Der aktuell erklärte Wille des Patienten ist für die Behandlung bindend.
Die Entscheidungsfindung ist gerade bei der Behandlung von Patienten auf einer Intensivstation nicht immer leicht. Es bedarf gleichermaßen ärztlicher wie menschlicher Erfahrung, die Grenzen eines sinnvollen Einsatzes intensivmedizinischer Maßnahmen zu erkennen, die sich nicht nur an ökonomischen Kriterien orientieren, sondern an der Wiederherstellung eines für den betroffenen Menschen akzeptablen Gesundheitszustandes. Entscheidungen bedeuten immer auch Urteilsbildung, Respektierung individueller Werte, Begleitung und die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Entscheidungen möglichst im multidisziplinären Team nach bestem Wissen und Gewissen zu treffen, kann aber auch bedeuten, zu akzeptieren, dass man im Einzelfall auch einmal eine falsche Entscheidung trifft.
Wege der Entscheidungsfindung in der Intensivmedizin
Im Grenzbereich zwischen Leben und Sterben bedarf es insbesondere im Spannungsfeld von medizinischen Möglichkeiten, sozialen Interessen, gesellschaftlichen Prioritäten und individuellen Erwartungen einer Orientierungshilfe (De Ridder und Dißmann
1998). Jedoch ist die Beurteilung, ob der Sterbeprozess eines Menschen bereits begonnen hat und ob Maßnahmen eine Verlängerung des Sterbens oder des Lebens bedeuten würden, nicht nur in der
Intensivmedizin häufig schwierig. Zudem wird nicht selten berichtet, dass Ärzte sich mit einem Behandlungsverzicht u. a. aus Angst vor juristischen Konsequenzen und Furcht vor Vorwürfen Angehöriger oder Vorgesetzter schwer tun und eher den „sicheren“ Weg der Maximaltherapie wählen.
Heileingriffe erfüllen nach gültiger Rechtsprechung den (äußeren) Tatbestand der Körperverletzung, sofern sie nicht durch ausdrückliche oder mutmaßliche
Einwilligung des Patienten gerechtfertigt sind. Dies gilt selbst dann, wenn der Eingriff vital indiziert und dringend ist, lege artis durchgeführt wird und in jeder Hinsicht erfolgreich verläuft (Weißauer
1999). Das Selbstbestimmungsrecht des bewusstseinsklaren Patienten muss respektiert werden, auch wenn der Patient einen lebensrettenden oder lebensverlängernden Eingriff ablehnt (Säuberlich
1998).
In der Intensivbehandlung nimmt infolge demographischer Entwicklungen sowie aufgrund der Fortschritte der Medizin die Zahl nicht einwilligungsfähiger Patienten zu. Gleichzeitig müssen Ärzte sich nicht nur in der
Intensivmedizin mit der Tatsache auseinandersetzten, dass verbindlich gültige Patientenverfügungen, Vorsorgevollmachten oder Betreuungsverfügungen von Angehörigen oder Betreuern vorgelegt werden. Hierdurch kann der Patient auch für den Fall, dass er sich nicht (mehr) mündlich äußern kann, sein Selbstbestimmungsrecht wahrnehmen und Einfluss auf eine medizinische Behandlung nehmen.
Ärztliches Handeln ist an die medizinische Indikation und die Zustimmung des Patienten gebunden – und damit auch an den in einer Patientenverfügung geäußerten Willen.
Die seit 1. September 2009 gültige Gesetzgebung zur Patientenverfügung bekräftigt die Verbindlichkeit, wobei deutlich wird, dass, je konkreter eine Patientenverfügung inhaltlich gestaltet ist, desto eher auch die Chance besteht, dass sie adäquat umgesetzt wird. Ein unreflektiertes Abarbeiten eines in einer Patientenerklärung vor Monaten oder Jahren festgehaltenen Willens könnte jedoch dazu führen, dass sich der Arzt bei Vorliegen einer Patientenverfügung nicht mehr aufgefordert sieht, den individuellen
Patientenwillen in der jetzt gegebenen, konkreten Situation zu ermitteln (Nauck et al.
2003). Um dem vorzubeugen, hatte der Gesetzgeber in § 1901b BGB („Patientenverfügungsgesetz“ 2009) auf die Bedeutung eines Gesprächs mit Betreuer, Vorsorgebevollmächtigtem, Verwandten oder nahestehenden Personen zur Ermittlung des Patientenwillen s hingewiesen. Mittlerweile wurde das
Gesetz zur Reform des Vormundschafts- und Betreuungsrechts vom 04.05.2021 verabschiedet (Inkrafttreten 01.01.2023). Informationen hierzu und der Gesetzestext zum Download finden sich auf der Website des Bundesministeriums der Justiz. [REFERENZ: Bundesministerium der Justiz. Aktuelle Gesetzgebungsverfahren, Informationen unter:
https://www.bmj.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/DE/Reform_Betreuungsrecht_Vormundschaft.html; Zugriff 23.11.2022 Auch wenn Paragraphen nun neu geordnet und zum Teil verändert oder ergänzt wurden, empfiehlt es sich immer noch, diese nicht ohne ein ausführliches Informationsgespräch mit dem betreuenden Arzt oder im Rahmen des Advance Care Planning (ACP) mit qualifizierten Gesprächsbegleitern, wie es das Konzept Behandlung im Voraus Planen (BVP) beinhaltet, durchzuführen und zu verfassen, um valide und verlässliche Vorausverfügungen zu erstellen (Hirthammer
2000; Nauck et al.
2018; Ferner et al.
2020). Advance Care Planning führt dazu, dass Patienten und gegebenenfalls auch deren Vorsorgebevollmächtigte bzw. Betreuer im Rahmen von moderierten Gesprächsprozessen mit qualifizierten Gesprächsbegleitern Ziele und Präferenzen für zukünftige mögliche medizinische Behandlung erarbeiten. Im Gegensatz zu herkömmlichen Patientenverfügungen beinhalten die BVP-Dokumente Festlegungen für das Vorgehen in Notfällen (Ärztliche Anordnung für den Notfall (ÄNo)) oder beim Vorliegen einer vorübergehenden Nichteinwilligungsfähigkeit in einer prognostisch unklaren Situation, also Bedingungen, wie sie typischerweise während einer Intensivbehandlung auftreten können. Aktuell sind diese Dokumente zusätzlich an die besonderen Bedingungen der SARS-CoV-2-Pandemie angepasst worden (Feddersen et al.
2020).
Jedoch haben sich nicht alle Menschen über ihre Erwartungen bezüglich der menschlichen und medizinischen Betreuung und Versorgung am Lebensende und/oder bei lebensbedrohlichen Erkrankungen Gedanken gemacht. Forensischen Problemen bei Nichteinwilligungsfähigkeit kann durch eine rechtzeitige Bestimmung eines Vorsorgebevollmächtigten/Betreuers in der Behandlung von Intensivpatienten begegnet werden. Kann zwischen Ärzten und Vorsorgebevollmächtigtem/Betreuer bzw. Ehegatten, die nach der grundlegenden Gesetzesreform ab 01.01.2023 unter bestimmten Bedingungen auch ohne Vorsorgebevollmächtigung zur „Notvertretung“ in Angelegenheiten der Gesundheitssorge berechtigt sind, keine Einigkeit über die weitere Behandlung erzielt werden, so können
Einwilligungen in medizinische Eingriffe durch das Vormundschaftsgericht erteilt oder untersagt werden.
Auch wenn nach der Gesetzgebung die Bindungskraft an eine zuvor schriftlich festgelegte Patientenverfügung für eine Situation, die auf die aktuelle Behandlungssituation zutrifft, unumstritten ist, so bleibt doch fraglich, inwieweit bei einem nicht mehr einwilligungsfähigen Patienten der zuvor schriftlich festgelegte Wille, lebenserhaltende Maßnahmen in bestimmten Situationen zu unterlassen, tatsächlich noch so vom Patienten gewünscht ist; dies besonders unter dem Aspekt, dass es für Menschen schwierig ist, Entscheidungen, die Gesundheit oder Krankheit betreffen, zu antizipieren. Im Unterschied zum Gesunden, der bei einer Befragung ein theoretisches, antizipiertes Szenario entwirft, vor dessen Hintergrund er seine Antwort formuliert, hat der Kranke im Laufe seiner Erkrankung eine Entwicklung durchgemacht, in der die meisten Menschen ihre Vorstellungen und Wünsche ihren realistischen Möglichkeiten anpassen (Gap-Theorie) und durchaus
Lebensqualität empfinden (Calman
1984). Auch hat sich gezeigt, dass Anlässe und Gründe eine Patientenverfügung zu erstellen, wie etwa schlechte Erfahrungen mit dem Sterben eines anderen, den Inhalt von Verfügungen so beeinflussen können, dass möglicherweise wichtige persönliche Aspekte beim Verfassen einer Patientenverfügung unberücksichtigt bleiben (Jaspers et al.
2012). Zudem können Faktoren wie Prognose und erwartete Reversibilität einer Situation die Bereitschaft der Umsetzung einer Patientenverfügung bei Ärzten beeinträchtigen (Arruda et al.
2019). Dieses Wissen sollte bei der Eruierung des „mutmaßlichen Willens“ nicht außer Acht gelassen werden.
Hilfreich sind die Hinweise zum Umgang mit Therapieentscheidungen am Lebensende, die in den Grundsätzen der
Bundesärztekammer zur ärztlichen
Sterbebegleitung aufgeführt werden. Dabei wird deutlich, dass Lebensverlängerung nicht in jedem Fall und nicht mit allen Mitteln das ausschließliche Ziel ärztlichen Handelns sein kann und darf (Bundesärztekammer
2011).
Bei einer Änderung des Therapieziels bestehen unterschiedliche Entscheidungsoptionen, die nur nach sorgfältiger Prüfung der aktuellen Situation und bei nicht einwilligungsfähigen Patienten, wenn möglich, im Konsens der Behandelnden mit den Betreuenden und Angehörigen eines Patienten im multidisziplinären Team im Sinne eines „ethischen Fallgesprächs“ getroffen werden sollten. Solche Entscheidungen erfordern weit mehr als medizinisches Wissen.
Die Einschätzung der aktuellen klinischen Situation und der Prognose unter Berücksichtigung des Willens des Patienten, des psychosozialen und familiären Umfeldes ist wesentliche Voraussetzung für eine nicht nur medizinisch adäquate, sondern auch für eine medizinisch-ethisch vertretbare Entscheidung.
Entscheidungsoptionen sind hierbei die Entscheidungen zu
-
Therapieverzicht (Nichtbeginnen einer möglichen intensivmedizinischen Therapie),
-
Einfrieren der begonnenen Therapie oder
-
Therapieerhalt bei kritischer Prognose und geringen Überlebenschancen (Nichterweitern einer intensivmedizinischen Behandlung, z. B.
Dialyse, Reanimation),
-
Therapiereduktion, wenn keine Überlebenschance mehr besteht (Beendigung einer Therapie mit
Katecholaminen,
Beatmung mit 21 % O
2 und optimale Basisversorgung) oder
-
Therapieabbruch am Lebensende (Beenden einer das Sterben verlängernden Therapie bei infauster Prognose).
Voraussetzung für die Durchführung jeglicher medizinischer Behandlung ist jedoch, dass eine Indikation für die Therapie besteht oder weiterhin besteht. Das „ethische Fallgespräch“ stellt für den behandelnden Arzt eine Hilfe bei der Entscheidungsfindung für oder gegen eine medizinische Behandlung dar. Letztendlich steht jedoch der betreuende Arzt als Mensch und als juristisch verantwortliche Person vor einer Entscheidung, die ihm keine Gruppe und kein Angehöriger abnehmen kann, es sei denn, ein Vorsorgebevollmächtigter/Ehegatte oder Betreuer ist benannt, oder bei Dissens mit dem Bevollmächtigten/Betreuer hat das Vormundschaftsgericht entschieden.
Eine Entscheidung hin zu einer Änderung des Therapieziels (Therapieverzicht, Einfrieren der Therapie oder Therapieabbruch) darf jedoch nicht das Ende aller therapeutischer Maßnahmen bedeuten, sondern erfordert auch in der
Intensivmedizin die Begleitung und Betreuung des Sterbenden und Schwerkranken mit infauster Prognose im Sinne der Palliativmedizin.