verlaufsberichte mit gutachterlicher Äußerung
-
Formulargutachten zu standardisierten Aufgabenstellungen
-
Freie Gutachten
Formulargutachten geben regelmäßig die Berufsgenossenschaften und gesetzlichen Unfallkassen sowie private Unfallversicherungen oder Lebensversicherungen in Auftrag. Falls der Augenarzt bei Erledigung des Gutachtenauftrages feststellt, dass eine angemessene Bearbeitung im vorgegebenen Fragenformat nicht unmissverständlich möglich ist, muss er das dem Auftraggeber mitteilen, verbunden mit der Empfehlung ein freies Gutachten anzufordern.
Freie Gutachten sind zu komplexen oder seltenen Fragestellungen zu verfassen.
Gutachten mit finaler Fragestellung (sog.
Zustandsgutachten) beschreiben das Vorhandensein einer Gesundheitsstörung mit Krankheitswert und die medizinischen Befunde, nach denen die vorliegenden Krankheitsbezeichnungen, also die Diagnose, ohne vernünftigen Zweifel anzunehmen ist.
Gutachten mit kausaler Fragestellung (sog.
Zusammenhangsgutachten) beschreiben nicht nur die objektiven medizinischen Befunde und Funktionsstörungen am Sehorgan, sondern erfordern zusätzlich auch die Beurteilung, auf welche Ursachen die Gesundheitsstörung bzw. eine festgestellte Funktionsstörung des Auges/der Augen zurückzuführen ist (Klärung der Ursache-Wirkungs-Beziehung und Abgrenzung gegen Gesundheitsschäden, die nicht auf das konkretbenannte Ereignis zurückzuführen sind).
Auftraggeber
Vor Beginn der Begutachtungstätigkeit muss der Gutachtenauftrag dem jeweils geltenden Rechtsbereich und den damit heranzuziehenden Rechtsgrundlagen und Bemessungsgrundlagen zugordnet werden (Tab.
2).
Tab. 2
Kenntnis der Begriffe aus verschiedenen Rechtsbereichen erleichtern die Einordnung des Gutachtenauftrages
Sozialrecht Gesetzliche Unfallversicherung | Sozialgesetzbuch (SGB) | Relevanztheorie | Stand der Medizin in der Fachliteratur, Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) |
Soziales Entschädigungsrecht | -Bundesversorgungsgesetz (BVG) -Opferentschädigungsgesetz (OEG) usw. | „Versorgungsmedizinische Grundsätze“ |
Verwaltungsrecht Beamtenrecht (Dienstunfallfürsorge) | Beamtenversorgungsgesetz (BeamtVG) | „Versorgungsmedizinische Grundsätze“ |
Zivilrecht Private Unfallversicherung Berufsunfähigkeitsversicherung (BU-Versicherung) Risikolebensversicherung | Allgemeine Unfallversicherungs-bedingungen (AUB), individuelle Sonderklauseln und Versionen | Adäquanztheorie | Gliedertaxe, Invaliditätsgrad (IG), Minderung der Gebrauchsfähigkeit (MdG) (außerhalb der Gliedertaxe keine obligatorischen Vorgaben Cave: Brillenabschlag) |
Haftpflichtversicherung | Versicherungsbedingungen (Allgemeine Bedingungen für die Kraftfahrzeugversicherung AKB, Allgemeine Haftpflichtbedingungen AHB) Versicherungsvertragsgesetz (VVG) | Freie Einschätzung |
Strafrecht | StGB § 226 Schwere Körperverletzung Arzthaftung | Äquivalenztheorie | |
Inhalt und Form
Grundform
-
Auftraggeber, Verfahrensparteien, Aktenzeichen
-
Verzeichnis aller in die medizinische Begutachtung einbezogenen Behandlungsunterlagen (Patientenakte, Bildgebung)
-
Grundsätzlich immer: Darstellung wesentlicher Inhalte zum Sachverhalt bzw. relevanten Krankheitsverlauf auf den sich die medizinische Bewertung bezieht
-
Aufführung der Fragestellung aus dem Gutachten-Auftrag
-
Ergebnisse der augenärztlichen Untersuchung – klare Unterscheidung objektiver Befunde und subjektiver Beschwerden
-
Medizinische Beurteilung mit Beantwortung sämtlicher Fragen, ggf. kurze Erläuterung, weshalb eine Frage keiner eindeutigen Klärung zugeführt werden konnte, z. B. Unvollständigkeit der Unterlagen, Notwendigkeit der Einbeziehung einer erläuternden Stellungnahme der Verfahrensparteien
-
Besonderheiten
Medizinische Qualität
Stand der Medizin versus persönliche Meinung
Der medizinische Standard zum Zeitpunkt der Durchführung einer ärztlichen Maßnahme ist der wesentliche Maßstab für eine gutachtliche Beurteilung.
Unter Facharztstandard ist dabei die ärztliche Vorgehensweise zu verstehen, wie sie die überwältigende Mehrheit aller Fachärzte zum Zeitpunkt der Behandlung nach den allgemein akzeptierten medizinischen Kenntnissen durchgeführt hätte. Damit werden die Kenntnisse und Fertigkeiten eines gewissenhaft arbeitenden und aufmerksam agierenden Facharztes verlangt.
Als Facharztstandard nicht gemeint sind
1.
besondere Fähigkeiten eines Subspezialisten.
2.
allein nur die standesgemäße Anerkennung als Facharzt.
Für die medizinisch-rechtliche Bewertung ausschlaggebend ist die fachlich-qualitative Erfüllung des sog. Facharztstandards.
Demnach kann auch ein Nichtfacharzt, z. B. ein Assistenzarzt, nach entsprechender Weiterbildung ohne Weiteres den Facharztstandard erfüllen.
Die Feststellung einer Abweichung vom Facharztstandard bedingt nicht allein von sich aus bereits einen Behandlungsfehler. Anhand der Behandlungsdokumentation sollte allerdings nachvollziehbar sein, weshalb von einer standardgerechten Maßnahmedurchführung abgewichen wurde.
Richtlinie
Eine Richtlinie ist eine generelle abstrakte Handlungsanweisung und schränkt die Methodenfreiheit drastisch ein. In der Augenheilkunde existieren solche Richtlinienvorgaben für die Gewinnung von Spenderhornhäuten und zum Führen einer Augenhornhautbank (Deutsches Ärzteblatt | 24.01.2018 |
DOI: 10.3238/arztebl.2018.rl_augenhornhautbank_02).
Leitlinie
Leitlinien, z. B. von BVA und DOG beschreiben den geltenden medizinischen Standard im Fachgebiet zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung, ohne dass dadurch die Methodenfreiheit strikt eingeschränkt wird. Empfehlungen aus Leitlinien sind bei einer juristischen Prüfung allerdings ein starker Hinweis (Indizienwirkung) darauf, dass die erforderliche ärztliche Sorgfalt eingehalten wurde. Beim Abweichen von einer Leitlinie bei der ärztlichen Behandlung einer Augenerkrankung sollte eine nachvollziehbare Begründung dokumentiert werden.
Untersuchungsmethoden
-
Klinische ophthalmologische Untersuchung
-
Psychophysische Funktionsprüfungen
-
Nichtinvasive bildgebende Untersuchung
-
Invasive apparative Untersuchung wie z. B. eine Fluoreszenzangiografie nur bei Genehmigung durch den Auftraggeber und gleichzeitig vorliegender
Einwilligung des zu Begutachtenden
Klassifikation körperlicher Einschränkungen nach Rechtsgebieten (Tab. 3)
Tab. 3
Begriffsdefinitionen und ihr Bezugszweck nach dem jeweiligen Rechtsgebiet
Invaliditätsgrad (IG) Minderung der Gebrauchsfähigkeit (MdG) | Private Unfallversicherung (Zivilrecht) | Individuelle abstrakte Beurteilung der Leistungsminderung des Auges im Vergleich zur durchschnittlichen Leistungsfähigkeit des Auges normaler, gesunder Personen etwa gleichen Lebensalters |
Grad der Behinderung (GdB) | Schwerbehindertenrecht | Beurteilung der Leistungsminderung der Augen im Vergleich mit den gesamten Lebensumständen normaler, gesunder Personen etwa gleichen Lebensalters ohne Bezug auf individuelle Lebensbefindlichkeiten |
Grad der Schädigungsfolge (GdS) | Soziales Entschädigungsrecht (Sozialrecht) | Beurteilung der Leistungsminderung der Augen infolge definierter Schädigungsereignisse im Vergleich mit den gesamten Lebensumständen normaler, gesunder Personen etwa gleichen Lebensalters ohne Bezug auf individuelle Lebensbefindlichkeiten |
Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) | Gesetzliche Unfallversicherung | Beurteilung der Leistungsminderung der Augen in Bezug auf den allgemeinen Arbeitsmarkt (kompletter Bereich des sog. „Erwerbslebens“) |
Dienstunfallfürsorge bei Beamten |
Haftpflichtversicherung | Zuletzt ausgeübte Berufstätigkeit inklusive der Aspekte beruflichen Vorwärtskommens (Beförderung) |
Behandlungsfehler
Der juristische Begriff des „Behandlungsfehlers“ umfasst sämtliche Bereiche der ärztlichen Tätigkeit, also nicht nur die medizinische Therapie, sondern auch alle diagnostischen Maßnahmen. Ein Behandlungsfehler liegt vor, wenn eine ärztliche Maßnahme zum Zeitpunkt ihrer Durchführung (oder auch das Unterlassen einer Maßnahme) nicht dem Stand der Medizin entsprach. Wesentlicher Maßstab dafür ist jeweils das Verhalten der Mehrzahl aller Fachärzte in einer vergleichbaren konkreten Behandlungssituation zum selben Zeitpunkt. Die Veränderungen der ärztlichen Tätigkeit, bedingt durch den medizinischen Fortschritt, sind zum konkreten Behandlungszeitpunkt zu berücksichtigen. Ausdrücklich sei hier auf die besondere Schwierigkeit hingewiesen, dass der Sachverständige das medizinische Handlungsgeschehen ex post (also im Nachgang) betrachtet, die Bewertung aber immer aus der Ex-ante-Perspektive (also der Vorher-Sicht zum früheren Zeitpunkt, eben der Behandlung) zu erfolgen hat.
Der Einstufung eines Behandlungsfehlers als grob kommt eine verfahrensentscheidende Bedeutung zu. Der grobe Behandlungsfehler bedingt eine Umkehr in der Beweislast.
Eine Beweiserleichterung oder gar die Beweislastumkehr
zu Gunsten des Patienten droht dem Augenarzt bei:
-
Dokumentationsmangel
-
Anfängerfehler, Übernahmeverschulden
-
Verwirklichung voll beherrschbarer Risiken (§ 630 h BGB)
-
Grobem Behandlungsfehler (auch in der Diagnostik)
-
Grobem Befunderhebungsfehler
Bedeutung der medizinischen Indikation
Die medizinische Indikationsstellung ist ein vielfältiger hochkomplexer Vorgang und erfolgt unter Bezug auf das personalisierte Behandlungsziel. Eine Stellungnahme der
Bundesärztekammer hebt 3 Aspekte einer medizinischen Indikation hervor:
-
Medizinisch-fachliche Ebene mit ärztlicher Evaluierung von Nutzen und Risiko vor dem Hintergrund bestehender Handlungsorientierungen in Form von Leitlinien oder anderen kodifizierten Behandlungsstandards
-
Rückspiegelung objektiver Befunde und Standards auf allgemein anerkannte Zielsetzungen medizinischen Handelns
-
Zusammenführen von standardisiertem Wissen und einzelfallbezogenen Erwägungs- und Ermessensprozessen (Individualität des Patienten)
Sofern im Nachgang einer invasiven Behandlung die Einhaltung des medizinischen Standards evaluiert wird, erfolgt im ersten Schritt regelmäßig eine juristische Prüfung der ärztlichen Legitimation für den Eingriff, nämlich der medizinischen Indikation und des Vorliegens einer wirksamen
Einwilligung des Patienten (Aufklärungsprotokoll). Die Indikation zu einer Behandlung hat sich an dem zum Zeitpunkt der Durchführung vorliegenden Erkenntnisstand der Medizin zu orientieren.
Die Indikation muss dem Facharztstandard entsprechend nachvollziehbar sein und ist anhand objektiver und subjektiver Befunde zu dokumentieren.
Aufklärung
(Risiko-)Eingriffsaufklärung (Selbstbestimmungsaufklärung):
Die Notwendigkeit einer ärztlichen Aufklärung vor Operationen ist im Paragrafen § 630 BGB geregelt. Dieser führt zur ordnungsgemäßen ärztlichen Aufklärung aus, dass diese „sämtliche für die
Einwilligung wesentlichen Umstände“ beinhalten muss und über „Notwendigkeit, Dringlichkeit, Eignung und Erfolgsaussichten“ im Hinblick auf die durchzuführende Augenoperation zu informieren hat.
Allgemeine förmliche Anforderungen an die Selbstbestimmungsaufklärung vor Augenoperationen (Tost und Lichtschlag-Traut
2022):
-
Aufklärung durch den Arzt
-
Mündliches Gespräch in angemessener Atmosphäre
-
Rechtzeitigkeit
-
Laienverständlich
-
Klärung individueller Fragen, Besonderheiten und Probleme
-
Selbstbestimmte Entscheidungsfindung durch den Patienten
-
Dokumentation der Gesprächsinhalte
-
Aushändigung einer Kopie der Aufklärungsdokumentation an den Patienten,
bei Verzicht auch Dokumentation derselben, ggf. mittels Zeugen
Durchführung eines Eingriffs
-
Einhaltung grundsätzlich anerkannter Standardmaßnahmen im Fachgebiet
-
Dokumentation individueller Vorkehrungen bei möglichen voll beherrschbaren Risiken
-
Abweichungen vom Standardvorgehen erfordern eine Begründung und personalisierte Dokumentation
Komplikationen
-
Komplikationen erfordern allgemein das rechtzeitige Erkennen und eine sofortige angemessene Handlungsweise zur Beseitigung oder Abmilderung der Nebenwirkungen.
-
Komplikationen und Nebenwirkungen sind unerwünschte Ereignisse als Folge einer ärztlichen Tätigkeit, die trotz Einhaltung der gebotenen Sorgfalt und medizinischen Standards eintreten können (sog. eingriffstypische Risiken, nicht vermeidbare Komplikationen).
-
Das Auftreten von Komplikationen gerade nach chirurgischen Eingriffen weist nicht automatisch auf einen Behandlungsfehler hin. Für jeden Sachverhalt ist ggf. der kausale Zusammenhang zwischen einem Fehler und dem Gesundheitsschaden (durch eine Komplikation) konkret zu prüfen.
-
Eine Komplikation kann aber auch Folge eines Behandlungsfehlers sein, weil sich eine derartige Nebenwirkung bei einem ordnungsgemäß vorgenommenen Eingriff typischerweise nicht manifestiert, z. B. Abweichung von der Zielrefraktion um 8,0 Dioptrien (dpt) bei einem Linsenaustausch ohne besondere anatomische Auffälligkeiten des betroffenen Auges.
-
Voll beherrschbare Risiken sind Komplikationen mit Gesundheitsschäden, die auf Gefahren zurückzuführen sind, die ärztlicherseits objektiv voll ausgeschlossen werden können, z. B. Verätzung durch Desinfektionsmittel oder fehlerhafte Apparatetechnik, z. B. schwere Diathermieschäden.
Bei Eintreten eines voll beherrschbaren Risikos genügt dann bereits der Anscheinsbeweis und der Beweis eines Behandlungsfehlers ist nicht weiter vonnöten.
Sicherungsaufklärung und Nachbehandlung
Sicherungsaufklärung (therapeutische Aufklärung):
Unter Sicherungsaufklärung wird die Informationspflicht des Arztes verstanden, den Patienten über ein therapiegerechtes, den Behandlungserfolg sicherndes Verhalten und ggf. zu ergreifende Maßnahmen zur Schadensabwehr zu informieren. Die Informationspflichten sind im § 630c BGB geregelt. Sie sollen den Erfolg medizinischer Maßnahmen im Behandlungsverlauf gewährleisten (z. B. bei wiederholter Verordnung einer Lokaltherapie mit
Kortikosteroiden ist der Patient über die Gefahr eines Steroid-Glaukoms zu informieren und auf die Notwendigkeit der Augeninnendruckkontrolle, Sehnervbeurteilung hinzuweisen). Im Unterschied zur Risikoaufklärung liegt die Beweislast bei Verletzung der ärztlichen Behandlungspflichten in der therapeutischen Aufklärung beim Patienten. Die Sicherungsaufklärung sollte dokumentiert werden.
Nachbehandlung umfasst
Aufbewahrung der Dokumentation
-
Die Aufbewahrungsfrist ist abhängig von der Unterlagenart.
-
Nach § 630 f BGB sind Patientenakten nach Abschluss der Behandlung 10 Jahre aufzubewahren.
-
Vorsicht bei chronischen Augenerkrankungen, solange sich der Patient in Behandlung befindet, ist die längere Aufbewahrung über 10 Jahre empfehlenswert.
-
Bei zivilrechtlichen Schadensansprüchen kann sogar ein Zeitraum von 30 Jahren nach dem letzten Behandlungsereignis von Bedeutung sein, um den Behandlungsverlauf nachvollziehen zu können.
Die Verjährungsfrist beginnt ab dem Zeitpunkt, ab dem der Patient von einem möglichen Behandlungsfehler erstmals Kenntnis hatte!
Checkliste medizinische Gutachten
Auftragseingang, Prüfung, Gutachtenauftragsannahme oder -ablehnung
Nach erster Durchsicht der Unterlagen muss der Gutachter für sich klären:
-
Sind meine medizinischen und rechtlichen Kompetenzen ausreichend?
-
Bestehen objektive Gründe einer Befangenheit (z. B. früher selbst behandelnder Arzt)?
-
Kann die Gutachtenerstellung in angemessener Frist erledigt werden?
-
Wurden die Behandlungsunterlagen vollständig übermittelt? (Nachforderung?)
-
Wurde eine den medizinischen Sachverhalt angemessene Fragestellung vom Auftraggeber formuliert?
-
Ist der mitgeteilte Kostenrahmen angemessen?
-
Erfordert der Gutachtenauftrag die Einbeziehung weiterer Mitarbeiter?
Formalien
-
Deckblattgestaltung mit Angabe von Institution und fachlicher Qualifikation
-
Auftraggeber
-
Probandenangaben (Name, Vorname, Geburtsdatum, Adresse)
-
Aktenzeichen des Auftraggebers
-
Sämtliche Daten, auf denen die Erstellung des Gutachtens basiert (Behandlungsakten, klinische Untersuchung, Zusatzbefunde)
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Datum der gutachtlichen Untersuchung und der Fertigstellung des Gutachtens
-
Aufzählen einbezogener Mitarbeiter, Art deren Tätigkeit
-
Wiedergabe der zu beantwortenden Fragestellung aus dem Gutachtenauftrag
-
Interaktion mit Verfahrensparteien – außerhalb der gutachtlichen Untersuchung – lediglich über den Auftraggeber
Sachverhaltsdarstellung
-
Vorgeschichte nach Aktenlage
-
Befragung des zu Begutachtenden (anamnestische Befragungsthemen nach Problemstellung: spezielle, allgemeine und biografische Anamnese)
Besonders wichtig: Dokumentation beklagter Beschwerden und subjektiver Beeinträchtigungen
-
Fremdanamnese nur nach Rücksprache mit dem Auftraggeber (und
Einwilligung des Probanden)
-
Gegebenenfalls erforderlich: psychischer Befund mit Verhaltensschilderung, Erwähnung fehlender Unterlagen
-
Krankheitsbezeichnungen gemäß ICD-10-Verschlüsselung
-
Qualitative und quantitative Beschreibung der Funktionsstörungen, der Beeinträchtigungen und der Partizipation gemäß der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF-Kontextfaktoren)
Gutachtliche Würdigung
-
Herausarbeiten der gutachtlich wesentlichen Gegebenheiten aus dem vorn geschilderten Sachverhalt
-
Laienverständliche Erklärung der vorliegenden Krankheitsbezeichnungen
-
Beschreibung der aus den objektiven Befunden und festgestellten Krankheitsbezeichnungen resultierenden Leistungseinschränkungen und Beeinträchtigungen auf dem Hintergrund der persönlichen und umweltbedingten Kontextfaktoren
-
Bei unzureichender
Plausibilität zwischen subjektiven Beschwerden, objektiven Befunden und den Resultaten der psychophysischen Funktionsprüfungen Erörterung der medizinischen Schlüssigkeit unter Bezugnahme auf den geschilderten Sachverhalt
-
Gegebenenfalls bei Hinweis auf inadäquate Beschwerdevorbringungen (inadäquate Kausalisierungen, Aggravation,
Simulation) Durchführung objektiver Funktionsprüfungen und Plausibilitätstest
Jede vermeidbare gutachtliche Nachuntersuchung erhöht den Kostenaufwand für den Auftraggeber und erschwert weiteren Sachverständigen die Vorgehensweise.
-
Bei kausalitätsbezogenen Gutachten Erörterung der Kausalzusammenhänge unter Beachtung des geforderten Beweismaßes von Wahrscheinlichkeit/Sicherheit
-
Bei Vorgutachten oder Attesten konkrete inhaltliche Auseinandersetzung mit den vorliegenden Stellungnahmen. Vermeiden von pauschaler Kritik am Vorgutachter
Festlegung der Funktionsbeeinträchtigungen
-
Schwerbehindertenrecht: GdB (Grad der Behinderung) und bei besonderen Beeinträchtigungen Empfehlung von Merkzeichen
-
Soziales Entschädigungsrecht: GdS (Grad der Schädigungsfolgen)
-
Rentenversicherung: Erwerbsminderung nach Stundenzahl der täglich möglichen Arbeitszeit, qualitative Leistungsfähigkeitseinschränkungen, z. B. fehlendes körperliches Sehen
-
Gesetzliche Unfallversicherung: MdE (Minderung der Erwerbsfähigkeit)
-
Private Unfallversicherung: Beeinträchtigung in der Funktionsfähigkeit eines oder beider Augen bzw. des Zusammenwirkens beider Augen gemäß der geltenden Gliedertaxe, Minderung der Gebrauchsfähigkeit (MdG) oder Invaliditätsgrad (IG)
-
Haftpflichtversicherung: Ausgleich aller konkreten Schäden, (Verdienstausfall, Umschulungs- und Umbaukosten, Rente etc.), evtl. MdE (dann als Plausibilitätsindikator oder in Bezug auf die konkrete Erwerbstätigkeit)
Beantwortung der vom Auftraggeber oder im Beweisbeschluss eines Gerichtes gestellten Fragen
Beantwortung des gestellten Fragenkataloges.
Insbesondere bei Gerichtsgutachten setzt die konkrete Beantwortung regelmäßig eine umfassende Beweiserhebung voraus. Sofern der Sachverständige hier noch Klärungsbedarf erkennt, muss er darauf hinweisen. Seine medizinische Bewertung darf sich nur auf festgestellte medizinische Befundtatsachen und medizinische Hinweise beziehen, ggf. sind alternativ alle „nach einem für das praktische Leben brauchbaren Grad an Gewissheit“ vorstellbaren Hergangsvarianten zu erläutern.
Keine Darlegungen zu Sachverhalten außerhalb der Fragestellung/Beweisanordnung:
Bei medizinischen Gutachten zu möglichen Behandlungsfehlern wird beispielsweise eine Beurteilung der Risikoaufklärung durch den Sachverständigen nur beim gleichzeitigen Vorliegen einer Aufklärungsrüge erwartet.
Ausgewählte Aspekte der medizinischen Zusammenhangsbegutachtung bei Gesundheitsstörungen des vorderen und hinteren Augenabschnittes
Hierzu muss grundsätzlich eine ausführliche Feststellung der medizinischen Tatsachen aus ophthalmologischer Betrachtungsweise vorgenommen werden (Tost und Stahl
2020).
Dazu gehören:
-
eine verbale Beschreibung des nichtmedizinischen Sachverhaltes (Unfallhergang) durch den Betroffenen selbst,
-
die vollständige Beschreibung des Lebensvorganges, der zum Unfall geführt hat,
-
eine Dokumentation sämtlicher (u. a. Begleitumstände, Datum, Zeit und Ort des Unfalles, beteiligte Personen, Tätigkeit und Arbeitsmittel, Materialien und verwendete Substanzen, Nutzung einer Gleitsicht- oder Schutzbrille, Kontaktlinsen),
-
Erfassung objektiver Verletzungszeichen, die als medizinische Hinweise (Indizien) für ein stattgehabtes Augentrauma dienen können,
-
sachlich beschreibende und vorzugsweise fotografische Erfassung sämtlicher objektiver anatomisch-morphologischer Abweichungen vom Normalbefund (Tab.
5).
Tab. 5
Gefordertes Beweismaß in der Zusammenhangsbegutachtung nach Rechtsbereichen
Rechtsbereich der Zusammenhangsbeurteilung | | Zivilrecht | Zivilrecht | Öffentliches Recht |
Unfall- oder Schädigungsereignis | Auftraggeber | Vollbeweis | Vollbeweis | Vollbeweis |
Gesundheitsschädigung (Erstschaden) | Augenarzt | Vollbeweis | Vollbeweis | Vollbeweis |
Funktionsbeeinträchtigung (Sekundär- oder Folgeschaden) | Augenarzt | Vollbeweis | Wahrscheinlichkeit | Vollbeweis |
Verknüpfung Schädigungsereignis – Erstschaden | Augenarzt | Vollbeweis | Vollbeweis | Wahrscheinlichkeit |
Verknüpfung Erstschaden – (Sekundär- oder Folgeschaden) | Augenarzt | Wahrscheinlichkeit | Wahrscheinlichkeit | Wahrscheinlichkeit |
Augenprellung (Contusio bulbi)
Hierzu muss die augenärztliche Untersuchung den Erstschaden (Primärschaden) im Vollbeweis anhand objektiver medizinischer Befunde sichern.
Feststellung typischer objektiver Befunde eines Primärschadens bei Augenprellung, z. B. Hyphäma, Kammerwinkelrezessus, Phakodonesis, Glaskörperblutung, Commotio retinae.
Bei augenärztlicher Begutachtung von Kontusionsfolgen am Auge immer eine gonioskopische Untersuchung der Kammerwinkelregion in den Untersuchungsablauf einplanen.
Nur wenn sich charakteristische morphologische Schadensmuster eines Unfall- oder anderweitigen Schädigungsereignisses „ohne vernünftige Zweifel“ dokumentieren lassen ist der sog. Vollbeweis für den Erstschaden erbracht.
Erfassung von Funktionsstörungen als Folge des Erstschadens (Sekundärschaden) z. B. Sehschärfeverlust durch eine Cataracta traumatica oder chronische Druckdekompensation bei Iridodialyse.
Traumatische Netzhautablösung (Amotio retinae)
-
Eine Netzhautablösung ist nur als unfallbedingt in Betracht zu ziehen, wenn ein schädigendes Ereignis von außen so auf den Körper eingewirkt hat, dass ein Gewebeschaden (Strukturschädigung) eintreten konnte, der mit einer Abhebung der neurosensorischen Netzhaut vom retinalen Pigmentepithel verbunden ist.
-
Entstehungsmechanismen, die eine Ursache-Wirkungs-Beziehung zur Netzhautablösung mit hoher Wahrscheinlichkeit unterstützen, sind:
-
Gewaltsamer Abriss der Glaskörperbasis entweder anterior oder im Bereich des posterioren Ansatzes der Glaskörperbasis,
-
vitreoretinale Adhäsionen (z. B. Glaskörperverdichtungen, -stränge, Membranbildung), die in ihrer Ausprägung wie eine diabetische proliferative Vitreoretinopathie (PVR) einzustufen sind,
-
dokumentiertes örtliches Trauma mit skleraler Aufschlagsstelle und Nekrose im korrespondierenden Netzhautareal,
-
dokumentiertes lokales Trauma in einem Netzhautareal gegenüber der skleralen Aufschlagsstelle (Contrecoup),
-
naturwissenschaftlich nachvollziehbare heftige abrupte Start-Stopp-Reaktion mit besonderer Beanspruchung der Gewebemechanik (akute hintere Glaskörperabhebung (Tab.
6)).
-
Pathomechanismen, bei denen eine Ursache-Wirkungs-Beziehung zur Netzhautablösung unwahrscheinlich ist:
-
Indirektes Trauma ohne direkte Krafteinwirkung auf das Augeninnere,
-
Schadensmechanismen ohne eindeutige punktuelle Einwirkung auf Glaskörper und Netzhaut bzw. ohne nachweisliche plötzliche massive Verformung des betroffenen Auges.
Tab. 6
Kausalitätsbeurteilung der traumatischen Netzhautablösung
Lokalisation des Traumas | intraokular | Entfernt vom Auge |
Manifestation, Zeitpunkt | Zeitgleich mit Unfall | Längeres Intervall |
Lebensalter | < 45–50 Jahre | > 45–50 Jahre |
Spätschäden | Brückensymptome | Keine Brückensymptome |
Risikofaktoren | keine | Achsenmyopie, Frühgeburtlichtkeit, genetische Prädisposition, Amotio des Partnerauges |
Vorschädigungen | keine | Vitreoretinale Veränderungen o. Degenerationen bds., Pseudophakie, alte Foramina, Zustand nach Glaskörper-Netzhautchirurgie |
Begleitschäden im/am Bulbus oculi | Ja | Nein |
Unfallmechanismus | Häufig und typisch | Selten und untypisch |
Zuerst sämtliche Gelegenheitsursachen ausgrenzen. Gelegenheitsursachen sind sämtliche Vorschäden oder Gebrechen, die schon infolge alltagsüblicher Belastungen im nahezu demselben Ausmaß und ähnlichen Zeitpunkt zum Gesundheitsschaden hätten führen können.
Berufskrankheiten
Augenerkrankungen sind als Berufskrankheiten in Betracht zu ziehen, wenn sie in die Berufskrankheitenliste zur Berufskrankheitenverordnung (BKV), aufgenommen wurden (BKV Anlage 1 sog. Listenprinzip, letzte Ergänzung mit 5. BKVÄndV vom 29.06.2021 BGBl. I S. 2245, Nr. 38) oder im besonderen Einzelfall aufgrund einer nachvollziehbaren medizinischen Begründung Anerkennung finden. Es muss ein naturwissenschaftlicher Zusammenhang zwischen der Einwirkung und der Krankheit im Sinne einer objektiven Verursachung gegeben und nachvollziehbar begründet werden, dass für eine bestimmte Personengruppe arbeitsbedingt deutlich erhöhte Risiken entstanden sind von einer bestimmten Gesundheitsstörung betroffen zu sein. Klinische Bedeutung für die augenärztliche Tätigkeit haben die Berufskrankheiten (BK) Nr. 1108, 1302, 1310, 1313, 2401, 2402, 5101, 5103 und 6101:
-
BK Nr. 1108 Erkrankungen durch
Arsen oder seine Verbindungen
-
BK Nr. 1302 Erkrankungen durch Halogenkohlenwasserstoffe
-
BK Nr. 1313 Hornhautschädigungen des Auges durch Benzochinon
-
BK Nr. 2401 Grauer Star durch Wärmestrahlung
-
-
BK Nr. 5101 Schwere oder wiederholt rückfällige Hauterkrankungen, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können
-
BK Nr. 6101 Augenzittern der Bergleute
-
BK Nr. 5103 Plattenepithelkarzinome oder multiple
aktinische Keratosen der Haut durch natürliche UV-Strahlung
Plattenepithelkarzinome und multiple
aktinische Keratosen der Haut (also einschließlich der periokulären Region) werden bei berufsbedingter UV-Exposition als Berufskrankheit anerkannt. Nach dem Stand der Medizin haben beruflich exponierte Arbeitstätige ein im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung 2- bis 3-mal höheres Risiko für die Manifestation dieser Hautveränderungen.
Bereits den Verdacht auf das Vorliegen einer Berufskrankheit muss der Augenarzt an den Unfallversicherungsträger melden.
Beim histologischen Nachweis eines Plattenepithelkarzinoms, einer
aktinischen Keratose oder eines
Morbus Bowen (Präkanzerosen) in der periokulären Region (Augenlider und Bindehautoberfläche gehören zu den besonders von der UV-Strahlung betroffenen Arealen der
Körperoberfläche) müssen Betroffene regelmäßig nach ihrer Berufstätigkeit befragt werden. Bei überwiegender Berufstätigkeit im Freien, z. B. Landschaftsbau, Bauwirtschaft, Seeleute, ergibt sich bereits eine ärztliche Mitwirkungspflicht, weil bereits der ärztliche Verdacht auf eine Berufskrankheit meldepflichtig ist.
Die Aufwandserstattung für die Übermittlung einer BK-Verdachtsanzeige mittels Vordruck F 6000 beträgt 17,96 € gemäß UV-GOÄ 2017 mit Stand: 01.01.2021.
Bei unterlassener Verdachtsanzeige kann sogar ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch durch die Kinder des betroffenen Patienten als Sonderrechtsnachfolger resultieren, falls dieser zwischenzeitlich verstirbt (siehe auch Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 08.10.1998 – B 8 KN 1/97 U R).
Strahlenkatarakt – durch kumulative chronische Schädigung
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Krankhafte
Trübungen der Augenlinse durch ionisierende Strahlung (Strahlenkatarakt) sind in der Ophthalmologie seit Langem bekannt und in der Fachliteratur ausführlich beschrieben (Gramberg-Danielsen
1996). Verändert hat sich aber das Verständnis spezieller Schadensmechanismen an der menschlichen Augenlinse durch chronisch regelmäßig erneut einwirkende niedrige Strahlendosen (unter 0,5 Gy). Deshalb wird heute ein gewebespezifisches Reaktionsmodell der körpereigenen Augenlinse zugrunde gelegt (De Stefano et al.
2022; Tost und Rohrschneider
2022).
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Das Strahlenschutzgesetz wurde zum 01.01.2019 angepasst und der Grenzwert der Organäquivalentdosis der Augenlinse für beruflich exponierte Personen von 150 Millisievert (mSv) auf 20 mSv im Kalenderjahr herabgesetzt (StrlSchG § 78, Abs. 2, Punkt 1).
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Insbesondere bei medizinischem Personal mit langjähriger Berufstätigkeit im Strahlenbereich z. B. bestimmte Verfahren der interventionellen Kardiologie, Strahlenbelastung bei intraoperativer Durchleuchtung im unfallchirurgischen Operationssaal ist für den Zeitraum vor 2019 bis zur Optimierung von Schutzmaßnahmen für die Augenregion zumindest von einer Gefährdung betroffener Personen im Sinne der BK 2402 daher auszugehen (Görtz und Al Halabi
2020; Krieger
2019).
Die augenärztliche Begutachtung bei möglicher berufsbedingter chronischer Strahlenexposition erfordert dann: unabhängig von einer Schwellendosis die Anerkennung einer Strahlenkatarakt als Berufskrankheit individuell zu erörtern und abzuwägen, sofern dem medizinischen Sachverständigen keinerlei konkurrierende medizinische Befundtatsachen bekannt werden. Für die medizinische Begutachtung heranzuziehen sind
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Mitteilung durch den Gutachtenauftraggeber zur beruflichen Tätigkeit mit Stellungnahme zur Arbeitsplatzexposition für die Berufslebensdauer unter Angabe der maximal anzunehmenden Strahlenexposition an der Augenlinse.
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Allgemeine und berufliche Anamnese durch den Sachverständigen und Feststellung sämtlicher subjektiver Beschwerden und vor allem objektiver medizinischer Befunde. Klare Beschreibung der baulichen Linsenveränderungen sowie Fotodokumentation des Lokalbefundes.
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Unterscheidung zwischen Gesundheitsstörungen, die durch ionisierende Strahlen entstehen können, und nichtberufsbedingten Erkrankungen sowie altersbedingten Veränderungen.
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Medizinische Bewertung, ob aufgrund der nachgewiesenen Strahlenexposition die Verdopplungsdosis erreicht wurde (Tab.
7).
Tab. 7
Kausalitätsbeurteilung bei Strahlenkatarakt durch kumulative Wirkung chronischer niedriger Strahlungsexposition
Lokalisation der Linsentrübung | Posteriore subkapsuläre Rindentrübung/Kapseltrübung, seltener andere Trübungsformen wie Kernsklerose | Andere Lokalisationen, Wasserspalten-Speichenstar, Kranzstar, punktförmige Trübungen, Pyramiden- oder Spindelstar |
Lebensalter bei Erstmanifestation | < 65 Jahre | > 65 Jahre |
Risikofaktoren | Keine | Kataraktogene Medikamente Genetische Prädisposition, Haut- und Allgemeinerkrankungen |
Vorschädigungen - okulär | Keine | Phakolentodonesis, Kammerwinkelrezessus Traumaanamnese, Uveitiszeichen usw. |
Vorschädigungen - allgemein | Keine | Chemotherapie, Nikotinabusus, Stoffwechselkrankheiten Medizinische Strahlenbelastung, z. B. Computertomografien des Kopfes |
Verdopplungsdosisa erreicht | Ja | Nein |
Bestätigte langjährige berufliche Strahlenexposition | Ja | Nein |
Zusammenfassende medizinische Begutachtung der Ursache-Wirkungs-Beziehung bei Strahlenkatarakt durch chronisch wiederkehrende niedrige Strahlungsexposition:
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Erläuterung sämtlicher festgestellter Diagnosen und deren medizinischer Mitwirkungsanteile an der vorzeitigen Entstehung krankhafter Linsentrübungen.
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Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der krankhaften Linsentrübung (Katarakt) und der nachgewiesenen Strahlenexposition ist anzunehmen, wenn der schädigende Einfluss der chronischen Strahlungsexposition im Vergleich zu anderen konkurrierenden Einflussfaktoren oder Krankheitsbildern eine medizinisch überragende Bedeutung beizumessen ist. Das ist gewöhnlich gegeben, wenn sich ein berufliches Risiko verwirklicht und sich eben gerade nicht ein allgemeines Lebensrisiko damit manifestiert hat.
Vorweg sind alle Gelegenheitsursachen auszugrenzen.
Das Erreichen der Verdopplungsdosis kann in der abwägenden medizinischen Gesamtbetrachtung nur ein Teilaspekt sein. Die zeitliche Vorverlagerung typischer krankhafter Linsentrübungen ist als wesentlich tragfähigere objektive medizinische Befundtatsache für ein medizinisch schlüssiges berufsbedingtes Kausalgeschehen zu bewerten.
Augenärztliche Beurteilung der Kraftfahreignung
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Die augenärztliche Beurteilung der Kraftfahreignung richtet sich nach den Vorgaben der Fahrerlaubnisverordnung.
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Zusätzlich sind verschiedene verwaltungsrechtliche und gesetzliche Vorgaben zu berücksichtigen
Wesentlicher Zweck der Fahrerlaubnisverordnung ist es, soweit es geht, allen Menschen ein personalisiertes Anrecht auf Teilnahme am motorisierten Individualverkehr vor dem Hintergrund des Schutzes der Allgemeinheit vor Schäden gemäß den verwaltungsrechtlichen Vorgaben zu ermöglichen.
Die allerbeste Orientierungshilfe geben dem Augenarzt die Empfehlungen der Fachverbände von DOG und BVA zur Fahreignungsbegutachtung.
Die Fahrerlaubnisverordnung (FeV) beschreibt eine ganze Reihe an Fahrerlaubnisklassen die sich in Bezug auf die medizinischen Tauglichkeitsanforderungen in 2 Gruppen gliedern lassen.
Augenärztliche Angelegenheiten zur Fahrerlaubnisverordnung sind grundsätzlich immer nach 2 Aspekten zu ordnen:
Verbindliche medizinische Einschätzungen der personalisierten Fahrtauglichkeit setzen immer die ophthalmologische gutachtliche Untersuchung voraus.
Chronisch Augenkranke sind in mehrjährigen Abständen (ca. alle 5 Jahre) über eventuell absehbare Auswirkungen ihrer Augenerkrankung (wie Glaukom, altersabhängige Makuladegeneration AMD, Netzhautdystrophie) auf den Lebensalltag und die Fahrtauglichkeit orientierend in Kenntnis zu setzen.
Auch dieses verkehrsophthalmologische Beratungsgespräch ist in der Patientenakte zu dokumentieren.
Allgemeingültige Festlegungen wie in Anlage 6 zu § 12 Sehvermögen der FeV, die über alle gesellschaftlichen Bereiche hinweg verständlich sein soll, kann nicht in allen Belangen etablierte fachmedizinische Definitionen berücksichtigen. Spezielle augenärztliche Aspekte werden daher in den einschlägigen Stellungnahmen der Verkehrskommission von DOG und BVA thematisiert.
Ein besonderes medizinisches Problem der Fahrtauglichkeitsprüfung seitens der Augen ist, dass dort festgestellte relevante Fahreignungsmängel mit Ausnahme der häufig ausgesprochenen Auflage des Tragens einer Sehhilfe (Brille, Kontaktlinsen) nicht zu kompensieren sind z. B. Unterschreitung der Mindestanforderungen an das Gesichtsfeld. Der Augenarzt muss bei neu festgestellten Beeinträchtigungen der Teilfunktionen des Auges besonders sorgfältig nach den Vorgaben und Möglichkeiten der FeV abwägen. Insbesondere bei Antragstellern der Gruppe 1 ist die eigentliche Zweckbestimmung der FeV zu bedenken. Mit der Formulierung in der Anlage 6 (zu den §§ 12, 48 Absatz 4 und 5) FeV 1,3, dass eine „Erteilung der Fahrerlaubnis … in Ausnahmefällen in Betracht gezogen werden [darf]“ vermeidet die FeV eine strikte und rigorose Grenzwertziehung. Letzteres ermöglicht dem Sachverständigen eine individuell begründete Empfehlung an die Verwaltungsbehörde abzugeben, falls beispielsweise die Visusstufe minimal unterschritten wurde. Eignungsmängel anderer Teilfunktionen der Augen dürfen dann aber gleichzeitig nicht noch vorliegen.
Bei mangelhafter Adhärenz sollte man sich die wiederholten Bemühungen der
Patientenaufklärung über eine Fahruntauglichkeit bezeugen lassen z. B. Mitarbeiteranwesenheit, Unterschrift.
Bei Feststellung einer bedingten Kraftfahreignung seitens der Augen muss der Augenarzt seine Beratungspflicht wahrnehmen und die Gesprächsinhalte dokumentieren. Zudem hat er der Fahrerlaubnisbehörde die Erteilung von geeigneten Auflagen
und/oder Beschränkungen
vorzuschlagen (Tab.
8).
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Auflagen beinhalten Vorgaben an den Führerscheininhaber als Voraussetzung für seine Teilnahme am Straßenverkehr.
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Beschränkungen sind immer auf das Fahrzeug bezogen, z. B. zwecks Ausstattung mit speziellen technischen Einrichtungen.
Tab. 8
Beschränkungen oder Auflagen infolge „bedingter Kraftfahreignung“ nach FeV
- Spezielle Schalteranordnungen | - Tragen einer Sehhilfe |
- Automatikgetriebe | - Nachtfahrverbot |
- Handgasbetätigung | - Verpflichtung zur Einhaltung einer maximalen Höchstgeschwindigkeit |
| - Begrenzung der Fahrtätigkeit auf den Wohnort bzw. näheren Umkreis |
| - Verpflichtung zu ärztlichen Nachuntersuchungen |
Aktuelle weiterführende Informationen und Stellungnahmen zur medizinischen Begutachtung und zur Fahrerlaubnisverordnung jeweils unter