Drohung mit Zwangsmaßnahmen rettet Leben psychisch Kranker

Wenn psychisch Kranke in der ambulanten Versorgung nicht kooperieren, drohen ihnen in einigen Ländern Zwangseinweisung und Zwangsbehandlung. Mit diesem Konzept lässt sich die Sterberate der Patienten um knapp 40% senken. Während es in Deutschland zunehmend schwieriger wird, psychisch Kranke gegen ihren augenblicklichen Willen zu behandeln, setzt man in vielen angelsächsischen Ländern mit Erfolg auf eine andere Strategie: Patienten werden unter der Auflage aus psychiatrischen Einrichtungen entlassen, dass sie mit niedergelassenen Ärzte kooperieren, also ihre Medikamenten einnehmen, sich an den Therapieplan halten und sich regelmäßig bei einem Psychiater vorstellen. Klappt dies nicht, können sie erneut zwangseingewiesen und zwangsbehandelt werden. Grundlage dafür sind sogenannte „community treatment orders“, also verbindliche Therapievereinbarungen, die meist von der Klinik erlassen werden. Ein Team von Psychiatern um Dr. Steve Kisely aus Halifax in Kanada sowie Ärzte aus Perth in Australien haben nun evaluiert, welche Auswirkungen diese Reglung auf die Gesamtsterberate von psychisch Kranken hat. Hintergrund ist die Beobachtung, dass Patienten mit schweren psychischen Erkrankungen wie Schizophrenie 15 bis 20 Jahre früher sterben als Gesunde, was aber nur zum geringen Teil an der erhöhten Suizidrate liegt, sondern vielmehr an der generell schlechteren medizinischen Versorgung solcher Patienten. Größtes Problem: Krebs und Herzinfarkt Für seine Studie hat das Team von Kisely Daten von knapp 6000 ambulant versorgten psychisch Kranken aus Westaustralien ausgewertet. Für die Hälfte lag eine community treatment order vor, für die übrigen nicht, diese Patienten dienten als Kontrollgruppe. Alter, die Häufigkeit der einzelnen Diagnosen sowie der sozioökonomische Status waren in beiden Gruppen vergleichbar. Fast drei Viertel der Patienten hatten eine Schizophrenie oder eine andere nicht-affektive psychische Krankheit. Nach insgesamt elf Jahren waren 492 der Teilnehmer (8,3%) gestorben. Mit 6,5% lag die Sterberate in der Gruppe mit verbindlicher Therapievereinbarung deutlich niedriger als in der Gruppe ohne die Regelung (9,6%). Besonderes Augenmerk legten die Forscher auf die ersten zwei Jahre nach Erlass einer community treatment order, da eine solche Regelung selten über längere Zeiträume aufrechterhalten wird. In dieser Zeit starben insgesamt 163 Personen, in der Gruppe mit verbindlicher Therapievereinbarung war die Sterberate um 38% niedriger als in der Kontrollgruppe. Suizide machten etwa ein Viertel der Todesfälle aus, ein weiteres Viertel resultierte aus Unfällen, der Rest ging auf das Konto von kardiovaskulären Erkrankungen und Tumoren. Wurde nun die Zahl der Kontakte mit Ärzten und medizinischen Einrichtungen berücksichtigt, so ergaben sich in beiden Gruppen keine signifikanten Unterschiede mehr bei der Sterberate. Die Studienautoren schließen daraus, dass der Druck, sich regelmäßig in ärztliche Behandlung zu begeben, dazu führt, dass nicht nur psychische, sondern auch körperliche Probleme rechtzeitig erkannt und angegangen werden. Da es vor allem körperliche Probleme sind, die bei psychisch Kranken das Leben verkürzen, raten Kisely und Mitarbeiter Psychiatern, auch das physische Wohlbefinden ihrer Patienten im Blick zu haben. Zwangsbehandlung erst im Koma Die Daten der Studie könnten auch für die derzeitige Diskussion zur Zwangsbehandlung in Deutschland interessant sein. Hierzulande ist es nach einem Urteil des Bundesgerichtshofes vom Juli dieses Jahres nur noch schwer möglich, Patienten gegen ihren augenblicklichen Willen zu behandeln — auch nicht, wenn dieser Wille durch die psychische Krankheit stark beeinträchtigt ist und zunächst eine Therapie nötig wäre, um die Einwilligungsfähigkeit des Patienten wieder herzustellen. Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) fordert daher den Gesetzgeber auf, die Regelungen zur Zwangsbehandlung zu überarbeiten. Ärzte befänden sich nun in dem Dilemma, entweder gegen die aktuellen Regelungen zu verstoßen oder aber wegen unterlassener Hilfeleistung verklagt zu werden. Verweigert etwa eine magersüchtige Patientin die Nahrungsaufnahme, darf sie nach dem BGH-Urteil vom Juli erst zwangsernährt werden, wenn sie ins Koma fällt — und jede Hilfe mitunter zu spät kommt.

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