Ungeachtet der sozialgesetzlichen Vorgaben existieren im deutschen Gesundheitssystem in der Patientenversorgung nebeneinander Unter‑, Fehl- und Überversorgung. Überversorgung bezeichnet diagnostische und therapeutische Maßnahmen, die nicht angemessen sind, da sie die Lebensdauer oder Lebensqualität der Patienten nicht verbessern, mehr Schaden als Nutzen verursachen und/oder von den Patienten nicht gewollt werden. Daraus können hohe Belastungen für die Patienten, deren Familien, die Behandlungsteams und die Gesellschaft resultieren. Dieses Positionspapier erläutert Ursachen von Überversorgung in der Intensivmedizin und gibt differenzierte Empfehlungen zu ihrer Erkennung und Vermeidung. Zur Erkennung und Vermeidung von Überversorgung in der Intensivmedizin erfordert es Maßnahmen auf der Mikro‑, Meso- und Makroebene, insbesondere die folgenden: 1) regelmäßige Evaluierung des Therapieziels im Behandlungsteam unter Berücksichtigung des Patientenwillens und unter Begleitung von Patienten und Angehörigen; 2) Förderung einer patientenzentrierten Unternehmenskultur im Krankenhaus mit Vorrang einer qualitativ hochwertigen Patientenversorgung; 3) Minimierung von Fehlanreizen im Krankenhausfinanzierungssystem gestützt auf die notwendige Reformierung des fallpauschalbasierten Vergütungssystems; 4) Stärkung der interdisziplinären/interprofessionellen Zusammenarbeit in Aus‑, Fort- und Weiterbildung; 5) Initiierung und Begleitung eines gesellschaftlichen Diskurses zur Überversorgung.
Hinweise
Diese Veröffentlichung entstand in intensiver Beschäftigung mit dem komplexen Thema Überversorgung zu einem wesentlichen Teil bereits im Jahr 2019, also vor der COVID-19-Pandemie und nicht als Reaktion darauf. Die Analysen und Empfehlungen beziehen sich deshalb auf den medizinischen Regelbetrieb im deutschen Gesundheitssystem.
Einleitung
Nach Einschätzung der Organisation für Entwicklung und Zusammenarbeit in Europa die Organisation for Economic Co-operation and Development (OECD) wird etwa ein Fünftel der Gesundheitsausgaben in den Mitgliedsländern für Leistungen verwendet, die keinen oder nur einen marginalen Beitrag für bessere Gesundheitsergebnisse leisten [56]. Ungeachtet der sozialgesetzlichen Vorgaben (§§ 2 Abs. 1 und 4,12 Sozialgesetzbuch [SGB] V) existieren im deutschen Gesundheitssystem in der Patientenversorgung nebeneinander Unter‑, Fehl- und Überversorgung [20, 33, 65].
Das vorliegende Positionspapier richtet den Blick auf die Überversorgung in der Intensivmedizin [14, 31, 62]. Ziel der Intensivmedizin ist es, lebensbedrohliche medizinische Krisen zu überbrücken, damit die Patientinnen nach der intensivmedizinischen Behandlung weitgehend selbstbestimmt und mit einer für sie akzeptablen Lebensqualität außerhalb der Intensivstation weiterleben können. Grundsätzlich müssen für jede (intensiv)medizinische Behandlung erstens eine Indikation und zweitens eine rechtswirksame Einwilligung durch die Patientin oder ihren Stellvertreter vorliegen (sog. Zwei-Säulen-Modell; [17]). Die Behandlungsteams müssen also – auch wiederholt – die jeweilige Prognose bewerten und abwägen, welche der häufig komplexen Behandlungsmaßnahmen medizinisch sinnvoll für die individuelle Patientin unter Berücksichtigung ihres Willens und ihrer Wertvorstellungen angewandt werden können und dürfen. Es stellt somit eine große Herausforderung und Verantwortung dar, den jeweils angemessenen Behandlungsumfang zu bestimmen.
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Überversorgung bezeichnet Behandlungsmaßnahmen, die nicht angemessen sind, weil sie zu keiner für die Patientin bedeutsamen Verbesserung der (Über‑)Lebensdauer oder Lebensqualität führen, mehr Schaden als Nutzen verursachen und/oder von Patientinnen nicht gewollt werden [51, 56]. Überversorgung ist also nicht von Bedarf und Bedürfnis der Patientin in ihrer individuellen Krankheitssituation, sondern durch andere Motive veranlasst. Überversorgung kann mit hohen Belastungen und Risiken für die betroffenen Patientinnen, ihre Familien und die Behandlungsteams verbunden sein; sie kann Leiden und Trauer verursachen oder verlängern sowie zu Gewissensnot, „moral distress“, Burn-out und Personalabwanderung beitragen [40, 44]. Überversorgung schadet der Allgemeinheit, weil die dadurch gebundenen Ressourcen für andere Zwecke nicht mehr zur Verfügung stehen (Opportunitätskosten). Außerdem kann eine Überversorgung in der Intensivmedizin in allen nachfolgenden Bereichen des Gesundheitssystems eine ungerechtfertigte Versorgungskaskade verursachen. Insofern ist es dringlich geboten, Überversorgung auch in der Intensivmedizin zu erkennen und zu vermeiden. Darüber hinaus ist es wichtig zu verdeutlichen, dass Therapielimitierungen nicht das Ende aller medizinischen und pflegerischen Behandlung bedeuten. Angebote der palliativmedizinischen Behandlung und Begleitung sind darauf ausgerichtet, körperliches und psychosoziales Leid zu lindern und Patientinnen und ihre An- und Zugehörigen in der letzten Lebensphase nicht allein zu lassen.
Ursachen für Überversorgung
Gesellschaftliche Wertvorstellungen und Übereinkünfte, Organisations- und Versorgungsstrukturen des Gesundheitswesens, demographische und medizintechnische Entwicklungen, rechtliche Regelungen, kommerzielle Interessen und insbesondere die individuelle Arzt-Patienten-Beziehung beeinflussen mit unterschiedlicher Wirkkraft den Behandlungsumfang. Diese unterschiedlichen Faktoren können damit auch Überversorgung begünstigen oder vermeiden. Während die beiden Säulen „Indikation“ und „Patientenwille“ für die Behandlungsentscheidung gleichermaßen relevant sind, beeinflussen sie Überversorgung in unterschiedlicher Weise (Abb. 1).
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Einflussfaktoren bei der Indikationsstellung
Haltungen und Bewertungen innerhalb des Behandlungsteams
Indikationsstellungen werden im Alltag nicht nur von objektiven Fakten, sondern auch von persönlichen, intuitiven und emotionalen Bewertungen zur Sinnhaftigkeit der jeweiligen medizinischen Maßnahmen bestimmt [48]. Dazu gehören auch die etabliert vermittelten und erlernten Fähigkeiten zur kritischen Reflexion, die Prägung durch die Fachzugehörigkeit und das berufliche Umfeld, das Menschenbild, die Religiosität und andere soziokulturelle Faktoren [17, 74].
Vielfach stellen persönliche Faktoren der Behandelnden substanzielle Ursachen für den Versorgungsumfang dar [34, 65]. Beispielsweise wird die grundsätzlich positive Einstellung, Leben retten und erhalten zu wollen, dann zu einer negativen und gefährlichen Haltung, wenn die Rettung auch in erkennbar aussichtslosen Fällen versucht wird. Selbstüberschätzung und unbewusste Allmachtsphantasien können dabei eine Rolle spielen. Es fällt oft leichter, alle zur Verfügung stehenden Mittel unreflektiert anzuwenden, als differenziert und individuell nach Therapiezielen und Erfolgsaussicht zu fragen („Retten um jeden Preis“, „rule of rescue“ [29]). Die Tabuisierung von Sterben und Tod auch innerhalb der Behandlungsteams und das Erleben von Tod als persönliches Versagen können diesen Effekt verstärken. Eine „schöngeredete“ Einschätzung der Prognose führt in diesen Fällen zu letztlich sinnlosen Therapiebemühungen.
Forschungsergebnisse aus der Psychologie der Entscheidungsfindung benennen unwillkürliche Entscheidungsfehler, die zur Übertherapie führen können [58], beispielsweise:
„Sunk cost effect“: Behandler halten an einer einmal getroffenen Entscheidung fest, weil sie bereits viel investiert haben und diese Investition nicht „umsonst“ gewesen sein soll. Dieser Effekt kann sich so weit verstärken, dass immer mehr und immer sinnlosere Aktionen unternommen werden.
„Omission bias“ („Unterlassungseffekt“): Stirbt eine Patientin, nachdem das Behandlungsteam entschieden hat, den Behandlungsumfang zu limitieren, erscheint dies subjektiv schlimmer, als dass die Patientin unter einer fortlaufenden Therapie verstirbt.
Unsicherheit
Übertherapie kann auch durch Unsicherheit verursacht sein, einerseits durch mangelnde Kenntnis des aktuellen medizinischen Wissensstands sowie der ethischen und juristischen Rahmenbedingungen, insbesondere hinsichtlich der „end-of-life care“ [17, 65]. Andererseits ist Medizin bei der Einschätzung der Therapiewirksamkeit oder hinsichtlich prognostischer Aussagen für den individuellen Einzelfall immer von Unsicherheiten geprägt [16]. Diese Unsicherheit muss vom Behandlungsteam für den Einzelfall wahrgenommen, eingeordnet, bewertet und in Entscheidungsprozesse einbezogen werden, um Fehlversorgung generell zu reduzieren [81]. Unsicherheiten müssen insbesondere im Arzt-Patienten-Gespräch ehrlich und empathisch angesprochen werden.
Konflikte bei sekundären Interessen
Das primäre ärztliche Interesse muss grundsätzlich die bestmögliche Behandlung jeder Patientin sein [28]. Auf der individuellen Ebene können Konflikte bei sekundären Interessen, wie die Gewährung oder Annahme finanzieller Vorteile (z. B. Bonus- oder Beraterverträge) oder die Verbesserung des sozialen Status (z. B. Wunsch nach Anerkennung oder Karrierestreben), das Risiko einer Überversorgung erhöhen [5, 38].
Überbetonung ökonomischer Faktoren
Die Einführung des deutschen Fallpauschalensystems im Jahr 2002 (basiert auf „diagnosis-related groups“, DRG) hat den ökonomischen Druck auf die Krankenhäuser politisch intendiert verschärft [12]. Dabei wurde versäumt, die Einführung von Fallpauschalen im Krankenhauswesen mit Strukturveränderungen zu verbinden [61, 72]. Die Ökonomisierung deutscher Krankenhäuser hat dazu geführt, dass Erlösoptimierung zu einem wesentlichen Unternehmensziel geworden ist. Dieser ökonomische Druck beeinflusst die Intensität der Leistungen und damit implizit auch die Behandlungsentscheidungen. Bei privaten Krankenhausträgern ist besonders problematisch, dass dort Gewinne erwirtschaftet werden sollen, die zumindest potenziell dem Gesundheitssystem entzogen und zweckentfremdet Aktionären zugeführt oder in gesundheitsfernen Bereichen investiert werden können [75]. Die Bundesländer hingegen kommen ihrer Verpflichtung zur Übernahme der Investitionsmittel für die Krankenhäuser nur unzureichend nach. Dies schafft Einfallstore für Überversorgung durch Erzwingen eines betriebswirtschaftlich begründeten Verhaltens, führt in der Fläche zu ineffizienten Versorgungsstrukturen und provoziert eine unzulässige Quersubventionierung aus Beitragsmitteln der gesetzlichen Krankenversicherungen in Milliardenhöhe.
Das System der DRG gibt den Kliniken Anreize zu Mengensteigerungen, insbesondere bei Maßnahmen, bei deren Vergütung rechnerisch ein hoher Anteil auf Fixkosten entfällt. Operative und interventionelle Leistungen werden dabei häufig besser vergütet als konservative Behandlungsmaßnahmen oder ein ausführliches Arzt-Patienten-/-Angehörigen-Gespräch. Dies erhöht das Risiko einer Überversorgung. In den letzten Jahren stieg beispielsweise die Inanspruchnahme von Intensivtherapie jährlich mit 3 % deutlich stärker als die Inanspruchnahme von Krankenhausbehandlung insgesamt (0,8 %), vor allem am Lebensende. Inzwischen erhält jede/r vierte aller Patienten, die in einem Krankenhaus versterben, eine Intensivtherapie [18].
Die per se kostenintensiven Intensivstationen sind inzwischen zentral in das System der wirtschaftlich orientierten Krankenhausunternehmen eingebettet. Insbesondere die Kodierungsmöglichkeit „intensivmedizinische Komplexbehandlung“ (OPS 8.98 f.) verleitet zur exzessiven Nutzung, also Gewinnabschöpfung, ohne dass der entsprechende Behandlungsumfang tatsächlich immer erforderlich ist. Hingegen spielen Maßnahmen zur Verbesserung einer patientenorientierten Indikations- und Ergebnisqualität im aktuellen Finanzierungssystem keine regulierende Rolle [61].
Organisatorische und prozessuale Faktoren
Die Gewinnoptimierung wird wesentlich durch Einsparungen im Personalbereich bei gleichzeitiger Ausweitung von Leistungen erzielt. Eine Mehrbelastung des Behandlungsteams durch eine (geplante) personelle ärztliche und/oder pflegerische Unter- oder Fehlbesetzung hat erhebliche negative Auswirkungen auf die Gesundheit des Personals und die Gesundung der Patientinnen [40, 44, 52, 76]. Personalunterdeckung erfordert ein (subjektiv) selektives Auswählen von Teilaufgaben – also ggf. auch eine implizite Rationierung – und schränkt die Möglichkeit ein, das Behandlungsziel interprofessionell und interdisziplinär zu reflektieren. Dadurch wird ein unkritisches Einleiten oder Fortsetzen von Therapiemaßnahmen befördert, was einer Überversorgung Vorschub leistet [80, 82].
An den Schnittstellen Übergabe und Visite besteht durch mangelhaft strukturierte Durchführung und Dokumentation das Risiko von Informationsverlusten [3, 37]. Nachfolgend kann es dann beispielsweise zu erneuten, nicht notwendigen oder auch patientenseits nicht gebilligten diagnostischen oder therapeutischen Maßnahmen kommen. Dies führt nicht selten einerseits zu Rückschritten im Genesungsprozess und andererseits zu längeren Krankenhausverweildauern [3] und steigert die Opportunitätskosten. Insbesondere wenn Entscheidungen zur Therapielimitierung nicht rechtzeitig getroffen und kommuniziert werden, erfolgt häufig eine sinnlose Therapieeskalation.
Das „ethische Klima“ einer Intensivstation fasst die gemeinsame Denk- und Handlungsweise des Behandlungsteams zusammen. Damit beeinflusst das ethische Klima auf einer Intensivstation wesentlich und wirksam, ob
Therapieziele frühzeitig angesprochen und deren Erreichbarkeit regelmäßig überprüft werden,
die (Tages‑)Therapieziele patientenrelevant sind oder lediglich der Korrektur (patho)physiologischer Parameter dienen,
Entscheidungen zu Therapiekonzept und -umfang im Team getroffen werden,
Therapiebegrenzungen zugelassen oder vermieden werden und
eine patienten- und angehörigenzentrierte Versorgung stattfindet.
Das ethische Klima wird entscheidend durch Haltung und Handeln der ärztlichen und pflegerischen Leitungspersonen sowie das Miteinander der verschiedenen beteiligten Fachdisziplinen bestimmt. Ein mangelhaftes ethisches Klima begünstigt Überversorgung, ein gutes ethisches Klima hingegen begünstigt einen berufsgruppen- und fachübergreifenden Diskurs und einen individuell angemessenen Behandlungsumfang [4, 41, 76].
Juristische Faktoren
Die Sorge vor juristischen, d. h. haftungs- oder gar strafrechtlichen Konsequenzen ist seit langem als bedeutsamer Faktor für Überdiagnostik und Übertherapie bekannt. Um nicht wegen unterlassener Hilfeleistung oder eines Behandlungsfehlers belangt zu werden, scheuen nicht nur weniger erfahrene Behandelnde vor einer Verantwortungsübernahme für therapiebegrenzende Entscheidungen zurück („juristische Indikation“; [78]) und warten zögerlich lieber auf einen „Wink des Schicksals“. Dabei birgt die Hintanstellung des Patientenwohls selbst rechtliche Risiken, von den professionsethischen Bedenken gegenüber einer solchen „Defensivmedizin“ ganz abgesehen.
Eine wesentliche Ursache hierfür ist der Umstand, dass einschlägige gesetzliche Vorschriften, juristische Begriffe und Gerichtsentscheidungen dem Behandlungsteam unzureichend bekannt sind oder nicht zutreffend interpretiert werden. Auf die Einordnung juristischer Aspekte sind (angehende) Ärztinnen bislang jedenfalls nicht ausreichend vorbereitet. Auch das Rechtssystem achtet zu wenig auf das Ziel der Orientierungssicherheit. Widerstreitende Rechtsmeinungen, mitunter gegenläufige Urteile sowie ein Hang zur Überdifferenzierung erzeugen elementare Unsicherheiten der Behandelnden bei Therapieentscheidungen. Das wiegt umso schwerer, als die gesellschaftliche Akzeptanz der Rechtsprechung rechtssoziologisch nicht ernsthaft evaluiert oder hinterfragt wird. Erforderliche Entscheidungen zur Therapiebegrenzung werden vor diesem Hintergrund nicht getroffen oder hinausgezögert [15].
Gesellschaftliche und politische Faktoren
In Deutschland muss bislang niemand auf die zügige und gründliche Behandlung einer schweren Erkrankung verzichten. Die ständigen technologischen und pharmakologischen Weiterentwicklungen in der Medizin, das Interesse verschiedener Institutionen, an einem wirtschaftlich attraktiven Wachstumsmarkt teilzuhaben, und die demographische Entwicklung leisten aber einer künftigen Mittelknappheit in der medizinischen Versorgung Vorschub. Des ungeachtet findet in der Öffentlichkeit bisher eine offene und vor allem transparente Diskussion über die Grenzen des medizinischen Versorgungsystems in diesem Spannungsfeld und über die Überversorgung nicht statt. Vielmehr wurde die Erwartungshaltung der Bevölkerung an eine „grenzenlose Medizin“ durch ein zunehmend gewinnorientiertes und von privaten Trägern gesteuertes Gesundheitssystem weiter befeuert.
Die Maßlosigkeit sowohl vieler Nutzer des medizinischen Versorgungssystems als auch derjenigen, die bei ihnen ungerechtfertigte Begehrlichkeiten wecken, verstärken und befriedigen, lässt allzu oft vergessen, dass Gesundheit prinzipiell ein öffentliches Gut darstellt. Die Bewahrung von Gesundheit muss solidarisch getragen, finanziert und durch ein grundsätzliches ärztliches Versprechen zur Hilfeleistung aufrechterhalten werden können [36, 45]. Überversorgung trägt maßgeblich dazu bei, die Aufrechterhaltung einer solidarischen Gesundheitsversorgung, an der alle Patienten teilhaben können, langfristig zu gefährden.
Epidemiologische Faktoren
Gesellschaftliche Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit, Erwartungen an die Leistungsfähigkeit der Medizin und bestehende Krankheitsdefinitionen beeinflussen sich wechselseitig. Beispielsweise fehlt gerade auch der Intensivmedizin bis heute ein altersadaptiertes Gesundheitskonzept. Jedenfalls müssen Krankheitsdefinitionen, therapierelevante Grenzwerte und diagnostische oder therapeutische Vorgehensweisen regelmäßig auf ihre Evidenz überprüft und ggf. angepasst werden. Änderungen können allerdings auch ohne Vorliegen einer ausreichenden Evidenz oder aufgrund illegitimer Interessen herbeigeführt werden. Das kann zu einer scheinbaren Zunahme von Inzidenz und Prävalenz sowie einer Überschätzung der Effektivität und Unterschätzung von Nebenwirkungen führen. Daraus lässt sich eine vermeintliche Behandlungsnotwendigkeit konstruieren. Eine dann resultierende Übertherapie nutzt ökonomischen und/oder sekundären Interessen und bewirkt jedenfalls einen ungerechtfertigten Ressourcenverbrauch und unter Umständen auch Schädigungen der Patientinnen [6, 7, 25, 26, 59].
Einflussfaktoren auf den Patientenwillen
Formung des Patientenwillens
Die Bedeutung von Gesundheit und Krankheit und die damit verbundenen Forderungen nach Behandlungsmaßnahmen sind tief verwurzelt in den Werten von Familie, von soziokultureller Prägung und Einbindung sowie von Bildungsgrad, Religion und Religiosität [27, 39, 73, 74]. Denkmuster, Verhaltensweisen und Erwartungshaltungen der Patientinnen an die moderne Medizin sowie das ständig wachsende Angebot des Gesundheitssystems beeinflussen – wissentlich oder auch unbewusst – eine Überdiagnostik und -therapie. Dazu gehören z. B. das fehlende Verständnis für eine (Rest‑)Ungewissheit, die der Medizin inhärent ist, ebenso wie die Inakzeptanz von „Abwarten“ und „Beobachten“ als Strategien in der Diagnosestellung und Therapieentwicklung [21].
Manche Patientinnen empfinden die eigene potenzielle Überversorgung insgesamt eher als eine besonders gute, fürsorgliche und großzügige Sorge um ihre Gesundheit und fordern diese ein [21]. Trotz einer Ahnung, dass Überversorgung existiert, fürchten sie für die eigene Behandlung eher Defizite und Restriktionen [21]. Möglicherweise tendieren Angehörige und gesetzliche Stellvertreter, besonders wenn letzteren die Persönlichkeit der Patientin und der familiäre Hintergrund noch nicht ausreichend bekannt sind, eher zur Übertherapie, weil sie im Licht ihrer Pflicht zum „Wohltun“ den Vorwurf einer „Untertherapie“ befürchten [47, 49].
Die lebensbedrohliche Situation während des intensivmedizinischen Aufenthalts kann die Patientin und ihr Umfeld in eine emotionale Ausnahmesituation versetzen und die Entscheidungsfähigkeit beeinflussen. So kann eine Anspruchshaltung auf eine intensivmedizinische Maximaltherapie nicht nur auf fehlendem Wissen und/oder einer Fehleinschätzung der Möglichkeiten und Risiken moderner Intensivmedizin, sondern auch auf Überforderung und kognitiver Abstumpfung basieren.
Zusätzlich führen auch Kommunikationsdefizite und Schwierigkeiten bei der Interpretation übermittelter Informationen zu Unsicherheiten und der Forderung nach (sog.) Maximaltherapie. Zwar steht inzwischen durch den informationstechnologischen Fortschritt allen (potenziellen) Patientinnen und Angehörigen eine Fülle an Informationen zur Verfügung; oft verhindern jedoch deren fragliche Qualität und die mangelnde Gesundheitskompetenz eine individuell angemessene Einschätzung [42, 53]. In der Informationsflut bleibt insbesondere häufig unbeachtet, dass die eingeforderte Maximaltherapie zum Überleben mit schwersten Einschränkungen führen kann [66].
Ermittlung und Berücksichtigung des Patientenwillens
Ärztliche Aufgabe ist es, die Indikation und den Patientenwillen zu einer Behandlungsentscheidung zusammenzuführen (Patientenrechtegesetz; § 1901a BGB; [17, 48]). Schon die Eruierung bzw. Interpretation des Patientenwillens auf Intensivstationen scheitert häufig an vielfältigen Problemen wie Akuität der Erkrankung, fehlende Einwilligungsfähigkeit der Patienten oder Unklarheiten über die (gesetzliche) Stellvertreterregelung und die Anwendbarkeit von Vorausverfügungen im konkreten Fall [19, 46, 47, 64]. Gespräche mit Patientinnen und Angehörigen bzw. gesetzlichen Stellvertretern sollen daher einerseits zu deren angemessener Information und Aufklärung dienen. Andererseits sollen diese Gespräche auch dazu beitragen, dass das Behandlungsteam die Legitimation diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen durch die Patientin bzw. ihren gesetzlichen Stellvertreter regelhaft überprüft. Andernfalls kann Übertherapie resultieren. Speziell ausgebildete „communication facilitators“ können bei der Bewältigung der oft komplexen Kommunikationsaufgaben behilflich sein und Übertherapie vermeiden helfen [8].
Erkennen und Bewerten einer möglichen Überversorgung
Die Verantwortung, bedarfsgerechte und ressourcenbewusste Entscheidungen aufgrund einer wissenschaftlich begründeten und individuell abgestimmten Indikationsstellung zu treffen, obliegt den behandelnden Ärztinnen [20]. Die Arzt-Patienten-Interaktion ist dabei der zentrale Ansatzpunkt, um Überversorgung zu erkennen, zu bewerten und zu vermeiden.
Bewertung der Indikationsstellung und des Therapieziels unter Berücksichtigung des Patientenwillens
Patientenwille und medizinische Indikation sind Grundlage für die Definition des übergeordneten Therapieziels [48]. Erst das Begreifen des Therapieziels als absolut maßgebend für die Indikationsstellung von Diagnostik und Therapie einerseits und die kontinuierliche Überprüfung seiner Gültigkeit unter Berücksichtigung der Gesamtheit der erhobenen Befunde und des Patientenwillens andererseits lassen Überversorgung erkennen. Die folgenden 5 Leitfragen können dabei in der Praxis (beispielsweise im Rahmen der täglichen intensivmedizinischen Visite) helfen.
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Leitfragen
Entscheidungsgrundlage
1.
Wie lautet das übergeordnete Therapieziel?
2.
Haben sich seit der letzten Reevaluation Befunde oder Änderungen/Erkenntnisse hinsichtlich des Patientenwillens ergeben, vor deren Hintergrund das Therapieziel kritisch überdacht und ggf. neu definiert werden muss?
Identifikation von Überversorgung auf der Indikationsebene
3.
Hat jede unserer geplanten diagnostischen Maßnahmen eine Konsequenz, mit der wir dem Erreichen des Therapieziels näherkommen oder aus der wir ein neues Therapieziel ableiten würden?
4.
Ist jede einzelne unserer geplanten oder laufenden therapeutischen Maßnahmen geeignet, notwendig und angemessen, um das Therapieziel zu erreichen?
Identifikation von Überversorgung auf Ebene des Patientenwillens
5.
Entsprechen unsere geplanten und laufenden diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen (weiterhin) dem Patientenwillen?
Das Akronym TRIKK kann helfen, diese Fragen während der Visite oder im kollegialen Gespräch leicht zu rekapitulieren und strukturiert abzuarbeiten (Abb. 2).
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Reflektiertes Entscheiden als Resultat ständiger Fortbildung und eines kritischen kollegialen Austauschs
Entscheidende Voraussetzung zur Beurteilung, ob diagnostische und therapeutische Maßnahmen geeignet sind, das Therapieziel zu erreichen, ist die Kenntnis der verfügbaren Evidenz. Neben systematisch aufgearbeiteten Informationen, Entscheidungshilfen und ggf. Leitlinien (beispielsweise im Rahmen der Initiativen „Gemeinsam klug entscheiden“ der Arbeitsgemeinschaft Wissenschaftlich Medizinischer Fachgesellschaften oder „Klug entscheiden“ der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin; [55, 62, 67]) spielen hierbei Zweitmeinungsverfahren eine entscheidende Rolle. Um Diagnostik und Therapie bereits so früh wie möglich und so gezielt wie möglich zu betreiben, können die beiden folgenden Leitfragen helfen.
Leitfragen
1.
Verstehen wir die aktuellen Erkrankungsbilder und Verdachtsdiagnosen?
2.
Falls nein, haben wir rechtzeitig weitergehende Expertise eingeholt?
Allgemeine Forderungen zur Vermeidung einer Überversorgung
Aufgrund der komplexen Natur von Überversorgung in der Intensivmedizin und ihren vielgestaltigen Einflussfaktoren und Ursachen [43] lässt sie sich nur durch eine multidimensionale Herangehensweise reduzieren und vermeiden. Das erfordert also gleichzeitig Maßnahmenbündel auf den verschiedenen Ebenen des Gesundheitssystems – also auf Mikro‑, Meso- und Makroebene. Die einzelne Intensivmedizinerin mag zwar auf der normativen Ebene selbst nicht viel verändern können, ihr Einfluss auf die Leitungsebene mag eingeschränkt sein. Aber ihre professionsethische Verpflichtung, auf der Ebene des Behandlungsteams gegen Überversorgung vorzugehen und sie gegenüber den Verantwortlichen auf der Leitungsebene zu beanstanden, bleibt ausdrücklich bestehen [36].
Forderungen und Empfehlungen auf der Ebene der Behandlungsteams (Mikroebene)
Therapieziele und -maßnahmen regelmäßig (re)evaluieren
Ärztinnen sind in der Verantwortung, wissenschaftlich begründete und individuell abgestimmte Indikationsstellungen zu treffen, die sowohl angemessen als auch ressourcenbewusst sind [54]. Dazu bedarf es der gemeinsamen Bewertung eines medizinisch sinnvollen Behandlungsumfangs im Team und dann der Entscheidungsfindung von Patientin und Ärztin und einer kontinuierlichen und vertrauensvollen Betreuung von Patientin und Angehörigen [30, 41]. Die Frage nach der Indikation und dem Therapieziel in Übereinstimmung mit dem Patientenwillen muss nicht nur initial, sondern auch im weiteren Verlauf regelmäßig, z. B. im Rahmen der Visite oder der strukturierten Patienten- und Angehörigenkommunikation, reflektiert werden, um Überversorgung in der laufenden Therapie zu erkennen. Die getroffenen Therapieentscheidungen müssen dann für alle Beteiligten transparent und nachvollziehbar kommuniziert und dokumentiert werden [50].
Vorhandene Unterstützungsangebote für das Behandlungsteam, Patienten und Angehörige nutzen
Verschiedene Formen klinischer Ethikberatung und Integration weiterer Spezialisten aus den Bereichen Palliativmedizin, klinische Psychologie/Psychosomatik, Seelsorge, Sozialdienst sind zunehmend verbreitet und sollen die Betroffenen dabei unterstützen, eine sorgfältig abgewogene und gut begründbare Entscheidung zu treffen und dabei entstehende Konflikte zu lösen [2, 9‐11]. Insbesondere das Modell der proaktiven Visitenbegleitung durch klinische Ethiker oder Palliativmediziner – unter Wahrung von Schweigepflicht und Datenschutz – kann hilfreich sein, um potenzielle Überversorgung zu erkennen und gemeinsam ein neues Therapiekonzept zu erarbeiten [69‐71].
Patientenautonomie in der Arzt-Patienten-Beziehung fördern
Intensivmedizinerinnen können durch die angemessene Ausgestaltung der Kommunikation mit den Patienten bzw. ihren gesetzlichen Stellvertretern und den Angehörigen deren Selbstbestimmung und Entscheidungsfähigkeit fördern, insbesondere auch im Rahmen der strukturierten Kommunikation. Dadurch können sie vielfältigen Ängsten und Unsicherheiten als bedeutsamen Einflussfaktoren für das Entstehen von Übertherapie entgegenwirken [21]. Für juristische Stellvertreter (Bevollmächtigte und Betreuer) mag es mitunter schwierig sein, eigene Interessen im Hinblick auf den Patientenwillen zu erkennen und zurückzustellen [49]. Gerade Familienangehörige befinden sich bei der Entscheidungsfindung nicht selten in einer akuten Belastungssituation, bei der sie Unterstützung durch das Behandlungsteam erhalten sollten – sonst resultiert allzu oft eine unreflektierte Fortführung der nicht mehr indizierten lebenserhaltenden intensivmedizinischen Maßnahmen.
Forderungen und Empfehlungen auf Leitungsebene (Mesoebene)
Patientenzentrierte Unternehmenskultur im Krankenhaus leben
Managemententscheidungen im Krankenhaus müssen sich vorrangig an qualitativ hochwertiger Patientenversorgung im Sinne des Versorgungsauftrags („ressourcenbewusste Daseinsfürsorge“; [54]) orientieren statt an betriebswirtschaftlichen Zielgrößen (z. B. Erlössteigerung). Dazu ist eine gemeinsame und unabhängige Krankenhausführung – ärztliche Direktion, Pflegedirektion, kaufmännische Leitung – erforderlich. Gemeinsam sollten Strategien entwickelt werden, die innerhalb der Organisation dazu beitragen können, Überversorgung aufzudecken (z. B. durch Implementierung von „Checklisten“) und zu vermeiden. Insbesondere müssen die Personalausstattung und die Arbeitsbedingungen den Behandlungsteams eine evidenzbasierte, patientenzentrierte Versorgung ermöglichen. Kennziffern der Unternehmenskultur werden bereits durch regelmäßige Befragungen von Mitarbeiterinnen und Patientinnen/Angehörigen erhoben. Diese Instrumente sollten zukünftig auch durch Fragen zur Wahrnehmung einer Übertherapie ergänzt werden [22].
Strukturen zur Stärkung der interdisziplinären und interprofessionellen Kommunikation und Kooperation schaffen
Aus organisationsethischer Perspektive ist der Krankenhausträger in der Verantwortung, strukturelle Voraussetzungen zu schaffen, die die interdisziplinäre und interprofessionelle Kommunikation und Kooperation stärken [40, 76]. Dies umfasst unter anderem die Bereithaltung von Unterstützungsstrukturen wie klinische Ethikkomitees und Palliativteams [1, 2]. Eine Ressourcenumverteilung zugunsten einer angemessenen personellen Ausstattung sowie einer nachhaltigen Qualifikation und Wertschätzung des Personals kann dem bestehenden problematischen Personalmangel gegensteuern und Übertherapie begrenzen helfen [52]. Ebenso können durch die Einführung von strukturierten – beispielsweise checklistenbasierten – Prozessen für Aufnahmen, Übergaben und Verlegungen sowie für interdisziplinäre und transsektorale Absprachen das Risiko von Komplikationen und die Gefahr von inadäquaten Maßnahmen minimiert werden [24].
Interdisziplinäre und interprofessionelle Zusammenarbeit in Aus‑, Fort- und Weiterbildung stärken
Eine adäquate berufs- und fachgruppenübergreifende Zusammenarbeit gilt als Voraussetzung für eine qualitativ hochwertige Patientenversorgung. Die Forderung zahlreicher Expertengremien (unter anderem des Wissenschaftsrats [79] und der Gesellschaft für Medizinische Ausbildung [77]) besteht deshalb in einer frühzeitigen und stetig wiederkehrenden interprofessionellen Aus‑, Fort- und Weiterbildung, die sich als probates Mittel für die Verbesserung der Ergebnisqualität erwiesen hat [60]. Multiprofessionelle Fort- und Weiterbildungen kommen in der Intensivmedizin im Rahmen der Einübung von Notfallszenarien bereits vielfach zum Einsatz [57, 68]. Jenseits dieses gemeinsamen Simulationstrainings sind inter- oder multiprofessionelle Formate jedoch nach wie vor kein fester und obligatorischer Bestandteil der Fachweiterbildung bzw. Facharztausbildung in der Intensivmedizin. Die curriculare Verankerung von Themen der Über‑, Unter- und Fehlversorgung ist daher weiter voranzutreiben und die Umsetzung konsequent einzufordern.
Forderungen und Empfehlungen auf gesellschaftlicher, gesundheitspolitischer und gesetzgebender Ebene (Makroebene)
Fehlanreize im Krankenhausfinanzierungssystem minimieren
Der Wettbewerb der Krankenhäuser trägt Merkmale ruinöser Konkurrenz, führt zu Defiziten in der Behandlungsqualität und zu Effizienzverlusten [35]. Das Ziel des Wettbewerbs war ursprünglich die Unterbindung von Ressourcenverschwendung und die Schließung von Klinikbetten. Die Folge des Wettbewerbs ist aber eine betriebswirtschaftlich begründete Ausweitung von Leistungen unter Inkaufnahme einer illegitimen und ökonomisch sinnwidrigen Überversorgung. Grundlegende Veränderungen der Krankenhausstrukturen und der Finanzierung sind bislang ausgeblieben [13, 35], was als fehlender politischer Handlungswillen bewertet werden muss. Einer Debatte um eine zentrale Krankenhausbedarfsplanung und eine Priorisierung in der Gesundheitsversorgung, die in anderen Ländern Europas offen geführt wird, hat sich die deutsche Gesundheitspolitik bislang konsequent entzogen.
Die Anwendung des fallpauschalbasierten Vergütungssystems bedarf – nicht nur aus Sicht der Intensivmedizin und -pflege – dringend einer Reformierung. Anreize zur Fallzahlsteigerung und Leistungsausweitung aus ökonomischen Gründen sollten nicht weiterhin gesetzt werden. Konservative und interventionelle/operative Medizin sollten gleich bewertet werden [54, 63]. Ziel muss es sein, den ökonomischen Druck aus der Beatmungstherapie und anderen invasiven intensivmedizinischen Prozeduren zu nehmen, um bei der Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Therapiemaßnahme die Abwägung des Patientenwillens mit der Indikation in den Mittelpunkt stellen zu können [63]. Fehlanreize für Übertherapie könnten so gezielt minimiert werden. Die Bedeutung und Wertschätzung einer kritischen ethischen Reflexion im Behandlungsteam sollte sich auch darin ausdrücken, dass sich definierte Formen von Ethikberatung im Vergütungssystem abbilden.
Gesellschaftlichen Diskurs zur Überversorgung anstoßen
Die Vermeidung einer Überversorgung erfordert auch ein Umdenken innerhalb der Gesellschaft, die weithin von einer ausgeprägten Vorstellung der Omnipotenz der Intensivmedizin gekennzeichnet ist und daraus umfassende (Versorgungs‑)Ansprüche ableitet. Es gilt deshalb, auch in der Allgemeinbevölkerung einen umfassenden Diskurs über die Möglichkeiten und Grenzen von Intensivmedizin anzuregen und qualifiziert zu begleiten. Dazu ist auch ein Diskurs über unrealistische Gesundheitsideale und unreflektierte Optimierungsvorstellungen erforderlich. Anreize sollten eher der Gesunderhaltung und dem gelingenden Umgang mit Alter(n), Krankheit und Beeinträchtigungen dienen als einer nachträglichen Reparatur von Organen und Körperfunktionen.
Umfassende Vorsorgeplanung einführen, ausweiten und evaluieren
Vorausverfügte Willensäußerungen (schriftlich oder mündlich) und die Benennung von Vorsorgebevollmächtigten können jedem einzelnen (potenziellen) Patienten helfen, ungewünschte intensivmedizinische Maßnahmen zu verhindern. Schwierigkeiten mit konventionellen Patientenverfügungen und deren Anwendung auf der Intensivstation sind durch zahlreiche empirische Untersuchungen aufgedeckt worden [32]. Das Konzept des Advance Care Planning (ACP), das die vorhandenen Schwachstellen adressiert [23, 83], ist jedoch bislang nicht flächendeckend und auf allen relevanten Ebenen realisiert. Auch die Voraussetzungen für die Kostenübernahme für ACP sind gesetzlich nur für ausgewählte Bereiche geklärt (vgl. § 132g SGB V). Vor allem für Intensivmedizinerinnen könnte aus einer breiteren, sektorenübergreifenden Einführung mehr Handlungssicherheit im Einzelfall resultieren, die dazu beitragen kann, Übertherapie zu vermeiden und eine Therapie durchzuführen, die an den tatsächlichen individuellen Bedürfnissen der Patientin orientiert ist.
Zusammenfassung
Überversorgung, also eine unangemessen umfangreiche Therapie, ist ein ernstzunehmendes negatives Phänomen auch auf Intensivstationen im deutschen Gesundheitssystem. Sie kann einerseits Patienten, Angehörigen und den Behandlungsteams schaden und führt andererseits durch Ressourcenverschwendung zum Schaden für die Allgemeinheit.
Überversorgung ist einem Konglomerat mehrerer Ursachen geschuldet. Wesentlicher Faktor ist die Verquickung von unbedachter, unangemessener oder fehlerhafter Indikationsstellung mit falschen Vorstellungen und Erwartungen in Bezug auf Nutzen und Risiken intensivmedizinischer Behandlungsmaßnahmen, insbesondere auf Seiten der Patientinnen oder ihrer gesetzlichen Stellvertreter.
Auf normativer Ebene sind gesellschafts- und gesundheitspolitische Fehlentwicklungen zu korrigieren, die allerdings auf der Ebene der Behandlungsteams kaum zu beeinflussen sind. Umso mehr bleibt es berufsethische ärztliche Verpflichtung, ausgehend vom medizinisch sinnvoll Möglichen im Behandlungsteam einen angemessenen Behandlungsumfang für jede Patientin individuell festzulegen, der deren Willen bestmöglich entspricht. Im vorliegenden Positionspapier sind im Akronym TRIKK 5 Leitfragen für intensivmedizinische Behandlungsteams zusammengefasst, die dabei helfen können, Überversorgung zu erkennen und zu reduzieren – bestenfalls sogar zu vermeiden.
Die dargestellten Argumente und Forderungen haben auch Bestand während außergewöhnlicher Belastungen wie der aktuellen Pandemie oder zukünftiger Katastrophenfälle. Notfallsituationen setzen Grundregeln für medizinische Entscheidungen nicht außer Kraft. Die COVID-19-Pandemie hat nachdrücklich gezeigt, dass es geboten sein kann, für besondere Situationen eine Notfallreserve bereitzuhalten und die dafür notwendige Finanzierung durchgängig zu sichern. Dabei müssen allerdings räumliche, apparative, logistische und insbesondere personelle Ressourcen bedacht werden. Zugleich ist darauf zu achten, dass eine solcherart vorgehaltene Reserve nicht eine Angebotsausweitung begünstigt, die wiederum einer Überversorgung Vorschub leisten kann.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Interessenkonflikt
A. Michalsen, G. Neitzke, J. Dutzmann, A. Rogge, A.-H. Seidlein, S. Jöbges, H. Burchardi, C. Hartog, F. Nauck, F. Salomon, G. Duttge, G. Michels, K. Knochel, S. Meier, P. Gretenkort und U. Janssens geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
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Medizinische Klinik - Intensivmedizin und Notfallmedizin
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• Ausführliche Themenschwerpunkte mit klaren Handlungsempfehlungen • Praxisnahe Übersichten, Originalarbeiten, Kasuistiken und Journal-Club-Beiträge • Mit CME-Beiträgen Wissen auffrischen und Pun ...
Überversorgung in der Intensivmedizin: erkennen, benennen, vermeiden Positionspapier der Sektion Ethik der DIVI und der Sektion Ethik der DGIIN
verfasst von
Andrej Michalsen Gerald Neitzke Jochen Dutzmann Annette Rogge Anna-Henrikje Seidlein Susanne Jöbges Hilmar Burchardi Christiane Hartog Friedemann Nauck Fred Salomon Gunnar Duttge Guido Michels Kathrin Knochel Stefan Meier Peter Gretenkort Prof. Dr. med. Uwe Janssens
In der Notaufnahme wird die Chance, Opfer von häuslicher Gewalt zu identifizieren, von Orthopäden und Orthopädinnen offenbar zu wenig genutzt. Darauf deuten die Ergebnisse einer Fragebogenstudie an der Sahlgrenska-Universität in Schweden hin.
Darüber reden und aus Fehlern lernen, sollte das Motto in der Medizin lauten. Und zwar nicht nur im Sinne der Patientensicherheit. Eine negative Fehlerkultur kann auch die Behandelnden ernsthaft krank machen, warnt Prof. Dr. Reinhard Strametz. Ein Plädoyer und ein Leitfaden für den offenen Umgang mit kritischen Ereignissen in Medizin und Pflege.
Ein Frauenanteil von mindestens einem Drittel im ärztlichen Op.-Team war in einer großen retrospektiven Studie aus Kanada mit einer signifikanten Reduktion der postoperativen Morbidität assoziiert.
Sie sei „ethisch geboten“, meint Gesundheitsminister Karl Lauterbach: mehr Transparenz über die Qualität von Klinikbehandlungen. Um sie abzubilden, lässt er gegen den Widerstand vieler Länder einen virtuellen Klinik-Atlas freischalten.
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