Viele Wege führen zum Reizdarm-Syndrom

In 90% aller Fälle haben rezidivierende abdominelle Beschwerden bei Kindern nicht-organische Ursachen. Häufig handelt es sich um ein Reizdarm-Syndrom. Dr. Martin Claßen vom Klinikum Links der Weser in Bremen erläuterte das Zusammenspiel der einzelnen Faktoren, die zu einer Prädisposition führen, und erklärte, warum es wichtig ist, die Betreuung der Patienten nicht nur den Psychologen zu überlassen. Dossier "DGKJ-Kongress 2014" Funktionelle Bauchmerzen können anhand der ROM-III-Kriterien eingeteilt werden in Reizdarm-Syndrom (45,1%), abdominelle Migräne (23,1%), funktionelle Dyspepsie (15,2%), funktionelle Bauchschmerzen (11,4%) sowie Syndrom der funktionellen Bauchschmerzen (6,0%). Beim irritablen Kolon handelt es sich laut der ROM-III-Konferenz um abdominelle Missempfindungen oder Schmerzen, bei denen mindestens zwei der folgenden Zeichen zutreffen: Beschwerden bessern sich mit Defäkation, Beginn assoziiert mit einer Veränderung der Stuhlfrequenz, Beginn assoziiert mit einer Veränderung der Stuhlkonsistenz. Die Kriterien bestehen mindestens einmal pro Woche über zwei Monate vor Diagnosestellung. Dr. Martin Claßen plädierte auf dem Kinderärzte-Kongress an die Kollegen, den funktionellen Bauchschmerz gegenüber den Eltern und Patienten nicht einfach im Sinne von „Ihr Kind hat nichts“ abzutun. Vielmehr solle die Diagnose nach ROM III klar kommuniziert werden. Die Einordung könne sowohl klärenden Charakter als auch therapeutische Konsequenzen haben. Von genetischer Disposition bis zu familiären Stressoren Im Verlauf der ersten Lebensjahre müssen verschiedene Dinge zusammenkommen, damit ein Reizdarm-Syndrom entsteht: Genetische Disposition, intrauterine Faktoren und frühe Lebensereignisse/Umgebungsfaktoren haben zunächst einen ungünstigen Einfluss auf die neuronale Plastizität, also die Eigenschaft der Nervenzellen und Synapsen, sich auf veränderte Bedingungen einzustellen. In einer Zwillingsstudie von Bengston et al. aus Norwegen konnte beispielsweise belegt werden, dass das Colon irritabile besonders bei Verwandten ersten Grades und auch bei intrauteriner Mangelernährung öfters auftritt. Die Autoren einer weiteren Studie beobachteten außerdem, dass Reizdarm-Patienten in der Neugeborenenphase häufiger abgesaugt worden waren. Über die neuronale Plastizität beeinflussen Faktoren wie eine genetische Disposition das enterische Nervensystem, die Motilität des Darms und die Serotonin-Ausschüttung. Außerdem wird die zentrale Informationsverarbeitung verändert: Bei Patienten mit Reizdarm-Syndrom modulieren psychische Faktoren die Wahrnehmung des Schmerzes. Bei ihnen trifft das Konzept der abdominellen Hypersensitivität zu: Chronischer viszeraler Schmerz führt zu einer Sensitivierung zentraler Schmerzzentren und zu einer veränderten Schmerzverarbeitung. Selbst wenn das System schon wieder runterreguliert ist, führt diese „Bahnung“ dazu, dass die Patienten weiter Schmerzen empfinden. All diese Faktoren ergeben eine Prädisposition. Ob es zu einem irritablen Kolon kommt, hängt dann von weiteren Faktoren ab: Infektionen und Inflammation, familiäre Stressoren, psychische Belastungen und Komorbiditäten sowie der Umgang mit den Schmerzen. In einer Untersuchung von Saps und Kollegen hatten Patienten nach einer bakteriellen Gastroenteritis in 36% der Fälle funktionelle Bauchschmerzen, die Kontrollen ohne Infektion dagegen nur in 11%. Dies wurde durch eine Beobachtung aus Ontario bestätigt, wo im Mai des Jahres 2000 die öffentliche Trinkwasserversorgung mit E. coli kontaminiert war. Bei den Kindern, die daraufhin an einer Gastroenteritis erkrankt waren, entwickelte sich später häufiger ein Reizdarm-Syndrom. Eine Kuhmilchallergie im ersten Lebensjahr prädisponiert ebenfalls zu einem Colon irritable. Unklare psychische Belastungen Welche Rolle spielen familiäre Stressfaktoren und psychische Belastungen? Bei dem Vergleich von Kindern mit Reizdarm und Kindern mit anderen somatischen Erkrankungen zeigten sich keine Unterschiede bezüglich einschneidender Lebensereignisse. Jedoch konnten bei den Reizdarm-Patienten höhere Stresslevel gemessen werden. Es gibt auch Anzeichen für ein gehäuftes Auftreten von Angststörungen und Depression – jedoch ist auch hier die Kausalitätsbeziehung unklar. Amerikanische Pädiater raten jedoch davon ab, bei der Diagnostik von Bauchschmerzen nach stresserzeugenden Lebensereignissen zu fragen, da diese Tatsache keine Unterscheidung zwischen organischen und funktionellen Beschwerden ermöglicht. Vorgehen in der Praxis Die Erkrankung wird oft als ein psychisches Problem eingeordnet und die Patienten direkt zum Psychologen überwiesen. Da die Lebensqualität der Patienten stark eingeschränkt ist – sogar stärker als die von Kindern mit chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen –, sollten sie jedoch bis zur Beschwerdefreiheit auch vom Pädiater mit begleitet werden. Bei dem Symptom Bauchschmerz kann laut Claßen nicht strikt zwischen organischen und psychischen Ursachen getrennt werden. Auch beim Colon irritabile spielen organische Faktoren und die periphere und zentrale Informationsverarbeitung eine Rolle. Die Beschwerden der Kinder sollten daher ernst genommen und das biopsychosoziale Bauchschmerzmodell erklärt werden. Außerdem ist gleich zu Beginn ein Diagnoseplan aufzustellen. Bleibt die Basisdiagnostik negativ, ist auf keinen Fall zu einer Aneinanderreihung von weiterführenden Untersuchungen zu raten. Dies sollte den Eltern vorab klar kommuniziert und die Möglichkeiten der Therapie besprochen werden. Claßen erklärt seinen Patienten von Anfang an: „Mit hoher Wahrscheinlichkeit kann es bei Dir sein, dass keine organischen Ursachen der Bauchschmerzen herauskommen.“ Es zeigte sich, dass die Patienten, die das biopsychosoziale Bauchschmerzmodell akzeptiert hatten, danach weniger Schmerzen verspürten. Kognitiv-verhaltenstherapeutische Therapie wirkt Kognitiv-verhaltenstherapeutische Konzepte sollten bei jedem Kind zum Einsatz kommen. Sie sind langfristig effektiv. Dagegen gibt es keine Evidenz für eine Ernährungsintervention. Bei ausgewogen und altersgerecht ernährten Kindern muss deshalb keine Ernährungsumstellung vorgenommen werden. Als medikamentöse Therapieoption stehen Probiotika bei der postenteritischen Form sowie bei prädominanter Diarrhö zur Verfügung. Für die Therapie der Obstipation kann Macrogol zum Einsatz kommen. Außerdem kann ein Versuch mit verkapseltem Pfefferminzöl gestartet werden.

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