Nervenschäden: Frühe Intervention erforderlich

Neuropathien sind keine Spätkomplikation des Diabetes, sondern können bereits in einem frühen Stadium der Stoffwechselstörung auftreten. Eine frühzeitige Behandlung bremst die Progression der Nervenschäden. Basis des Therapieerfolgs bei Neuropathien sei eine rechtzeitige und differenzierte Diagnose, erläuterte Prof. Dr. Karlheinz Reiners, Oberarzt an der Klinik für Neurologie am Hermann-Josef-Krankenhaus in Erkelenz. Auf die Bedeutung der Früherkennung einer diabetischen Polyneuropathie weist auch ein aktuelles Statement der ADA (American Diabetes Association) mit folgenden Gründen hin [1]: Es können bei Diabetikern auch nichtdiabetische Neuropathien vorliegen, die eine spezifische Behandlung erfordern. 50% der diabetischen Polyneuropathien sind asymptomatisch. Werden sie nicht erkannt, kann sich daraus ein diabetisches Fußsyndrom entwickeln. Die frühe Erkennung und Behandlung der autonomen Neuropathie reduziert die Symptome und Folgen und verbessert die Lebensqualität. Keine Spätfolge des Diabetes Entgegen der über Jahrzehnte vertretenen Meinung, die diabetische Neuropathie sei eine Spätfolge des Diabetes, ist heute klar, dass die Schädigung der peripheren Nerven oftmals bereits in der Phase des Prädiabetes einsetzt und dabei anfangs besonders die dünnen unbemarkten Nervenfasern (small fibers) betrifft. Bereits bei klinischer Manifestation eines Diabetes könnten also Nervenschäden mit axonaler Degeneration vorliegen, betonte Reiners. Schon zu diesem Zeitpunkt sollten Maßnahmen zur Verhinderung einer Neuropathie-Progression ergriffen werden. Der Nachweis der diabetischen Neuropathie ist eine Ausschlussdiagnose. Andere behandelbare Ursachen, etwa eine chronisch inflammatorische demyelinisierende Polyradikuloneuropathie (CIDP) und/oder Paraproteinämie, müssen differenzialdiagnostisch erkannt und therapiert werden. Auch bei diabetogener Genese liegen bei vielen Patienten andere Mitursachen für die Nervenschädigung vor (z. B. Alkoholmissbrauch, neurotoxische Medikamente, Mangel an Vitamin B1 oder B12, Nierenerkrankungen) [2]. Aufgrund einer verstärkten Ausscheidung von Vitamin B1 (Thiamin) über die Nieren liegt häufig ein Vitamin-B1-Defizit vor. Auch die Behandlung mit Metformin kann – abhängig von der Gesamtdosis – via Vitamin-B12-Mangel zu einer Verschlechterung der Polyneuropathie führen [3]. Für die Differenzialdiagnose würden neben der Anamnese auch das klinische Muster sowie geeignete Laborparameter betrachtet, so Reiners. Für die autonomen Manifestationen gibt es erprobte Funktionstests. In Zweifelsfällen können die Elektrodiagnostik oder das Nerven-Imaging herangezogen werden. Eine Nervenbiopsie (z. B. konfokale Cornea-Mikroskopie) ist nur in Ausnahmefällen indiziert, etwa zur Abgrenzung einer diabetischen Genese gegen vaskulitische Neuropathie-Ursachen. Jeder Dritte ist betroffen Etwa jeder dritte Diabetiker entwickle eine sensomotorische Polyneuropathie, erläuterte Prof. Dr. Dan Ziegler, Stellvertretender Direktor des Instituts für Klinische Diabetologie am Deutschen Diabetes-Zentrum, Düsseldorf. Die Betroffenen leiden zum einen unter teils quälenden neuropathischen Schmerzen oder Missempfindungen wie Kribbeln oder Brennen in den Füßen, zum anderen unter schmerzlosen Fußulzera, die Amputationen nach sich ziehen können. Zudem steigen die kardiovaskuläre Morbidität und Mortalität an. Schleichende Schädigungen Die schleichende Schädigung der Nervenfasern bei Diabetes bleibe anfangs oft unbemerkt, betonte Ziegler. In der PROTECT-Studie wurden im Rahmen der Nationalen Aufklärungsinitiative „Diabetes! Hören Sie auf Ihre Füße?“ Prävalenz und Risikofaktoren der schmerzhaften und schmerzlosen distalen sensorischen Polyneuropathie (DSPN) sowie die Dunkelziffern einer zuvor nicht bekannten DSPN oder eines unbekannten Prädiabetes bzw. Diabetes ermittelt [4]. Etwa die Hälfte der 1.850 Studienteilnehmer mit und ohne Diabetes, die sich einem Neuropathie-Screening an den Füßen mittels Druck- (10 g-Monofilament), Temperatur- (Tip-Therm) und Messung der Vibrationswahrnehmungsschwellen (Stimmgabel) unterzogen, zeigte eine DSPN, die in fast 70% der Fälle zuvor nicht diagnostiziert worden war (Abb. 1). Selbst bei Schmerzen und Brennen in den Füßen wussten zwei Drittel der Betroffenen nicht, dass eine Neuropathie hinter den Beschwerden steckt. Eine schmerzlose Neuropathie, die mit Taubheitsgefühl oder Parästhesien in den Füßen einhergehen kann, war in 81% der Fälle nicht diagnostiziert. Abb. 1: PROTECT-Studie: Bei einem Großteil der Patienten, bei denen eine DSPN festgestellt wurde, war zuvor keine Neuropathie diagnostiziert worden (modifiziert nach [4]) Springer Medizin Verlag GmbH × Wie Ziegler schlussfolgerte, müssten die Aufklärung über die Neuropathie und die Früherkennung des Diabetes dringend verbessert werden, um das Fortschreiten von Nervenschäden aufzuhalten sowie die Entwicklung von diabetischen Fußulzera und Amputationen zu vermindern. Fast 40% der Teilnehmer, die meinten, keinen Diabetes zu haben, wiesen Langzeitblutzuckerwerte im Prädiabetes- bzw. Diabetesbereich auf (HbA1c 5,7–6,4% bzw. HbA1c ≥6,5%). In der PROTECT-Studie kristallisierten sich wichtige Risikofaktoren heraus: Bei Typ-2-Diabetikern war die schmerzhafte Neuropathie mit einem höheren Body-Mass-Index (BMI) assoziiert, die schmerzlose Form dagegen mit einem niedrigeren BMI. Ebenso zeigte sich ein Zusammenhang zwischen schmerzloser Neuropathie und männlichem Geschlecht, sowohl bei Typ-2-Diabetes als auch bei Nicht-Diabetikern. Bei schmerzhafter Neuropathie besteht nach neueren Erkenntnissen ein Zusammenhang mit dem weiblichen Geschlecht [5]. Nicht nur in der Diagnostik, sondern auch in der Therapie der diabetischen Neuropathie hapere es, betonte Ziegler: In der populationsbasierten KORA-Studie wurde deutlich, dass nur 6% der Personen mit Polyneuropathie hierfür eine Pharmakotherapie erhielten. Bei 62% der Personen mit schmerzhafter Neuropathie (Schmerzstärke auf der Numerischen Rating-Skala ≥4) erfolgte keine analgetische Pharmakotherapie. Und wenn doch, waren nichtsteroidale Antirheumatika mit 20% die mit Abstand am häufigsten eingenommenen Analgetika, obwohl diese bei neuropathischen Schmerzen nicht indiziert sind [6]. Therapieoptionen: Ausgleich von Vitamin-B1-Mangel bedenken Die Behandlung der diabetischen Neuropathie sollte neben der Hyperglykämie weitere nervenschädigende Faktoren wie einen Diabetes-assoziierten Vitamin-B1-Mangel berücksichtigen, erklärte PD Dr. Ovidiu Alin Stirban, Chefarzt des Fachzentrums für Innere Medizin, Endokrinologie und Diabetologie der Schön-Klinik Nürnberg/Fürth. Die Hyperglykämie löst zellschädigende Prozesse wie oxidativen Stress und die Bildung aggressiver Advanced Glycation Endproducts (AGE) aus. Im Zustand der Hyperglykämie kommt es außerdem oftmals zur verstärkten Ausscheidung von Vitamin B1 über die Nieren, wodurch sich ein gravierender Thiaminmangel entwickeln kann [7]. Dieser fördert Nervenschäden, Störungen im Glukosemetabolismus und die Bildung von Abbauprodukten wie AGE. Der Vitaminmangel verstärkt auch die Auswirkungen von oxidativem Stress und fördert entzündliche Reaktionen. Im peripheren Nervensystem begünstigt Vitamin-B1-Mangel die Entwicklung einer Polyneuropathie mit Empfindungsstörungen an den Füßen. Benfotiamin gleicht Vitamin-B1-Mangel aus Die Vitamin-B1-Vorstufe Benfotiamin kompensiert den Thiaminmangel und seine Folgen, wie Stirban ausführte. Benfotiamin hat eine etwa 5-mal so hohe Bioverfügbarkeit wie herkömmliches Thiamin und kann den Mangel bei Diabetikern effektiv ausgleichen [8]. Die nerven- und gefäßschädigenden Auswirkungen des Diabetes-assoziierten Thiaminmangels können dadurch reduziert und Neuropathie-Symptome wie Kribbeln, Brennen und Taubheit in den Füßen gelindert werden. Stirban stellte eine Reihe von Studien vor: Eine Kombination aus Benfotiamin, Vitamin B6 und Vitamin B12 verbesserte nach zwölfwöchiger Therapie die Nervenleitgeschwindigkeit am Nervus peroneus [9]. Benfotiamin (300 mg oder 600 mg pro Tag) über sechs Wochen reduzierte im Vergleich zu Placebo die neuropathischen Schmerzen [10]. Eine dreiwöchige Therapie mit dem Provitamin (400 mg/Tag) linderte den neuropathischen Schmerz und verbesserte den Neuropathie-Score [11]. In einer aktuellen Studie konnten mit 600 mg Benfotiamin pro Tag über drei Monate gefolgt von 300 mg/Tag für bis zu neun Monate ebenfalls die Symptome reduziert werden [12]. Multikausales Vorgehen Auch antioxidativ wirkende Alpha-Liponsäure könne die neuropathischen Symptome und Defizite verbessern, so Stirban. In der symptomatischen Therapie haben sich lokale Behandlungen mit Capsaicin oder die Elektrostimulation mittels Hochtontherapie bewährt. Symptomatisch wirksam sei auch die Behandlung mit Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmern, Antikonvulsiva oder Opioiden, so Stirban. Gleichzeitig sei dies aber auch die nebenwirkungsreichste Therapiesäule, für die nur sehr begrenzte Langzeitdaten vorliegen. Stirban befürwortet deshalb, das therapeutische Potenzial pathogenetisch und kausal wirksamer, gut verträglicher Maßnahmen auszuschöpfen. Dazu zählt auch der Ausgleich eines Vitamin-B1-Mangels durch Benfotiamin. Der Wirkstoff ist als geprüftes Arzneimittel (z. B. milgamma® protekt) rezeptfrei in Apotheken erhältlich. Literatur Pop-Busui R et al., Diab Care 2017, 40: 136-154 Gorson KC, Ropper AH, J Neurol Neurosurg Psychiatry 2006, 77: 354-358 Wile DJ, Toth, C, Diab Care 2010, 33: 156-161 Ziegler D et al., Diabetes Res Clin Pract 2018, 139: 147-154 Raputova J et al., Pain 2017, 158: 2340-2353 Meisinger C et al., Pharmacoepidemiol Drug Saf 2018, im Druck Thornalley PJ et al., Diabetologia 2007, 50: 2164-2170 Schreeb KH et al., Eur J Clin Pharmacol 1997, 52: 319-320 Stracke H et al., Exp Clin Endocrinol Diabetes 1996, 104, 4, 311-316 Stracke H et al., Exp Clin Endocrinol Diabetes 2008, 116: 600-605 Haupt E et al., Int J Clin Pharmacol Ther 2005, 43: 71-77 Stirban OA, Neurodiab 2016, Oral Session O30 Impressum Symposium: „Diabetische Neuropathie: Früher erkennen – besser behandeln“ anlässlich des Diabetes-Kongresses 2018, Berlin, 9. Mai 2018 Berichterstattung: Dagmar Jäger-Becker, Rodgau Artikel gedruckt in MMW – Fortschritte der Medizin Band 160, Heft 13, Juli 2018 CME Band 15, Heft 11, November 2018 Mit freundlicher der Unterstützung der Wörwag Pharma GmbH & Co. KG, Böblingen Corporate Publishing (verantwortl. i. S. v. § 55 Abs. 2 RStV): Ulrike Hafner, Tiergartenstraße 17, 69121 Heidelberg Redaktion: Dr. Romy Greiner Springer Medizin Verlag GmbH Heidelberger Platz 3 14197 Berlin Tel: 0800 7780 777 (kostenfrei) | +49 (0) 30 827 875 566 Fax: +49 (0) 30 827 875 570 E-Mail: kundenservice@springermedizin.de Die Springer Medizin Verlag GmbH ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Nature Geschäftsführer: Joachim Krieger, Fabian Kaufmann Handelsregister Amtsgericht Berlin-Charlottenburg HRB 167094 B Umsatzsteueridentifikationsnummer: DE 230026696 © Springer Medizin Verlag GmbH Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. PDF: Nervenschäden bei Diabetes: Frühe Intervention erforderlich

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