Hardy, Decristan, und Klieme (
2019) unterscheiden in ihrem Überblicksbeitrag zum Thema Adaptivität zunächst eine Makro-Ebene (Unterrichtsplanung) und eine Mikro-Ebene (Handeln im laufenden Unterricht; s. auch Beck, Baer, Guldimann, Bischoff, & Brühwiler,
2008; Corno & Snow,
1986). Aufgrund der Ausrichtung des eigenen Ansatzes, wird im Folgenden vorwiegend auf die Mikro-Ebene eingegangen. Weiterhin unterscheiden Hardy et al. (
2019) auf der Mikro-Ebene unterrichtlichen Handelns eine Instruktions- und eine Verhältnisperspektive auf das Thema Adaptivität.
In der Instruktionsperspektive wird Adaptivität als Merkmal effektiven Unterrichtens verstanden. Gemeinsam ist den Ansätzen der Instruktionsperspektive, dass auf einer empirischen Ebene vornehmlich auf die Handlungen der Lehrperson fokussiert wird. Aus einzelnen Lehrpersonenhandlungen wird auf eine Passung bzw. das Potenzial zu einer Passung zu den Voraussetzungen oder Nutzungsprozessen der Schüler*innen geschlossen. Weiterhin wird von der Lehrpersonenhandlung angenommen, dass diese per se lernförderlich sei (Decristan et al.,
2015). Diese Perspektive wird u. a. dafür kritisiert, dass individuelle Unterschiede der Schüler*innen nicht (ausreichend) berücksichtigt werden (Corno,
2008). Dem versucht die Verhältnisperspektive durch eine kontextualisierte Betrachtung der Instruktion der Lehrperson zu begegnen bzw. die Relation zwischen Instruktion und Voraussetzungen der Lernenden zu erfassen.
Der Verhältnisperspektive auf das Thema Adaptivität liegt die Annahme zugrunde, dass nicht eine konkrete Ausprägung des Handelns der Lehrperson pauschal als passend angenommen werden kann, sondern unterschiedliche Handlungen im Kontext unterschiedlicher Voraussetzungen und Nutzungsprozesse der Schüler*innen als lernförderlich oder auch nichtförderlich anzusehen sind (Corno,
2008; Van de Pol, Volman, & Beishuizen,
2010). Anders als in der Instruktionsperspektive kann Passung daher nicht ausschließlich über Handlungen der Lehrpersonen erfasst werden, sondern muss im Kontext der Nutzungsprozesse der Schüler*innen erfasst werden. Dieser Fokus auf die Relation zwischen Lernaktivitäten und Instruktion wird im Folgenden als Contingency-Perspektive bezeichnet.
Die Contingency-Perspektive wird vor allem mit dem Ansatz des Scaffoldings in Verbindung gebracht (Van de Pol et al.,
2010; Wood, Bruner, & Ross,
1976; im Sportunterricht Farias, Hastie, & Mesquita,
2018; Wibowo, Bähr & Gröben,
2014). Der Bestimmung von (mehr oder weniger) Contingency auf der Basis konkreter Angebots-Nutzungs-Konstellationen kommt in diesem Ansatz eine entscheidende Rolle zu. Ein theoretisch etabliertes und empirisch mehrfach verwendetes Prinzip (Hermkes, Mach, & Minnameier,
2018; Van de Pol & Elbers,
2013; Wischgoll, Pauli, & Reusser,
2015) zur Bestimmung solcher Passungsverhältnisse ist der Contingency-Approach (Wood, Wood, & Middleton,
1978). Demnach sollen die Schüler*innen in der individuellen „region of sensitivity“ (Wood et al.,
1978, S. 133) aktiviert werden, die in Bezug auf die Anforderungen immer eine Stufe über dem aktuellen Können der Schüler*innen liegt, damit sie weder über- oder unterfordert werden.
Forschungsstand zu Contingency auf der Mikro-Ebene
Contingency ist bisher nur in wenigen Arbeiten mit standardisierten Instrumenten erfasst worden. Hardy et al. (
2019) berücksichtigen in ihrem Überblicksbeitrag über adaptiven Unterricht zum Thema Contingency lediglich fünf Studien. Der größere Teil der Befunde stammt aus Studien mit qualitativen Designs, die wegen Platzgründen und aufgrund der forschungsmethodischen Ausrichtung der vorliegenden Studie nur eingeschränkt berücksichtigt werden.
In Bezug auf den Umfang von Contingency stellen Ayvazo und Ward (
2011) aufgrund der Analyse des Unterrichts von zwei Sportlehrpersonen fest, dass Contingency in Unterrichtseinheiten, in denen die Lehrpersonen mit dem Thema besser vertraut sind höher ausgeprägt ist als in Unterrichtseinheiten, in denen die Lehrpersonen weniger gut mit dem Thema vertraut sind (68–73 % als „contingent“ eingestufte Schüler*innen-Lehrperson-Schüler*innen-Analyseeinheiten an den Gesamtinteraktionen bei vertrauten Themen; 40–49 % als „contingent“ eingestufte Analyseeinheiten bei weniger vertrauten Themen). Dies könnte auch als Hinweis darauf gedeutet werden, dass eine steigende Expertise bzw. eine höhere Vertrautheit mit einer Vielzahl an Themen durch eine höhere Expertise zu einem höheren durchschnittlichen Contingency-Wert führt. Bei der Untersuchung von Contingency im Sozialkundeunterricht von 30 Lehrpersonen beobachten Van de Pol, Volman, Oort, und Beishuizen (
2015) im Rahmen der Evaluation einer Intervention zum Thema Scaffolding deutliche Zuwächse der Contingency-Werte nach der Intervention (MW: 0,42–0,43 in einer ungeschulten Vergleichsgruppe; MW: 0,87 nach einer Intervention in der Interventionsgruppe; es handelt sich um Mittelwerte der als „contingent“ (= 1) und „nicht-contingent“ (= 0) eingestuften Lehrperson-Schüler*innen-Lehrperson-Analyseeinheiten).
Bezüglich der Wirkungen unterschiedlicher Contingency-Werte auf Nutzungsprozesse und Lernerfolge der Schüler*innen verweisen die Befunde darauf, dass hohe Contingency-Werte nicht immer mit einem höheren Lernerfolg oder schnellerem Lernfortschritt einhergehen, wie dies in der Fachliteratur teilweise angenommen wird (Hardy et al.,
2019). Wischgoll et al. (
2015) stellen fest, dass Contingency dann mit erfolgreichem Lernen zusammenhängt, wenn die Lehrperson instruiert und die Schüler*innen diesen Anweisungen folgen. Unterrichtssituationen mit niedrigerer Kontrolle der Lehrpersonen werden, auch wenn sie als „contingent“ kodiert werden, vermehrt in solchen Lernsituationen festgestellt, die als nichterfolgreich in Bezug auf den Lernfortschritt der Schüler*innen eingestuft werden. Van de Pol und Elbers (
2013) wiederum stellen fest, dass hohe Contingency-Werte dann mit Lernfortschritt zusammenhängen, wenn das initiale Verstehensniveau der Lernenden als niedrig eingestuft wird. Beide Studien verweisen darauf, dass einerseits Lehrpersonen mit unterschiedlichen Voraussetzungen der Schüler*innen unterschiedlich gut umgehen können und andererseits Contingency sich unterschiedlich auf Schüler*innen mit verschiedenen Voraussetzungen auswirkt. Auch die Studie von Van de Pol, Mercer, und Volman (
2018) verweist darauf, dass hohe Contingency-Werte nicht unmittelbar zu Lernfortschritt führen, sondern nur dann, wenn die Schüler*innen die Impulse der Lehrperson auch tatsächlich aufgreifen.
Zusammenhänge zwischen Bestandteilen professioneller Kompetenzen und Adaptivität werden zwar in Übersichtsbeiträgen zu dem Thema angenommen (Gräsel, Decristan, & König,
2017; Hardy et al.,
2019; Parsons et al.,
2018), jedoch sind diese Zusammenhänge bisher nicht aus einer Contingency-Perspektive überprüft worden. Besonders der diagnostischen Fähigkeit der Lehrperson wird eine hohe Bedeutung beigemessen, da davon ausgegangen wird, dass Lehrpersonen zuerst die Lernsituation der Schüler*innen erfassen müssen, um entsprechend darauf zu reagieren Gräsel et al. (
2017). Das Ergebnis von Ayvazo und Ward (
2011), das auf die Bedeutung der Vertrautheit der Lehrperson mit dem Unterrichtsinhalt für die Contingency-Werte verweist, kann durch Befunde der kompetenzorientierten Professionsforschung zur hohen Bedeutsamkeit des Fachdidaktischen Wissens für die Unterrichtsqualität und Lernleistung der Schüler*innen gestützt werden (Kunter et al.,
2013; im Sport: Heemsoth & Wibowo,
2020; Vogler, Messmer & Allemann, 2017; Wibowo & Heemsoth,
2019).
Bezüglich der forschungsmethodischen Vorgehensweisen zur Erfassung von Contingency kann festgehalten werden, dass sich die vorhandenen Ansätze zur standardisierten Erfassung von Contingency deutlich unterscheiden, insbesondere hinsichtlich der Wahl der sog. Contingency-Einheiten und der Contingency-Regeln zur Einstufung der Analyseeinheiten als mehr der weniger passend bzw. „contingent“. Beispielsweise wählen Van de Pol und Elbers (
2013) Contingency-Einheiten, die sich aus Lehrperson-Schüler*innen-Lehrperson-Triplets zusammensetzen (Ayvazo & Ward,
2011), verwenden Schüler*innen-Lehrperson-Schüler*innen-Triplets, und Hermkes et al. (
2018) verwenden als Analyseeinheiten ganze Interaktionssequenzen, die sich von Ankunft bis zum Verlassen der Lehrperson bei der Beratung einer Gruppe erstrecken. Auch bezüglich der Contingency-Regeln zeigen sich deutliche Unterschiede. Zum Beispiel wählen Van de Pol, Volman, Elbers, und Beishuizen (
2012) eine Relationierung von Verstehen (der Schüler*innen; drei Stufen) zur Kontrolle (durch die Lehrperson; fünf Stufen) und stützen sich bei der Operationalisierung der Contingency-Regeln auf die
Regel, dass nach einem geringen Verstehen der Schüler*innen, eine höhere Kontrolle erfolgen soll als zuvor und bei einem niedrigen Verstehen der Schüler*innen eine niedrigere Kontrolle erfolgen soll als zuvor. Anders operationalisieren Wischgoll et al. (
2015) den Contingency-Approach von Wood et al. (
1978) durch die kognitive Aktivität der Schüler*innen (Inaktivität [niedrig], Reaktion, Ko-Konstruktion, Autonomie [hoch]) und die kognitive Aktivierung durch die Lehrperson (keine Aktivierung [niedrig], Instruktion, Ko-Konstruktion, Beobachtung [hoch]). Als „contingent“ werden dann (ohne nähere Erläuterung) die Kombinationen Instruktion-Reaktion, Ko-Konstruktion-Ko-Konstruktion und Beobachtung-Autonomie eingestuft. Ein weiterer Grund für die eingeschränkte Vergleichbarkeit der verschiedenen Ansätze zu Contingency liegt in der inhaltlichen Ausrichtung. Arbeiten, die sich auf den Contingency-Approach von Wood et al. (
1978) beziehen, fokussieren vor allem die Autonomie der Schüler*innen, es lassen sich aber auch Schwerpunktsetzungen auf die unterrichtlichen Inhalte (Ayvazo & Ward,
2011) oder emotionale Aspekte finden (Krammer,
2009). Angesichts der Inhaltsbezogenheit der Contingency-Regeln erscheint es sinnvoll und notwendig, diese mit Bezug auf fachliche Ansätze zu begründen und zu konzipieren. Die unterschiedlichen inhaltlichen Schwerpunktsetzungen werden im Folgenden als Contingency-Dimensionen bezeichnet (in Anlehnung an Corno & Snow,
1986).
Die starken Unterschiede hinsichtlich der Konstruktion der Contingency-Einheiten, der Contingency-Regeln und die Unterschiede in den Contingency-Dimensionen verdeutlichen die Notwendigkeit, diese Aspekte bei der Konzeptualisierung explizit herauszuarbeiten und im Sinne einer inhaltlichen Validität zu begründen (Wibowo & Dyson,
2020, im Review).
Konzeptualisierung von Contingency im Sportunterricht
Angesichts der Vielzahl an vorgeschlagenen Dimensionen für Adaptivität (Hardy et al.,
2019; Corno,
2008) wurden aus verschiedenen Gründen die Contingency-Dimensionen der Autonomie und des Problemlösens fokussiert. Beide Aspekte wurden durch eine vorangegangene qualitative Studie für den Sportunterricht als Contingency-Dimensionen rekonstruiert (Wibowo,
2015).
Für die Dimension der Autonomie spricht, dass diese als wichtiger Baustein eines theoretischen und empirischen Verständnisses eines zeitgemäßen Sportunterrichts ausgewiesen werden kann (Balz & Neumann,
2007; Prohl,
2013; Wibowo & Dyson,
2020, im Review), in dem die angemessene Verteilung von Verantwortung für die Lernprozesse der Schüler*innen zwischen Lehrperson und Schüler*innen eine wichtige Rolle spielt (Prohl,
2010). Nicht zuletzt spricht für die Dimension der Autonomie, dass der Contingency-Approach aus der Forschung zum Scaffolding (Wood et al.,
1978) eine theoretisch gut begründete und empirisch etablierte Grundlage zur Beurteilung von Contingency in dieser Dimension bietet. Weitergehend werden die Contingency-Einheiten für die Dimension der Autonomie aus Analyseeinheiten zur Autonomie der Schüler*innen und der Kontrolle der Lehrperson gebildet. Die Contingency-Regeln zur Relationierung von Autonomie und Kontrolle wurden in Anlehnung an den Contingency-Approach und der Annahme abgeleitet, dass solche Unterstützung lernförderlich ist, „which lay just one level above his [the child; JW] current level“ (Wood et al.,
1978, S. 133). So konnten jeder Autonomiestufe Stufen der Kontrolle zugeordnet werden, von denen angenommen werden kann, dass sie lernförderlich sind (vgl. Wibowo,
2015,
2016; s. Abschnitt zum methodischen Vorgehen zur konkreten Operationalisierung der Schüler*inneneinheiten, Lehrpersoneneinheiten und der Contingency-Regeln).
Für die Dimension des Problemlösens spricht, dass Problemlösen im Sportunterricht als fachspezifischer Ausdruck von Bildung und Lernen im Sportunterricht verstanden werden kann (Brodtmann & Landau,
1982; Messmer,
2018,
2019; Prohl,
2013; Wibowo,
2015,
2019; Wright, MacDonald & Burrows,
2004). Die Contingency-Einheiten werden demnach aus Problemlöseaktivitäten der Schüler*innen und der Aktivierung von Problemlöseaktivitäten der Lehrpersonen gebildet. Die Contingency-Regeln stützen sich auf die fachunspezifischen Annahmen, dass Aktivitäten der Lehrperson dann lernförderlich sind, wenn sie auf die (Problemlöse‑)Aktivitäten der Schüler*innen eingehen (Analysieren der Schüler*innen, gefolgt von Aktivierung von Analysieren durch die Lehrperson; Fürst,
1999) oder wenn bei weiterführende Problemlöseaktivitäten angeregt werden (Analysieren der Schüler*innen gefolgt von Aktivierung von Planen durch die Lehrperson; vgl. zum Vorgehen Wibowo,
2015,
2019; s. Abschnitt zum methodischen Vorgehen zur konkreten Operationalisierung der Schüler*inneneinheiten, Lehrpersoneneinheiten und der Contingency-Regeln).